Catalin Dorian Florescu: "Der blinde Masseur"
Die Heimreise eines
Heimatlosen
Als der Schweizer Exil-Rumäne Teodor Moldovan sich
spontan entschließt, nach zwanzig Jahren in seine alte Heimat zu fahren, ist ihm
nicht recht bewusst, was er mit dieser Reise wirklich beabsichtigt. In ihm
rumort die Frage, ob er in Rumänien glücklicher geworden wäre. Vor allem aber
will er seine ehemalige Freundin Valeria wieder sehen, die er ohne Abschied
verlassen musste, weil sein Vater ihm verboten hatte, sie in die geplante Flucht
aus dem totalitären Rumänien einzuweihen. Mehr und mehr entpuppt sich die Reise
aber auch ein Vorwand, dem Ausgebranntsein durch den Alltag als erfolgreicher
Geschäftsmann zu entkommen.
Das mittlerweile demokratisch gewordene Vaterland
präsentiert sich Teodor vertraut und doch seltsam fremd: Die Mischung aus
bitterer Armut und protzigem Reichtum ist geblieben, allenfalls extremer
geworden, aber die Öffnung hin zum Westen hat Wünsche und Sehnsüchte erzeugt,
auf deren Erfüllung die Menschen mit oft bizarr anmutenden Mitteln
hinarbeiten.
In einem kleinen, heruntergekommenen Kurort bleibt Teodor mit beschädigtem Auto
hängen, schier am Ende der Welt. Hier lernt er einen blinden Masseur kennen,
Ion, der dreißigtausend Bücher besitzt, vor allem Klassiker und philosophische
Werke, und sie sich von seinen Kunden als Bezahlung für seine vorzügliche Arbeit
auf Tonbänder sprechen lässt. Der Fabrikbesitzer liest - nicht ohne Widerstreben
-
Marx, der Minenarbeiter
Zola.
Denn der Masseur weist die Bücher den Lesenden berechnend zu: Er glaubt an die
Macht der Literatur und daran, dass man zu handeln lernen müsse, um die Welt
zu bewegen.
Teodor und
Ion werden Freunde und machen sich gegenseitig ihre jeweilige Welt vertraut. Die
Freundschaft tröstet Teodor über den endgültigen Verlust Valerias hinweg. Am
Ende einer turbulenten Entwicklung steht der Verrat durch den Freund - und die
Frage, ob es sich dabei nicht vielleicht in Wirklichkeit um einen
bemerkenswerten Freundschaftsdienst gehandelt hat.
Catalin Dorian
Florescu stellt in diesem Roman zwei Welten einander gegenüber: das Leben in der
Schweiz mit all seinen Chancen, dem Überdruss und der Sinnentleerung, die
zumindest in Teodors Fall damit einhergehen, sowie die Jagd nach zumeist nicht
oder nur unter Opfern erfüllbaren Träumen oder aber die müde Resignation der
Menschen in Rumänien. Teodor ist in beiden Welten ein Fremder, ein sympathischer
Exot, naiv und ausgenutzt. Während er, mit großartigen Möglichkeiten gesegnet,
sich letztlich im Kreis bewegt hat, gelingt dem blinden Masseur der Ausbruch,
die Erfüllung der eigenen Forderung zum Handeln. Ion bleibt seiner Gesinnung
treu, auch wenn sie ihn dazu nötigt, den Freund zu betrügen.
Der Autor
erweist sich als Meister der Erzählkunst, er skizziert mit scheinbarer
Leichtigkeit und schlicht-eleganter Sprache eindrucksvolle Charaktere und Orte,
deren Haupteigenschaft wohl die in diesem Roman immer spürbare Melancholie ist,
die selbst den gelegentlichen, vom Lokalkolorit geprägten kecken Possen
innewohnt.
Spannend, nachdrücklich und mit viel hintergründigem Humor
präsentiert Florescu ein Land zwischen Aufbruch und Rückschritt und Menschen,
die für ihre verzweifelten Träume von einem in materieller Hinsicht sorgenfreien
Leben sich selbst verkaufen, wenn sie nicht einen Rückhalt haben wie der blinde
Masseur in seinen Büchern. Florescu regt den Leser somit auch zur
Auseinandersetzung mit den Klassikern der Literatur an - und mit dem Sinn des
Lebens selbst, das zuweilen sonderbare Wege geht.
(Regina Károlyi; 02/2006)
Catalin
Dorian Florescu: "Der blinde Masseur"
Pendo, 2006. 272
Seiten.
ISBN 3866120796.
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