Paul Flora: "Welke Pracht"

Venezianische Spiegelungen anhand der Zeichnungen von Paul Flora


Nach Venedig fahren ist einfach, das Ankommen und Wegfahren aber fast unmöglich. Der schönste Weg nach Venedig führt über das Meer, wenn nach der glatten Wasserfläche der Lagune das nebelhafte Traumgespinst der Piazzetta im Regen auftaucht. Meist kommen die Reisenden über den Damm nach Santa Lucia. Ich sehe noch eine Amerikanerin vor mir, die mit weit geöffneten Augen und langsamen Schritten - als trete sie in ein Heiligtum - aus der Bahnhofshalle tritt. Üppige Schönheit und schwelgerischer Niedergang empfängt sie. Eine Touristin, einen Krimi von Donna Leon unter den Arm geklemmt, macht sich auf die Suche nach Inspektor Brunetti. Das Verwirrspiel der Gässchen und der schwankenden Spiegelungen prunkvoller Fassaden beginnt.

Ein Mann streckt das Gesicht in den Wind, seine Finger umschließen die kühle Reling, Regentropfen trommeln auf seinen Handrücken. Er will sich damit vergewissern, dass er nicht träumt. Das Glucksen, Blubbern und Schmatzen des Wassers ist zu hören. Wellen schwappen über den Gehsteig. Feuchtigkeitszungen lecken sich die Mauern hoch. Simse, Pfeiler, Balustraden, zierliche Marmorbalkone und arabische Fensterumrahmungen spiegeln sich in schaukelndem Wasser. Löwen beginnen zu fliegen. Schiffe tauchen auf aus dem Nichts. Sie gleiten traumhaft durch die horizontalen Räume dieser Stadt, die bodenlos zwischen Himmel und Wasser und zwischen den Zeiten schwebt. Die Spiegelungen zerrinnen zwischen den Fingern. Die Wirklichkeit wird von der Welt des Scheins verschlungen.

Genau an diesem Punkt wirft Paul Flora die feinen Netze seiner Federzeichnungen aus. Statt Halbtönen gibt es Striche in wechselnder Dichte. Mit langgezogenen Linien, schnurgerade und ohne Zittern hingesetzt, fängt er venezianische Geschichten der letzten Jahrhunderte ein. Die Aussagekraft der Zeichnungen ist stärker als die von Fotos. Sie täuschen keine scharfe Realität vor. Eine Realität, die Venedig, schwebend zwischen Sein und Schein, nicht besitzt. Doch von Venedig wird Paul Flora zu ganz zarten Kolorierungen in Grün, Gelb, Rot und Blau verführt. Treffsicher wie die Linien der Zeichnungen ist auch der Titel des Bandes: "Welke Pracht". Denn Venedig lässt sich am besten in Gegensätzen denken.

Jeder findet in dieser Stadt was er will. Thomas Mann fand seinen Tod in Venedig, der ihm das Weiterschreiben ermöglichte. Über die Gondeln, mit den sechszackigen Bugeisen, hat er ein verbales Leichentuch gebreitet: "Das seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge sind, - es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in plätschernder Nacht". Lord Byron blieb drei Jahre in der Lagunenstadt. Er hatte seine Pferde auf den Lido bringen lassen. Nachmittags ritt er über menschenleere Sandstrände, abends richtete er gewaltige Verheerungen in der venezianischen Damenwelt an.

Die Kurtisanen, schwer geschmückt und fein gekleidet, waren leicht mit den adeligen Damen zu verwechseln. Von den Theaterlogen spuckte die feine Gesellschaft zum Zeitvertreib auf die Glatzen der im Parterre Stehenden.
Flora fängt mit seinen Zeichnungen das Bizarre ein, die venezianische Tristezza unter bröckelnden Marmorbögen, diese einzigartige Maskerade. Das Ergebnis sind hintergründige Bildergeschichten voller Schwermut und Witz. Dabei ist Venedig mit seiner dicken Schminke schwer zugänglich. Einem Nobelpreisträger wie Joseph Brodsky, gelang es in siebzehn Jahren ein einziges Mal hinter die brüchigen Masken alter Palazzi zu schauen.

Am Beginn der venezianischen Geschichte waren die morastigen Inseln ein Ort der Zuflucht. Am äußersten Rand des byzantinischen Reiches liegend, wurde die raffgierige Schöne im Gewürzhandel mit Pfeffer, Safran und Kümmel unermesslich reich. Europa kannte zu dieser Zeit weder Tee, Kaffee, noch Schokolade oder Tabak. Mit dem Seeweg nach Indien und der Entdeckung Amerikas sollte sich für Venedig alles ändern. Seit diesen Tagen wird vom verblassenden Glanz Venedigs gesprochen.

(Hans Zank)


Paul Flora: "Die welke Pracht. Venezianische Bilder und Geschichten."
Diogenes, 1999. 72 Seiten.
ISBN 3-2570-2071-6. ca. EUR 34,90.
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Im mittelalterlichen Venedig tätigten die Kaufleute ihre Geschäfte auf Bänken am Stadtplatz. Wurde ein Kaufmann zahlungsunfähig, dann suchten ergrimmte Schuldner Gerechtigkeit, indem sie seine Bank zerbrachen und ihn so um sein Geschäft brachten. Daher kommt das Wort bankrott - vom Italienischen "banca rotta", "gebrochene Bank". ... zurück ...