Susanne Fischer: "Die Platzanweiserin"


Lebensbetrachtungen einer Zoobesucherin

Christina, Rechtsanwaltstochter, Mitte dreißig, lässt sich treiben. Ihre Mutter ist enttäuscht von ihr, weil "sie ihr Studium geschmissen hat, um danach auch nichts Vernünftiges anzufangen. Neuerdings schickt sie mir Anzeigen von Instituten, die Fortbildungskurse zum Webdesigner anbieten." Ihr Freund Frank versucht das Gleiche; allerdings aus anderen Gründen: "Er hatte Angst, dass seine Kollegen aus der Computerfirma mich im Kino beim Kartenabreißen erwischen könnten, denn er mochte meine Arbeit nicht". Denn der einzige Job, in dem Christina sich wohl fühlt, ist der einer Platzanweiserin im Kino. "Ich führte [die Besucher] mit der Taschenlampe zum richtigen Sessel, weil ich den schmalen Strahl so liebte, mit dem ich erst einen Pfad auf dem wild gemusterten Teppichboden malte, ehe ich ihn auf die gewünschte Sitzreihe wandern ließ." Doch es ist weniger die Arbeit, die ihr gefällt, sondern dass sie von niemandem gegängelt, manipuliert oder bevormundet wird.

Am sichersten fühlt sie sich in der Rolle der stummen Beobachterin. Diese Leidenschaft setzt sie in langen, ziellosen Spaziergängen um und wird dabei von dem fünfjährigen Max, dem Sohn der Nachbarin, begleitet. Doch nicht an Menschen ist sie interessiert, sondern an Häusern. "Gab es irgendwo ein Haus zu besichtigen, ging ich mit Max hinein ... Wenn sie nicht völlig zu Tode gewohnt waren, pulsierten sie. Sie lebten für sich ..."

Das pulsierende Haus
Häuser und Max sind die einzige Gesellschaft, in der sich Christina wohl fühlt. So stellt sich Christina zu Beginn des Romans "Die Platzanweiserin" vor. Sie lebt ihr Leben, ist jedoch für Andere bei Bedarf verfügbar. Widerstand im herkömmlichen Sinne leistet sie nicht. Nur einmal, als Frank unbedingt nach Griechenland auf Urlaub fahren will, begehrt sie auf, denn mit Griechenland verknüpft sie einige ihrer schlimmsten Jugenderinnerungen. Es ist eher der aus den Zeiten der Studentenproteste bekannte passive Widerstand. Und wenn es dieser nicht ist, findet sie jemanden, der die Zügel in die Hand nimmt und ihr hilft, wobei unklar bleibt, ob sie mit den jeweiligen Entscheidungen einverstanden ist. Beispielsweise geht sie weder auf die Forderungen ihrer Mutter noch ihres Freundes Frank ein, sich einen neuen Job zu suchen. Andererseits lässt sie sich von Frank finanziell unterstützen. Oder sie lässt ihren Freund Frank ungebeten von Thomas, dem Bruder ihrer Jugendfreundin Rita, aus ihrer Wohnung werfen, setzt sich zu Thomas ins Auto und verfällt gleich wieder in ihre alte Gewohnheit, sich bewegen zu lassen: "Ich stutzte, weil ich merkte, dass ich schon alles an ihn abgegeben hatte, auch den Weg, und minütlich tiefer in das weiche Polster einsank."

In Susanne Fischers Roman "Die Platzanweiserin" werden die Hausbewohner von Christina angestarrt, so, wie andere Menschen exotische Tiere im Zoo anstarren. So wirkt ein Wohnzimmer, das mit einem bis zum Boden reichenden Panoramafenster versehen ist, "wie ein möbliertes Aquarium", im Zimmer stehen "Tischinseln", und "braune Blumenkästen ... wirken wie Miniatursärge". Alles in allem sind "all diese Behausungen nur als Behältnisse für heißlaufende Fernseher in die Welt gekommen ... strotzen vor Brässigkeit und Dickwandigkeit, jedes Einfamilienhaus eine Schutz- und Trutzburg." Doch für diese Einstellung anderen Menschen gegenüber ist Distanz und Anonymität erforderlich. Diese Fassade bricht wie ein abbruchreifes Haus im ersten Sturm zusammen, als Thomas nachts in ein Löwengehege einsteigt und ihr von dort aus durch die trennende Glasscheibe zuwinkt. Nun hätte sie die einmalige Gelegenheit, einen Menschen dort zu beobachten, wo diese ihrer Meinung nach ohnehin zu Recht leben: Hinter Glas. Gleichzeitig bedeutet diese Szene einen Richtungswechsel im Roman, in Christinas Verhalten und der wechselseitigen Beziehung zwischen ihr und Thomas.

Bildlich, aber nicht überladen
Metaphern verwendet Susanne Fischer gezielt in ihrem Roman, ohne jedoch die Übersicht und die Pointiertheit im literarischen Überschwang zu verlieren. Wohltuend auch das Fehlen jeglicher Preziosen künstlerisch artifizieller Phrasen und Wortblasen, wie Sie gerade eine gelesen haben, und die so häufig die genussvolle Lektüre zeitgenössischer deutscher Literatur zu einer Zumutung machen. Obwohl auch auf politische Strömungen in der BRD zur Zeit der RAF Bezug genommen wird, dient dies allein der Illustration der Charakterentwicklung bzw. Begründung für den Trotz, den manche Handlungen charakterisieren und liest sich dankenswerterweise nicht wie die Aufarbeitung autobiografischer Traumata. Griffiger Schreibstil, präzise Formulierungen, gelungene Charaktere und literarisch hochwertige, doch herrlich verständliche Sprache runden diesen "Frauenroman der anderen Art" ab und machen ihn zu einem äußerst angenehmen Kontrapunkt zur gängigen Zielgruppenbelletristik.

Fazit: Literarisch anspruchsvoll, doch nicht überbordend, präsentiert uns Susanne Fischer für die heutige Zeit einen herrlich untypischen Frauenroman mit einer Frauenfigur mit hohem Wiedererkennungswert nicht nur für weibliche Leser. Schon fast klassisch der Entwicklungsprozess von Stagnation zu dynamischem Handeln der Protagonistin. Wählerische Liebhaber geschmackvoll gestalteter Romanfiguren vor realistischem Hintergrund werden hier glänzend unterhalten.

(Wolfgang Haan; 03/2006)


Susanne Fischer: "Die Platzanweiserin"
Eichborn, 2006. 192 Seiten.

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Leseprobe:

"Es war ein Schlag, wissen Sie, er ist beim Frühstück vom Küchenstuhl gefallen." Kummer und Erregung tanzten in den Waagschalen, mal leicht, mal schwer, sie wußte selbst nicht, welcher Empfindung sie zum Sieg verhelfen würde. Max war in den Keller verschwunden, ohne daß sie es bemerkt hatte. In der Küche, in der wir standen, trug der Vorhang dasselbe Muster wie die Tapete, und es hätte mich nicht gewundert, wenn auch die alte Frau ein Kleid aus jenem Stoff besessen hatte, doch jetzt war sie schwarz überlackiert von den Schultern bis zum Knie, in ein Witwenfutteral gesteckt, traurig schon, aber eben auch nagelneu, ungewohnt, glänzend und knarzig. Der Abfluß roch, ein Haus mit Mundgeruch, die Witwe war unschlüssig, ob sie es bemerken sollte oder ihr Haus liebevoll vorstellen wie einen alten Pullover, den andere immer so vergammelt finden, während man selbst weiß, wie einzigartig er paßt. Aber die Witwe schrumpfte schon, das Reihenhaus schlotterte um ihren Bauch, es warf Falten und hatte Halsentzündung. Nicht mehr lange, und es würde sie ausgespien haben.

Max und ich gingen schon seit einem Jahr in Häuser in der ganzen Stadt. Häuser, die verkauft werden sollten. Wer etwas losschlagen will, läßt jeden herein, auch eine durchschnittliche Frau mit einem fünfjährigen Kind. Es hätte ja sein können, daß der Herr Gemahl, wie sich die Makler meistens ausdrückten, teurer gekleidet war, das konnte man den Frauen schon lange nicht mehr ansehen. Dabei war ich gar nicht verheiratet, und das Kind gehörte auch nicht mir, sondern meiner Nachbarin.

Häuser mag ich wirklich sehr gern, und als ich selbst noch bei einem Makler gearbeitet hatte, mußte ich mir manchmal Häuser ansehen, wenn er es für richtig hielt, mit einer Assistentin aufzutreten, um einen professionellen Eindruck zu hinterlassen, wie er es nannte. Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas hinterließ. Doch so sah ich große und teure Häuser, Häuser von alten Menschen, die gerade gestorben oder ins Altersheim gejagt worden waren. Traurige Häuser, das sage ich jetzt nicht nur so, weil es paßt, sondern weil es stimmt. Man könnte sich die Häuser schließlich auch glücklich denken; endlich werden sie den säuerlichen Geruch der Alten los, ihre faden Gewohnheiten, ihre trockene Haut, die sich an den Mauern reibt und schuppt seit hundert Jahren. Jedenfalls erleichtert könnte so ein Haus schon mal wirken, aber das ist es nicht. Es ächzt unter fünf Schichten Tapete und Makulatur, unter den vielen Lackhäutchen und den toten Schritten. Es ist nicht erleichtert. Es muß sich erst einmal erholen. Natürlich verkaufen auch junge Leute ihre Häuser, das ist wahr. Das heißt aber noch lange nicht, daß diese Häuser glücklich sind.

"Vor dem Krieg hat man ja noch ganz anders gebaut", die Witwe riß mich aus meinen Gedanken, indem sie mit der Faust gegen die Wände klopfte auf eine alberne Art, die gar nichts bewies. "Hagen" stand an der Tür, ein handgetöpfertes Schild, auf dem sich die weißen Buchstaben wie blasse Erdwürmer kringelten. Als sie mit der Hand gegen die Wand schlug, hörte ich sofort die Flicken aus Gips, all die hineingebohrten und halbherzig wieder verstopften Löcher, die ausgerissenen Putzbrocken von schiefen Bildernägeln und kleinen Nippeskostbarkeiten, die über das Linoleum gepoltert waren. Elektrische Leitungen waren verschmort und ungeschickt ersetzt worden, Leckagen abgedichtet, geplatzte Heizungsrohre nur unvollkommen wieder geflickt und zugespachtelt, ach, man hätte das ganze Haus abreißen sollen, aber, wer weiß, ein Reihenhaus, das letzte in der Reihe, da fallen die anderen, die mit dran hängen, um wie die Dominosteine. Eine ganze Stadt könnte man so vielleicht aufribbeln, wenn man es richtig anfängt und sich gut konzentriert dabei. Wahrscheinlich hatte die Witwe recht, das Haus war vor dem Krieg gebaut worden, aber die Mauern waren innen um und umgefügt, hier ein Durchbruch, dort etwas dicht gemauert, eine praktische Durchreiche hineingestemmt, zwanzig Jahre später aus der Mode, wieder armselig zugeklebt.

Die Tapeten hielten das Haus zusammen, die neueste, letzte Schicht; die Schminke über der schartigen Haut. Wenige Tage zuvor, als ihr Mann, der Helmut, noch lebte, hatte man sicherlich nichts davon bemerkt, erst jetzt traute sich das Haus, aufzugeben und in die Knie zu gehen. Die Witwe aber wollte das Haus verkaufen, sie wollte es so sehr verkaufen, daß sie nicht bemerkte, wie sehr ich dafür nicht in Frage kam. Zu ihren Kindern ins Ruhrgebiet sollte es gehen, ja, für sie sei gesorgt, so sprach sie sich selbst Mut zu. Im Wohnzimmer hatte ihr Mann eigenhändig eine Wand herausgebrochen und durch ein stehendes Fenster ersetzt, das bis zum Boden reichte. Man saß auf der braunen Cordgarnitur wie in einem versehentlich möblierten Aquarium. "Frau Genthe", sagte sie, "Frau Genthe, Sie können sich einfach nicht vorstellen, wie das ist. Plötzlich steht man da wie vor dem Nix, dem großen, grauslichen Garnix. Aber das Haus ist ein gutes Haus, es ist von vor dem Krieg und wird uns noch einmal alle überleben." Bei dem Wort überleben fiel ihr wieder ein, was sie sekundenlang vergessen hatte, und sie mußte kurz, und trocken aufschluchzen, ein jämmerliches Schnappen nach der knappen Aquariumluft.

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