Marcelo Figueras: "Kamtschatka"


Der 1962 in Buenos Aires geborene Figueras arbeitete in Spanien als Journalist für verschiedene Zeitungen. Er hat auch schon mehrere Romane veröffentlicht und Drehbücher geschrieben, unter anderem jenes für "Kamtschatka". Dieser Kinofilm wurde bei der Berlinale 2003 begeistert aufgenommen und als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert.

Es ist die offenbar autobiografisch inspirierte Geschichte des zehnjährigen Harry, der zusammen mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder ("der Zwerg") vor der Militärdiktatur fliehen muss, die nach dem Putsch vom 24. März 1976 die politische Macht in Argentinien übernahm und das Land mit einem eisigen und brutalen Netz der Unterdrückung überzog.

Harrys Vater arbeitete erfolgreich in einer Anwaltskanzlei, machte sich aber durch seine politische Einstellung und die Übernahme zahlloser Mandate zur Verteidigung von politisch Verfolgten so verdächtig, dass er seine Zulassung verliert. Einen Onkel der Familie hat die Junta sogar erschießen lassen. Harrys Mutter arbeitet in einem wissenschaftlichen Labor an der Universität, wo sie sich seit Jahren in der Gewerkschaft engagiert. Sie war es auch, die ihren eher zurückhaltenden Ehemann zu seinem Engagement für die politisch Verfolgten vor Gericht motivierte. Klar, dass auch sie ihre Anstellung verliert und unter Generalverdacht fällt.

Harrys Vater versucht zunächst, sich und seine Familie mit allen möglichen Arbeiten über Wasser zu halten, aber dann wird die Situation so gefährlich, dass sie über Nacht fliehen. Harry kann sich nicht von seinen Freunden verabschieden, kaum Spielzeug mitnehmen und findet zusammen mit seinen Eltern eine neue Unterkunft in einem Freunden gehörenden Landhaus, wo sie alle eine völlig neue Identität annehmen müssen. Die Diktatur ist allmächtig:
"Die Machtergreifung durch die Diktatur veränderte die Spielregeln. Meine Eltern sahen um sich herum nur Schatten. Sie wussten, dass man sie suchte - ihre Mitstreiter wurden auch gesucht -, aber sie wussten nicht, was mit denen passierte, die in die Hände des Repressionsapparates fielen. Sie lösten sich schlichtweg in Luft auf. Ihre Familienangehörigen fragten nach ihnen, aber auf den Revieren, in den Kasernen und bei den Gerichten behauptete man, nichts darüber zu wissen. Es gab keinen gültigen Haftbefehl und auch keine formellen Anklagepunkte. Ihre Namen tauchten auf keiner Gefangenenliste auf. Eine Woche nach der Verhaftung von Papas Sozius wusste niemand, wo er abgeblieben war.
Die Anfangsmonate waren Monate der Verwüstung. Viele Leute glaubten, es genüge, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen, und sie würden in Ruhe gelassen. Sie holten sie aus ihren Wohnungen. Alle öffentlichen Orte waren gefährlich, Bars und Kinos, Restaurants und Theater, denn die Razzien konnten an jedem Ort und zu jeder Uhrzeit erfolgen. Ohne Ausweis auf die Straße zu gehen war gefährlich, denn wenn man sich nicht ausweisen konnte, war das Grund genug, auf dem Revier zu landen. Aber mit Ausweis auf die Straße zu gehen, war noch gefährlicher, denn dann kam man gar nicht erst auf das Revier; man wurde identifiziert, und puff, man löste sich in Luft auf."


Die Eltern melden die Kinder an einer katholischen Schule an und bereiten sie mit einem Schnellkurs über den Katholizismus darauf vor. Nach kurzer Zeit taucht ein Jugendlicher namens Lucas im Landhaus auf, der Harrys großer Freund wird, aber bei jeder genauen Nachfrage über seine Herkunft antwortet: "Unzulässige Frage." Auch er ist politisch verfolgt und wird von Harrys Eltern beschützt, die im Übrigen immer wieder tagelang im Widerstand unterwegs sind.

Lucas hat großes Verständnis für Harrys Idol, dem er nacheifert - es handelt sich um den Entfesselungskünstler Houdini, und trainiert regelrecht mit ihm. Er teilt auch Harrys Passion für die Beatles und die Fernsehserie "Invasion von der Wega". "Wir redeten über die Beatles, unsere vier Evangelisten; es war Lucas, der mich darauf hinwies, dass es für alle Stimmungslagen ein Lied von Beatles gibt . (Sogar für die ganz Verzweifelten, wie 'Yer Blues')"

Harry hat seit Jahren ein Lieblingsbrettspiel, das er immer mit seinem Vater spielt und das sie mit in das Landhaus gerettet haben. Es heißt TEG, Taktiken und Strategien des Krieges, in dem es darum geht, durch geschicktes Würfeln und andere Spieltaktiken andere Länder zu erobern. Auf diesem Spielfeld gibt es einen abgelegenen Landstrich namens Kamtschatka, der für Harry ein Symbol seiner Flüchtlingsexistenz wird. Einmal, als Vater und Sohn wieder spielen und der Vater nur noch das öde Kamtschatka am Rande der Welt besitzt, gibt er nicht auf. Er befreit sich nach langem Spiel wieder und gewinnt noch. Seinem Sohn gibt er damit ein unvergessliches Beispiel dafür, dass man niemals aufgeben darf, und Kamtschatka wird für Harry der Ort, wo er lebt und überlebt, der Ort des letzten Widerstandes. Mit dieser Kraft kann er auch den Verlust seiner Eltern überwinden, die eines Tages spurlos verschwinden ...

"Kamtschatka" ist ein wunderbares Stück Literatur voller Lebenskraft, ein Roman voll zärtlicher Hoffnung. Ein Buch, das zeigt, zu welcher Kraft die menschliche Fantasie fähig ist und gleichzeitig ein traurig-schönes Zeugnis von Menschen, die aufrecht dem Unrecht widerstehen und damit ihren Kindern ein lebenslang währendes Beispiel geben, das ihnen Kraft zum Leben gibt.

Die autobiografische Prägung des Buches wird bestätigt durch die abschließende Widmung des Autors:
"Ich möchte dieses Buch meiner Familie widmen: meinem Vater und meiner Mutter, meinen Onkeln und Tanten, meinen Großeltern, die meine Geschwister und mich in einem Umfeld voller Liebe aufzogen, die es möglich machte, dass unsere Seelen in den Jahren überlebten, die wir Argentinier in Kamtschatka lebten."

(Winfried Stanzick; 11/2006)


Marcelo Figueras: "Kamtschatka"
Übersetzt von Sabine Giersberg.
Nagel & Kimche, 2006. 318 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Das Lied von Leben und Tod"

Argentinien, 1984. Pat Finnegan versteckt sich mit ihrer kleinen Tochter Miranda in einem Dorf in Patagonien vor einer mysteriösen Gefahr. Durch Zufall treffen die beiden auf Teo, einen Sprengmeister aus Buenos Aires, der sich unsterblich in Pat verliebt. Die beiden werden ein Paar, doch allmählich beginnt Teo an Pats Geschichte zu zweifeln. Ist Mirandas Vater wirklich tot, wie sie behauptet? Wovor genau ist Pat auf der Flucht? Figueras entfaltet mit Herz und grandiosem Erzähltalent ein farbenprächtiges Panorama des Lebens, in dem sich der Leser lustvoll verliert. (Nagel & Kimche)
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Leseprobe:

11. Wir verschwinden

Mama steckte den Kopf in das Klassenzimmer und fragte, ob sie eintreten dürfe. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, das mir sehr gefiel, weil es ihre Wespentaille betonte. Sie hatte wie immer eine brennende Zigarette zwischen den Fingern. Vielleicht war das das einzige Merkmal eines verrückten Wissenschaftlers an Mama, abgesehen von ihrer Neigung, alles mit physikalischen Begriffen erklären zu wollen und selbst ein Fußballspiel als komplexes System von Massen, Widerständen, Vektoren und Energien zu sehen. Mama benutzte die Schachtel ihrer Jockey, um alles Mögliche zu notieren, von Telefonnummern bis hin zu Formeln, und dann vergaß sie, dass sie etwas Wichtiges notiert hatte, und warf die Schachtel weg. Das war Gesetz, so unumstößlich wie das Gesetz der Schwerkraft.

Fräulein Barbeito stoppte den Film und flüsterte mit Mama. Ich nutzte die durch ihr wundersames Erscheinen entstandene Verwirrung, um Bertuccio nicht noch mehr Buchstaben vorzusagen, bis ich mir sicher war (noch ein Fehler, und ich starb am Galgen). Was hatte Mama hier zu suchen? Musste sie um diese Uhrzeit nicht im Labor sein? Hatte sie das Schulgeld bezahlt und war auf dem Weg kurz vorbeigekommen, um hallo zu sagen?

"Pack deine Sachen, du musst jetzt gehen", sagte Fräulein Barbeito zu mir.

Ich setzte ein leicht triumphierendes Gesicht auf und packte alles in die Tasche. Bertuccio wirkte beleidigt. Mama hatte ihn um seinen Sieg gebracht.

Er füllte die Lücken mit den fehlenden Buchstaben aus und fragte mich, was wir am Nachmittag unternehmen würden. "Das Gleiche wie immer", erwiderte ich: "Nach der Englischstunde komme ich zu dir". "Meine Mutter macht Schnitzel", sagte er, um mich endgültig zu überzeugen. Und das gelang ihm natürlich. Wenn ich Großvaters Satz noch vervollständigen dürfte, würde ich sagen: der liebe Gott steckt in den Details und in den Schnitzeln von Bertuccios Mama.

Da gab er mir das Zettelchen mit dem Galgenmann.

Es stand jetzt nicht mehr A_ A _ A _ A _ _ A darauf.

Die Lösung war einfach und elegant. Oder besser gesagt magisch.

Bertuccios Wort lautete: abracadabra. (...)

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