Elena Ferrante: "Die Frau im Dunkeln"
Befremdliche Nähe:
"Die Frau im Dunkeln" bringt eine Lawine des Unbehagens ins Rollen
Elena Ferrantes Romanfiguren scheinen aus der Bewegung des Schmerzes
entsprungen. In ihrem bedrückend-großartigen
Roman erzählt sie eine
Mutter-Tochtergeschichte
um Liebe und Hass, Mitleid und Abscheu zwischen einander gar zu Ähnlichen.
Elena Ferrante, die große geheimnisvolle Schriftstellerin aus
Italien, macht
erneut den Schmerz zum Thema ihres Romans. Bereits in ihren
vorangegangenen Büchern "Tage des Verlassenwerdens" und
"Lästige Liebe" thematisierte sie tief verankerte Emotionen aus einem
allgemeinen Lebensphasenschmerz heraus. Ferrante selbst interpretiert ihre Werke
als Auseinandersetzung mit einem persönlichen emotionalen
"Scherbenhaufen". In "Die Frau im Dunkeln" entwickelt die
Autorin ihre Betrachtungsperspektive weiter, indem sie ihre
vorhergehenden Werke gewissermaßen als Grundlage einsetzt und Erkenntnislinien
zusammen- und weiterführt.
Vorab seien die erneut großartige
Übersetzung aus dem Italienischen von Anja Nattefort
erwähnt sowie das
eindrucksvolle Umschlagbild, dieser verschwommene Blick aufs Meer,
unter einem Sonnenschirm hervor, das den Tenor der Geschichte trefflich wiedergibt.
In einer äußerst raffinierten
zirkularen Erzählstruktur, (der Anfang des Buches ist zugleich
die homogene Fortsetzung des Endes), schildert eine Frau rückblickend ihre
eigenen Erlebnisse, gepaart mit immer dichter werdenden Reminiszenzen ihrer
bedrückenden Vergangenheit.
Zu Beginn scheint alles unauffällig-profan, denn die
47-jährige Anglistikprofessorin Leda - modern, gutaussehend, selbstbewusst -
strahlt Zufriedenheit aus. Ihre beiden erwachsenen Töchter leben bei
ihrem Vater in Kanada. Endlich muss sie nicht mehr die allzeit präsente
Mutter spielen. Sie fühlt sich befreit, "als wäre ein schwieriges Werk wie
durch ein Wunder endlich vollendet und von [ihren] Schultern genommen." Leda
fährt das erste Mal allein auf Urlaub, an die süditalienische
Küste.
Doch was voller Zuversicht beginnt, endet in der Charakterisierung
einer psychisch zutiefst gestörten Persönlichkeit.
Bereits zu Beginn platziert Elena Ferrante eine äußerst subtile Allegorie des
drohenden Unheils. Leda nimmt ihr hübsches Appartement in Beschlag. Das Personal ist
höflich und ausgesprochen charmant, das Zimmer hell und freundlich, und auf dem
Wohnzimmertisch steht eine große Schale voller Obst. Doch bei
näherer Betrachtung offenbart das fruchtige Arrangement, dass "unter
der schönen Oberfläche Feigen, Birnen, Pflaumen, Pfirsiche und Trauben
lagen, die matschig und verschimmelt waren."
Recht schnell wechselt das ereignislose, von schönem Wetter
und idyllischen Strandgängen geprägte "Heile-Welt-Szenario". Eine
laute neapolitanische Großfamilie fordert Ledas manische
Aufmerksamkeit. Erinnerungen werden wach: "Ich war in ein Umfeld hineingeboren worden, das
sich kein Stück von diesem unterschied, auch meine Onkel, meine Cousins,
mein Vater besaßen diese aufdringliche Offenherzigkeit. (...) Meine Mutter
schämte sich für die pöbelhafte Art (...) sie wollte anders sein, spielte in dieser Welt die gut
gekleidete Dame von edler Gesinnung."
Die grazile, anmutige Nina mit ihrer dreijährigen
Tochter Elena ragt wohltuend aus dieser exzessiv präsenten
Sippe heraus. Die beiden scheinen eine enge symbiotische Beziehung eingegangen zu sein,
bilden einen "Familienkokon" innerhalb des pöbelhaften Clans. Leda ist von
der Anmut und Schönheit der jungen Frau fasziniert. Doch das
kleine Mädchen befremdet sie zunehmend. "Aus ihrem Gesicht sprach der
beständige Wunsch, ihrer Mutter nah zu sein: ein ohne Tränen oder Launen
vorgetragenes Flehen, dem die Mutter sich nicht entzog". Persistent
präsent ist auch die Puppe Elenas. Sie wird in sämtliche Spiele und
Aktivitäten integriert.
In einem kurzen Aufflackern erinnert sich Leda an ihre eigene Kindheit.
Auch sie stand einmal in einer ähnlichen, jedoch schmerzvollen Symbiose
zu ihrer eigenen, unzufriedenen, gefühlskalten Mutter.
Durch divergente äußere Einflüsse
entwickelt Leda aus anfänglichen Gefühlen
des Neids eine zunehmende Paranoia. Nina und Elena werden dabei zur
Zielscheibe ihrer fast schizophrenen Aktivitäten.
Elena Ferrante greift in ihrem Roman den in der Psychologie bekannten mehrgenerationalen
Konflikt auf und zeigt, wie insbesondere tradierte negative Verhaltensmuster sich
zwanghaft wiederholen, eigenes Glücksempfinden verhindern und
Beziehungen zerstören. "Die
Hoffnungen aus der Jugend schienen allesamt gestorben, ich hatte den
Eindruck, zu meiner Mutter, zu meiner Großmutter
zurückzufallen, in die Reihe stummer,
grimmiger Frauen, von denen ich abstammte." Die junge
schöne Nina versinnbildlicht die gewünschte, aber nie erlebte Mutter der
Ich-Erzählerin. Deren kleine Tochter Elena ist ihr Alter Ego. Wobei die Puppe des
Mädchens als entscheidendes, den Roman beherrschendes Bindeglied fungiert: "Sie
verkörperte die Liebe zwischen Nina und Elena, das Band ihrer Zuneigung, die
Leidenschaft, die sie füreinander empfanden. Sie war der strahlende Beweis
eines glücklichen Mutterdaseins." Dinge, die Leda nie erfahren hat. Diese
unglückliche Konstellation bringt ihren inneren Konflikt zur Eruption. In einem
unbeobachteten Moment nimmt sie die Puppe an sich. Und
tatsächlich scheint sich ihre Vermutung zu bewahrheiten: Die enge Mutter-Kind-Beziehung von Nina
und Elena scheint gestört, wohingegen Nina mit einem Mal gesteigertes Interesse an
Leda zeigt.
Wie einen bedrohlichen Schatten senkt Ferrante die zunehmenden schmerzhaften Erinnerungen Ledas
über das Szenario und den verworrenen Faden aus Träumen und Begierden.
Leda verstrickt sich in etwas, "was [sie] nicht mehr aufzulösen
vermochte und doch [ihre] ganz persönliche Geschichte war".
Unprätentiös, glasklar die
Sprache, die "Handlung" in jedem Detail luzid, diszipliniert die
Erzählhaltung.
Analyse statt Bebilderung, Seziermesser statt
Tränendrüse. "Die Frau im Dunkeln" verfügt über unglaublich emotionale
Durchschlagskraft, dekuvriert eine genaue Selbstbeobachtung. Jeder Eindruck
trügt: Was zuvor noch friedlich erschien, strahlt im nächsten Augenblick
düstere Beklemmung aus. Doch Elena Ferrante gibt ihrer Protagonistin eine Entwicklungschance,
ermöglicht Leda, ihre "leblose faulende innere Substanz"
auszuspucken.
"Die Dinge, die wir selbst nicht verstehen,
sind am schwierigsten zu erzählen", sinniert Leda zu
Beginn des Romans; am Ende bleibt ihr letzter Satz eindrucksvoll und unkommentiert
im Raum stehen: "Ich bin tot, aber es geht mir gut."
Der Leser legt "Die Frau im Dunkeln" beiseite und fasst lange kein
anderes Buch mehr an.
(Heike Geilen)
Elena Ferrante: "Die Frau im Dunkeln"
(Originaltitel "La figlia oscura")
Aus dem Italienischen von Anja Nattefort.
DVA, 2007. 176 Seiten.
Buch
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Elena Ferrante ist eine äußerst
erfolgreiche und zugleich geheimnisvolle Autorin. Von ihren ersten
beiden Romanen wurden in Italien jeweils mehr als 100 000 Exemplare verkauft,
aber zu Gesicht bekommen hat Elena Ferrante noch niemand. Einmal
heißt es, sie scheue die Öffentlichkeit und habe sich auf eine
griechische Insel
zurückgezogen. Ein Andermal wird spekuliert, der Name sei ein Pseudonym.
Zwei weitere Bücher der Autorin:
"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
zur Rezension ...
"Meine geniale Freundin"
Band 1 der Neapolitanischen Saga (Kindheit und Jugend)
Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und
Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes
Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos
verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das
Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.
Im Neapel der 1950er-Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden,
volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit
Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier
gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila
und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum
wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge
Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem
bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich
ihrer Freundin zugestanden hätte.
Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird
Schriftstellerin, die andere wird
Neapel
nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten
einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch
Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige,
unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer
brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen.
Sie bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus
Befremden und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas,
das größer und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas
Verschwinden? (Suhrkamp)
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