Corinne Maier: "Die Entdeckung der Faulheit"
Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun
"Wenn früh am morgen die
Werksirene dröhnt, und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt, in der Montagehalle die Neonsonne strahlt, und der Gabelstaplerführer mit der Stapelgabel prahlt. Ja dann wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt, ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt." (Aus dem 1983er-NDW-Ohrwurm "Bruttosozialprodukt" der Gruppe "Geier Sturzflug") |
Hintergründig subversive Äußerungen, wie im zitierten einstigen Hitparadenstürmer, finden sich in "Die Entdeckung der Faulheit" nicht. Die Politologin und Volkswirtin Corinne Maier, Jahrgang 1964, nennt unverblümt beim Namen, was in vielen Dienstnehmern gärt. Die Autorin, beim französischen Energiekonzern EDF in leitender Funktion als Teilzeitbeschäftigte tätig, ruft in ihrem Buch mit dem Originaltitel "Bonjour paresse. De l'art et la nécessité d'en faire le moins possible en entreprise", das in Frankreich für einigen Wirbel sorgte, dazu auf, das üble Arbeitssystem mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und sich nicht länger als ohnmächtiger Knecht fremder Kapitalinteressen versklaven zu lassen. |
Überlebensstrategien in einer
Scheinwelt - Schwachsinn im Echtbetrieb
Trickreich dreht die Autorin in
ihrem scharfzüngigen Ratgeber den Schmarotzerspieß um und zeigt Mittel und Wege auf, dem
individuellen Dienstnehmerleid aktiv zu begegnen. Dass Großkonzerne die Genugtuung über und Freude
an derartigen Verhaltensweisen nicht teilen und ihre Felle davonschwimmen sehen,
sobald den Arbeitnehmern die eingetrichterte gehorsame Gleichförmigkeit samt
Produktivität abhanden kommt, versteht sich von selbst.
Corinne Maier, übrigens ausgebildete Psychoanalytikerin, handelte
sich prompt mit ihrer Publikation die
Androhung disziplinarrechtlicher Konsequenzen bei EDF ein. Doch die
Chefetage hatte die Wucht der öffentlichen Sympathiewoge zu Gunsten der
unbequemen Angestellten gehörig unterschätzt, beließ es
letztlich bei Drohgebärden und muss die "Entdeckerin der
Faulheit" weiterhin beschäftigen.
Zu tarnen und zu täuschen sind nicht nur in der Tierwelt erfolgversprechende
Strategien, die das Überleben sichern, und in Form der Fähigkeit, kompetent und
beschäftigt zu wirken, stehen den Werktätigen wirksame Werkzeuge im
beruflichen Alltag zur Verfügung, um
die Kunst des Nichtstuns im
Büro zur Blüte zu bringen.
Nicht zu Selbstausbeutung, sondern zu Selbstdarstellung auf Basis umfassender Arbeitsverweigerung
anzustiften, ist erklärtes
Bestreben dieses knallgelben Büchleins, darin nichts schöngeredet, Motivation am
Arbeitsplatz ins Reich der Illusionen verwiesen, umtriebige Dampfplauderer (z.
B.
aus den Bereichen Management und Marketing) in die Wüste geschickt und den
Märchen von Leistungsorientierung und Mobilität der Nährboden entzogen wird.
Ob nämlich Kapitalanleger höhere Gewinne einstreifen oder
die Wertschöpfung des Unternehmens wächst, soll die Arbeitnehmer nicht weiter kümmern; die Identifikation mit
Unternehmenszielen stellt eine unnötige Fleißaufgabe dar. Kapitalanleger
profitieren (indirekt) von gewinnmaximierendem Stellenabbau, sozialer Demontage,
Verlust von Vielfalt - Arbeitnehmer nicht.
In erster Linie attackiert Corinne Maier die international gepflogene
Unternehmenskultur und Struktur großer Konzerne.
Sind auch die Ratschläge in "Die Entdeckung der Faulheit" nicht von
bahnbrechender Neuartigkeit, so überzeugt der schmale Band durch
provokativen Stil sowie kompakte Aufbereitung berufsalltagstauglicher,
gängiger Praktiken. Das Buch richtet sich vorrangig an mittlere
Angestellte großer Betriebe, oder, wie Corinne Maier schreibt, "Bauern
auf dem Schachbrett".
Die praxisnahen Anregungen zielen darauf ab, im Beruf so wenig wie
möglich zu tun und das System auf diese Weise von Innen heraus auszuhebeln, zu
siegen ohne zu kämpfen. Es geht also
nicht darum, den Lesern vorzugaukeln, das Büro sei ein Ort der
Selbstverwirklichung, sondern es gilt, möglichst energiesparend und
unbeteiligt durch den Arbeitsalltag zu kommen.
Schließlich findet das Leben glücklicherweise (auch) außerhalb der
Erwerbssphäre statt. Maier rät, wohlüberlegt Zuflucht zur Ineffizienz zu
nehmen.
Die Autorin propagiert die "innere Kündigung", der Einstellung von
Melvilles "Bartleby" vergleichbar. Denn jedes
dauerhafte Unternehmen geht sorgsam mit seinen Ressourcen um. Vernünftiges
Haushalten mit eigenen Kräften und
bewusster Umgang mit Lebenszeit sind bekanntlich Werte an sich - dazu bedarf es keiner
Seminare; der gesunde Hausverstand vermittelt diese Einsicht.
Freilich empfiehlt es sich, (zumindest solange man auf Gehaltszahlungen
angewiesen ist), die Fassade geschäftiger Betriebsamkeit aufrecht zu
erhalten, denn in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit setzt man seinen Brotberuf nicht
aus Jux und Tollerei aufs Spiel. Dies deshalb, weil nicht Arbeitslosigkeit an sich das
Problem ist, sondern das Fehlen ausreichender Geldmittel, (keine politische
Gruppierung thematisiert ernsthaft die
finanzielle Grundsicherung
für alle Bürger), sowie mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz.
Wie bereits erwähnt, schreibt Corinne
Maier nichts unerhört Neues; die nüchterne Deutlichkeit, mit der sie
einer gewissen Arbeitnehmerschicht aus der Seele spricht, wirkt dennoch. Einfache Logik
ist erwiesenermaßen die beste Logik, wie z. B. folgende Zeilen belegen: "Zusammenfassend
kann man sagen, dass Sie arbeiten, weil Sie es müssen, niemand arbeitet gerne!
Wenn die Leute es gerne täten, dann würden sie umsonst arbeiten!"; "Irgendjemand
muss schließlich schuften, damit es
Drückeberger geben kann!"; "Es
ist wahr, dass Bewegung der kategorische Imperativ eines Kapitalismus ist,
dessen Ziel darin besteht, das Nutzlose gleichermaßen unverzichtbar zu machen
und zu verfälschen, und zwar so schnell wie möglich."; "Das höchste
Ziel des Unternehmens besteht darin, den Arbeitnehmer dahin zu bringen, dass er
sich ganz alleine Dinge aufhalst, die ihm normalerweise von außen aufgebürdet
werden müssten."
Auch der Verwendung von bedeutungsloser, pseudowissenschaftlicher Sprache für
Unternehmenszwecke widmet Corinne Maier Raum, und zwar im Kapitel
"Kauderwelsch vom Feinsten". Es geht um kollektive, unpersönliche
Ausdrucksweise, Gemeinplätze, Neusprech, aufgesetzte Rituale, Managementjargon
und Phrasendrescherei. Maier: "Eine Fortbildung in 'Französisch als
Muttersprache' wäre für viele Führungskräfte hilfreich, leider steht das
aber nicht auf der Liste der von der Firma vorgesehenen Fortbildungsmaßnahmen.
Lieber bietet sie Neurolinguistisches Programmieren (NLP) und andere
Schundmethoden an, die kein anderes Ziel haben, als dass alles Denken und Reden
sich weiterhin im Kreis bewegt."
Corinne Maier, die übrigens betont, keine Marxistin zu sein, beleuchtet zwar
konkret die Zustände in Frankreich, weil jedoch Staatsgrenzen für Großkonzerne und
deren Unternehmenskultur kaum von Bedeutung sind, besitzen die im Buch
getroffenen Aussagen durchaus grenzüberschreitende Gültigkeit, wenngleich die
Feststellung, dass das Berufsleben in Frankreich höchstens dreißig Jahre
dauert, dazu angetan ist, anderswo Neidgefühle zu kitzeln.
U. a. thematisiert die Autorin folgende Aspekte: Überqualifikation;
Arbeitslosigkeit ("Das Kriterium für die Einstellung von Menschen heute
ist, was sie sind, und nicht, was sie können.");
Unternehmenskultur ("Tatsächlich
ist sie nichts Anderes als die Kristallisation der Dummheit einer Gruppe von
Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt".); Unternehmensberater, Coach
und Controller als Parasiten; moderne Barbarei; New Economy; Globalisierung; geisttötende Meetings ("Kann man aber von Arbeit
sprechen, nur weil eine Gruppenmeinung zelebriert wird und jeder der kollektiven
Rationalität opfert [die oft keine ist]?"); Überflussgesellschaft;
künstliche Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühle; die Vorteile unbestimmt
und schwammig formulierter Aufgabengebiete; usw. usf.
"Die Zehn Gebote für den
mittleren Angestellten", wie sie ein
Unternehmen festlegen würde,
konfrontiert Corinne Maier mit "Meinen zehn Gegenempfehlungen", darunter z. B.:
"Sie werden nicht danach beurteilt, wie Sie Ihre Arbeit erledigen,
sondern nach Ihrer Fähigkeit, sich brav an das propagierte Modell anzupassen
(...)", "Nehmen Sie niemals und unter keinen Umständen einen
verantwortungsvollen Posten an (...)", "Machen Sie sich klar,
dass diese ganze lächerliche, vom Unternehmen genährte und transportierte
Ideologie nicht 'wahrer' ist als der dialektische Marxismus, den das
kommunistische System zum Dogma erhoben hatte (...)".
"Wenn i so überleg, worum's im Leben geht, dann sicher net um des wofür i leb'. I arbeit's ganze Jahr lang schön brav für's Finanzamt, i frag mi ob des ewig so weitergeht." (Aus dem Lied "Reif für die Insel" von Peter Cornelius; 1981) |
156 Seiten flotter, kämpferischer Lesestoff, 156 Seiten "Beipacktext" für den eigenständig denkenden Arbeitnehmer. Also: "adieu tristesse - bonjour paresse" lautet das Motto, und überzeugten Erfüllungsgehilfen von Großkonzernen sei diese Lektüre besonders ans Herz gelegt. |
Denn schließlich ist eine Entdeckung als der subjektive Erkenntnisgewinn eines Einzelnen oder einer Gruppe über etwas bereits Vorhandenes definiert.
(Felix Grabuschnig)
Corinne Maier: "Die Entdeckung der Faulheit"
(Originaltitel "Bonjour paresse")
Aus dem Französischen von Hanna van Laak.
Goldmann, 2006.
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Weitere Buchtipps:
Wolfgang Schneider: "Die Enzyklopädie der Faulheit. Ein Anleitungsbuch"
Sie waren große Faulpelze:
Charlie
Chaplin,
Albert
Einstein, George Gershwin.
In der Schule haben sie versagt, und doch kennt jeder ihre Namen. Vielleicht war
ja gerade ihre Faulheit die Basis ihres Weltruhmes. Bemerkte doch schon
Salomon:
"Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit." Und
Dostojewski
ebenso treffend: "Einsamkeit und Faulheit liebkosen die Fantasie."
Und so ist es nicht verwunderlich, dass Dichter und Denker
seit der Antike zu
einem Lobgesang auf die Faulheit anhoben. Die "Enzyklopädie der Faulheit" umfasst
jedoch nicht nur die zentralen literarischen und philosophischen Texte zum Thema
- Wolfgang Schneider hat zudem eine außergewöhnlich inspirierende Sammlung von
Sprichwörtern, Fakten und Kuriositäten rund um die Faulheit zusammengestellt.
Aus seiner Enzyklopädie erfährt man z.B., dass Einstein im Schnitt zwölf
Stunden schlief und dass
die fleißige Biene
gerade mal zwanzig Prozent ihrer
Lebenszeit mit Arbeit verbringt: Denn wer zu viel Energie verschwendet, der verkürzt
vorzeitig sein Leben. (Eichborn)
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Joachim Bauer: "Arbeit. Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht"
Das rätselhafte Doppelgesicht der Arbeit: Aus ihr schöpfen wir Befriedigung,
Kreativität und ein Leben in Wohlstand. Doch sie kann uns auch krank werden
lassen. In jüngster Zeit wächst die Angst um den Arbeitsplatz. Auch keine Arbeit
zu haben kann krank machen. Wer arbeitet, erlebt Leistungsdruck, schlechte
Führung und Konflikte am Arbeitsplatz. Das fördert den Stress, und Dauerstress
zermürbt. Krankheiten wie Depression und Erschöpfungszustände steigen rapide an.
Endet die "Kultur des neuen Kapitalismus" (Richard Sennett) in der
Müdigkeitsgesellschaft? Wird in einer Welt der knapper werdenden Ressourcen das
ökonomische Prinzip zum alles beherrschenden Dogma? Müssen immer mehr Menschen
"arbeiten, bis der Arzt kommt"? Der Neurobiologe, Mediziner und Erfolgsautor
Joachim Bauer nimmt unsere Art zu arbeiten unter die Lupe. Wie wurde die Arbeit
"erfunden"? Was ist Arbeit aus Sicht des Gehirns? Wie besteht jeder Einzelne die
beispiellose Herausforderung der heutigen Arbeitswelt? Bauer stellt klar, dass
Erschöpfung keine "Mode-Diagnose" ist. Die radikale Erkenntnis: Der Mensch ist
evolutionär nicht für die heutige Arbeit gemacht! Was muss sich ändern? (Karl
Blessing)
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Paul Lafargue: "Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des 'Rechts auf Arbeit' von 1848"
Schon der Titel ist eine einzige Provokation. "Recht auf Müßiggang"
etwa hätte in manchen Ohren noch annehmbar geklungen. Nicht aber "Faulheit",
jenes Synonym für "arbeitsscheu" oder ganz modern "Sozialhilfemissbrauch".
Lafargue symbolisiert damit unmissverständlich, dass er nicht um bessere
Arbeitsbedingungen bitten, sondern ganz grundsätzlich das vorherrschende Ethos
und den Zwangscharakter von Arbeit kritisieren will. Insofern ist diese Schrift
denn auch eine Kampfansage gegen zunehmende Zwangsverpflichtungen von
Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, gegen "Zumutbarkeitsregelungen"
oder Kürzungen im Sozialbereich.
Paul Lafargue, der Schwiegersohn von
Karl Marx und Vorkämpfer des Marxismus in
der französischen Arbeiterbewegung, wurde 1842 in Santiago de Cuba geboren. Er
kam früh nach Frankreich und schloss sich dem radikalen Flügel der
Arbeiterbewegung an. Als Teilnehmer am Kommuneaufstand musste er nach 1871 das
Land verlassen und konnte erst 1882 nach Paris zurückkehren. In zahlreichen
Publikationen suchte er, nicht immer zur vollen Zufriedenheit des
Schwiegervaters, den Marxismus zu propagieren. Marxens hochbegabte Tochter Laura
teilte das bewegte und unstete Schicksal ihres Mannes und schied im November
1911 gemeinsam mit ihm aus dem Leben. (Trotzdem)
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Heinrich Droege (Hrsg.): "Faulheit
adelt. Texte gegen das herrschende Arbeits-Ethos"
Wir haben nicht nur ein Recht auf Faulheit, wir haben die Pflicht zur Faulheit.
Wir haben die Freiheit etwas zu leisten, und die Pflicht, es zu lassen. Indem
wir in dem Industrie-System etwas leisten, schädigen wir Andere: die Kinder,
die Freunde, die Natur ...
Wir haben die Industriegesellschaft zu kultivieren, wir kultivieren sie durch
Faulheit. Das Schlimme an der derzeitigen Situation ist:
Arbeit bestimmt unser Leben. Selbst in der sogenannten Freizeit wird noch
gearbeitet. Die meisten Menschen arbeiten nicht nur für ihren Lebensunterhalt,
sondern sie leben, um produzierend und konsumierend eine verselbstständigte
Wirtschaftsmaschinerie in Gang zu halten - die meisten Menschen vergeuden das
einzige Leben, das sie haben. Gegen diese Pervertierung des Lebens-Sinns
schreiben an:
Heinrich Droege, Manfred Lesch, Jochen Kunzmann, Ludwig Miehe, Ernst Petz,
Alfred Paul Schmidt, Georg Meschek, Achim Wagner, Christine Wittrock u.a.
Wo größtmögliches Wachstum von Produktivität und Wettbewerb als letztes und
einziges Ziel menschlichen Handelns gelten, wird jedem eingeredet, dass man sich
den Kräften der Ökonomie nicht entziehen kann.
Man kann. Und man muss. (Aarachne)
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Axel Braig: "Warum es sich lohnt, faul, unpünktlich und
unordentlich zu sein. Das Buch der Tugendlosigkeit"
Über Tugenden spricht man meist nicht. Sie werden auch nicht hinterfragt. Es
erscheint uns einfach selbstverständlich, dass wir fleißig, vernünftig, gut
organisiert, wahrheitsliebend, pünktlich und nicht zu egoistisch sein sollten.
All diese Tugenden lehrt uns angeblich der gesunde Menschenverstand. Aber ist
der tatsächlich so gesund?
Axel Braig leistet fundierte Aufklärungsarbeit über Risiken und Nebenwirkungen
gängiger Moralvorstellungen. (S. Fischer)
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Alois Prinz: "Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt"
Hannah Arendt (1906-1975) ist eine der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts.
In einer Zeit, als Frauen an der Universität noch eine Ausnahme waren, studierte sie u. A. bei Martin Heidegger und
Edmund Husserl und promovierte 1928 bei Karl Jaspers. Mit dem 17 Jahre älteren Heidegger ging sie eine geheime Liebesbeziehung ein, mit Jaspers blieb sie bis zu dessen Tod freundschaftlich verbunden. Später wurden u. A. Hans Jonas und
Walter Benjamin zu engen Vertrauten.
Von den Nazis ins us-amerikanische Exil getrieben, stellte die deutsche Jüdin grundlegende Fragen zur Philosophie und Politik. Den Zwängen der Zeit setzen ihr Leben und Denken eine Haltung der Unabhängigkeit und Freiheit entgegen.
Ihre Lebensgeschichte liest sich wie ein Plädoyer für Mut und Engagement, wie ein Loblied auf die Freundschaft und die Liebe zur Welt.
Diesem Leben widmet sich nun die Filmemacherin Margarethe von Trotta in ihrem neuen Filmprojekt.
Alois Prinz, 1958 geboren, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und lebt heute mit seiner Familie in Feldkirchen-Westerham. Er veröffentlichte mehrere Biografien, u.A. über Georg Forster, Hermann Hesse, Ulrike Marie Meinhof und Franz Kafka. Er wurde für seine Bücher u.A. mit dem "Deutschen Jugendliteraturpreis" und dem "Evangelischen Buchpreis" ausgezeichnet. (Insel)
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Hannah Arendt: "Vita
activa oder Vom tätigen Leben"
"Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die
Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit
geendet, die Gesellschaft im ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.
Die Erfüllung des uralten Traums trifft wie die Erfüllung von
Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als
Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der
Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom
Hörensagen die
höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen die
Befreiung sich lohnen würde. (...) Was uns bevorsteht ist die Aussicht auf eine
Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige
Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?"
Hannah Arendts 1958 erschienene politische Theorie kritisiert die Reduktion tätigen
Lebens auf Arbeit und Konsum und insistiert auf dem Freihalten und der
Erweiterung der Öffentlichkeit. (Piper)
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Guillaume
Paoli: "Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und
Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen"
Seit 1996 verbreiten die Glücklichen Arbeitslosen eine ketzerische Botschaft:
Arbeit für alle werde es nie wieder geben, doch gerade dies sei eine
historische Chance. Heute gäbe es bereits Menschen, die außerhalb der
Erwerbssphäre ein durchaus glückliches Dasein gefunden hätten. Nicht
Arbeitslosigkeit sei das Problem, sondern Geldlosigkeit und mangelnde
gesellschaftliche Akzeptanz. Darum plädieren die Glücklichen Arbeitslosen für
eine angemessene, bedingungslose Entlohnung derjenigen, die auf die Mangelware
Arbeit freiwillig verzichten. Voraussetzung dafür wäre freilich eine
kulturelle Revolution, die sich gegen die alte Arbeitsmoral richten müsste, um
die soziale Relevanz der Muße anzuerkennen.
Wieder ein Luftschloss abgefahrener Querulanten? Nicht ganz. Denn verwunderlich
ist hier der Widerhall, den diese Thesen in Deutschland sowie im Ausland
gefunden haben. Hunderte von Arbeitslosen äußerten ihre Zustimmung, Soziologen
und Kulturanalytiker begrüßten die Initiative. Die Glücklichen Arbeitslosen
sprengten die konventionellen Rahmen zwischen Kunst, Kultur und Politik mit
dadaistischen Maßnahmen und Parolen wie "Gleiche Ausbeutung für
alle!", "Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche!" oder "Bündnis
für Simulation: Ihr tut, als ob Ihr Arbeitsplätze schafft, wir, als ob wir
arbeiten." Sowohl in Straßenaktionen als auch auf Fachkongressen, in
Besetzungen von Arbeitsämtern sowie in den Feuilletons hochbürgerlicher
Zeitungen sorgte die Gruppe für Aufsehen. Angesprochen fühlten sich gleichwohl
Punks, Gewerkschaftler, Künstler, Sozialarbeiter, Nachtschwärmer oder
Gemüsebauer. Diese Resonanz begann sogar die etablierte Politik als Zeichen
einer Bewusstseinsänderung an der Basis ernst zu nehmen. (Bittermann)
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Leseprobe:
Einführung
Das Unternehmen ist keine humanistische Institution
"Arbeiten Sie nie", sagte der Situationist Guy Debord. Was für ein
wunderbarer Plan, allerdings nur schwer zu verwirklichen. Deshalb sind ja so
viele Menschen in einem Unternehmen angestellt; und obwohl vor allem die großen
die Welt lange Zeit großzügig mit Arbeitsplätzen versorgten, ist merkwürdigerweise
dennoch jedes Unternehmen ein mysteriöses Universum, womöglich gar ein
Tabuthema. In diesem Buch soll im Klartext und ohne Phrasendrescherei darüber
gesprochen werden.
Hört, hört, Ihr mittleren Angestellten großer Betriebe! Dieses provozierende
Buch soll Sie "demoralisieren", genauer gesagt, es soll Ihre Arbeitsmoral
untergraben. Es wird Ihnen helfen, sich des Unternehmens zu bedienen, in dem Sie
beschäftigt sind, während bisher lediglich Sie dem Unternehmen dienten. Es
wird Ihnen erklären, warum es in Ihrem Interesse ist, so wenig wie möglich zu
arbeiten, und wie man das System von innen torpediert, ohne dabei aufzufallen.
Ist 'Die Entdeckung der Faulheit' ein zynisches Buch?
Ja, und zwar absichtlich, das Unternehmen ist schließlich auch keine
humanistische Institution! Es kümmert sich nicht im Geringsten um das
Wohlergehen seiner Mitarbeiter und respektiert die Werte, die es lauthals verkündet,
selbst nicht. Das beweisen doch all die Finanzskandale, von denen die
Nachrichten voll sind, und die Sozialpläne, die in rauen Mengen erstellt
werden. Und eine Vergnügungspartie ist die Arbeit in einem Unternehmen schon
gar nicht. Es sei denn, man beschließt, sich von nun an darüber lustig zu
machen.
Löst das Unternehmen sich in Ernüchterung auf?
Millionen von Menschen arbeiten in einem Unternehmen, und dennoch ist es eine
undurchschaubare Welt. Das liegt daran, dass diejenigen, die darüber sprechen,
ich meine die Universitätsprofessoren*, nie dort gearbeitet haben; sie wissen
nichts.
((* Ich bin ihnen gegenüber ein bisschen gemein, ich muss gestehen, dass ich
neidisch bin. Mein Job ist zwar besser bezahlt als ihrer, aber er ist weniger
chic. Aber ich gebe zu: Manche Professoren haben interessante Arbeiten über das
Unternehmen publiziert, vor allem die Soziologen.))
Diejenigen, die etwas wissen, hüten sich wohlweislich, darüber zu sprechen;
die Unternehmensberater, die sich eilig aus dem Staub gemacht haben, um ihren
eigenen Betrieb aufzumachen, hüllen sich in Schweigen, denn sie haben kein
Interesse daran, den Ast abzusägen, auf dem sie selbst sitzen. Das Gleiche gilt
für die Management-Gurus, die die Geschäftswelt mit guten Ratschlägen überschütten
und lächerliche Modetrends in die Welt setzen, an die sie selbst nicht glauben.
Deshalb haben die ungenießbaren Machwerke über "Management" für das
Unternehmen den gleichen Stellenwert wie die Lehrbücher über Verfassungsrecht
für das politische Leben: Durch sie wird man gewiss nicht verstehen, wie der
schmilblick* funktioniert.
((* Der "Schmilblick" ist eine berühmte Radiosendung aus den Siebzigerjahren,
die von dem Komiker Coluche in einem gleichnamigen Sketch auf die Schippe
genommen (und dadurch unsterblich gemacht) wurde. Der schmilblick hat sich zu
einem weithin gebräuchlichen Begriff in Unternehmen entwickelt: Man vermeidet
damit genauere Aussagen über das, was man gerade tut, wichtig ist nur, dass
diese unbestimmte Arbeit voranschreitet.))
Dennoch werden inzwischen Stimmen laut, die das Unternehmen so zeigen, wie es
wirklich ist. Den Anfang haben Romane gemacht, die es wagten, die gedämpften
Flure von Arthur Anderson (er hat 2002 Bankrott gemacht) oder das Gebäude der
GAN (Groupe des Assurances Nationales) im Pariser Vorort La Défense (das
anscheinend nicht zu stürzen ist) als Hintergrund zu wählen. Ein mutiger
Schritt, denn man kann sich nur schwer vorstellen, dass
Romeo und Julia über
Cashflow diskutieren, Akten schließen, Joint Ventures erfinden, Synergien überschlagen
und Organigramme zeichnen. Das Unternehmen, so viel ist sicher, ist nicht der
Schauplatz, an dem sich edle Leidenschaften wie Mut, Großzügigkeit und
Aufopferung für das Gemeinwohl entfalten. Es ist kein Ort zum Träumen.
Aber Moment mal ... Wenn es nicht der Hauptort ist, an dem Menschen sich bei der
Verwirklichung hehrer Aufgaben voller Tatendrang begegnen, weshalb erproben
Hochschulabsolventen ihre Talente dann traditionell in einem Unternehmen,
vorzugsweise in einem großen?
Als ich selbst zu arbeiten begann, befand sich das Unternehmen im Aufwind, und
alles sah ganz danach aus, als könnte es die Werte des sozialen Aufstiegs und
den freiheitlichen Geist des Mai '68 unter einen Hut bringen. Oh, weh! Die Ernüchterung
folgte alsbald. Ich bin nun schon lange dabei und hatte Zeit genug, um
festzustellen, dass man uns belogen hat. Dass im Unternehmen keine beschwingte
Tanzstimmung herrscht: Es ist nicht nur langweilig, sondern potenziell brutal.
Sein wahres Gesicht tritt umso deutlicher zutage, seit die Internetblase
geplatzt ist und Finanzskandale die Auflagen der Zeitungen hochtreiben. Der
Zusammenbruch der Börsenkurse von Vivendi, France Telecom, Alcatel und anderen
hat noch mehr Salz in die Wunden gestreut, denn dadurch wurde das Vermögen von
Tausenden von Angestellten, die zugleich Aktienbesitzer waren und bis dahin in
blinder Treue den draufgängerischen Reden ihrer Manager vertrauten, in den Sand
gesetzt. Das Schlimmste aber ist das Gemetzel von 2003, in dem sich die dunkle
Seite des Unternehmens offenbarte. Die Entlassungspläne werden immer
zahlreicher: STMicroeletronics, Alcatel, Matra, Schneider Electric ... Das
Unternehmen ist am Ende. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Es ist nicht
mehr der Ort des Erfolgs. Der soziale Aufzug ist blockiert. Die
Sicherheitsgarantie der Diplome schwindet dahin, die Renten sind in Gefahr, und
die Karriere ist nicht mehr selbstverständlich. Die Sechzigerjahre mit ihrem
Fortschrittsfieber, in denen die Karriere wie selbstverständlich gesichert war,
liegen weit hinter uns. Der Wind hat sich gedreht, und schon betteln flüchtende
überqualifizierte Diplominhaber um obskure Posten als Bürohengste in der
Verwaltung.
Denn das Unternehmen bietet kaum noch attraktive Zukunftsaussichten: Die
nachfolgenden Generationen werden noch mehr Diplome vorweisen müssen, um noch
weniger angesehene Posten zu ergattern und noch uninteressantere Projekte
durchzuführen.
Ich habe schon zu meinem Sohn und meiner Tochter gesagt: "Meine Lieben,
arbeitet nie in einem Unternehmen, wenn ihr groß seid. Nie! Papa und Mama wären
sehr enttäuscht von euch!"
Der Mangel an individuellen und sozialen Perspektiven ist so gravierend, dass
die Kinder des Bürgertums, aus denen sich der Nachwuchs für höhere
Angestellte rekrutiert, sich schon jetzt unauffällig davon verabschieden könnten.
Wie? Indem sie sich Berufen zuwenden, die weniger eng mit dem kapitalistischen
Treiben verknüpft sind (Kunst, Wissenschaft, Lehre ...), oder indem sie sich
mit elegantem Gruß teilweise aus der Welt der Unternehmen zurückziehen. Das
mache ich auch: Ich arbeite nur noch als Teilzeitkraft dort und widme den
Hauptteil meiner Zeit anderen, weitaus spannenderen Aktivitäten*.
((* Welchen? Nun gut, wir wollen ganz offen sein: der Psychoanalyse und dem
Schreiben. Aber es gibt noch jede Menge andere fesselnde Beschäftigungen: Esel
züchten, eine ultraperfektionistische Audioausrüstung basteln, Feste
organisieren, sich in Vereinen engagieren, Wein anbauen, mit Fossilien handeln,
malen, am Strand auf Liebesfang gehen ...))
Macht es mir nach, ihr kleinen Angestellten, Lohnabhängigen, Neosklaven,
Verdammte des Tertiärsektors, Hilfskräfte des ökonomischen Prozesses, meine
Brüder und Schwestern, die von abgestumpften und unterwürfigen Subchefs
herumkommandiert werden und gezwungen sind, sich die ganze Woche lang wie ein
Kasper zu verkleiden und ihre Zeit mit nutzlosen Meetings und bescheuerten
Seminaren zu vergeuden!
Zunächst aber kann man das System von innen her zersetzen, denn um sich aus dem
Staub zu machen, bedarf es gewisser Vorbereitungen. Ahmen Sie ohne großen
Kraftaufwand das Verhalten des typischen mittleren Angestellten nach, imitieren
Sie sein Vokabular und seine Gesten, ohne sich dabei allzu stark "einzubringen".
Sie werden nicht alleine damit dastehen: Einer kürzlich erschienenen Umfrage
des IFOP zufolge haben 17 Prozent der französischen Angestellten "die innere Kündigung
von ihrer Arbeit vollzogen", was bedeutet, dass sie eine so unkonstruktive
Haltung einnehmen, dass es schon an Sabotage grenzt.
Nur drei Prozent der französischen Angestellten "rackern sich bei ihrer Arbeit
ab" und sind ihrer eigenen Einschätzung nach "aktiv engagiert"*.
((* Nach der jüngsten Gallup-Untersuchung empfinden 87 % der Deutschen "keine
echte Verpflichtung gegenüber ihrer
Arbeit", 18 % haben "die innere Kündigung
bereits vollzogen" (31 % der Franzosen!) und "keine emotionale Bindung" an
ihren Arbeitsplatz. Nur 13 % nehmen für sich eine "hohe emotionale Bindung"
in Anspruch. Gallup Studie Engagement Index 2004, Gallup GmbH (Anm. d. Üs.)))
Man muss zugeben, dass das ziemlich wenig ist. Das Unternehmen bemüht sich
unterdessen, die Anderen, die keiner der beiden Kategorien zuzuordnen sind, zu
"motivieren". In der Tat mehren sich die Seminare, in denen die abgeschlafften
Angestellten allesamt wieder auf Trab gebracht werden sollen. Dass man sich überlegt,
wie man die Arbeitnehmer wieder dazu bringen könnte, die Ärmel hochzukrempeln,
zeigt klar genug, dass ihnen ihre Arbeit schnuppe ist! Mein Großvater, Großhändler
und Selfmademan, stieg morgens nie aus dem Bett, um sich zu fragen, ob er "motiviert"
sei: Er machte seine Arbeit und fertig.
Sie brauchen keine Unannehmlichkeiten zu fürchten, wenn Sie "die innere
Kündigung"
vollziehen. Sie sind ohnehin umgeben von Unfähigen und Waschlappen, denen Ihr
Mangel an Arbeitseifer kaum auffällt. Und selbst wenn jemand zufällig darauf
aufmerksam wird, dann können Sie sicher sein, dass er oder sie nichts zu sagen
wagen wird. Denn eine Bestrafung Ihrerseits hätte zwei unangenehme Folgen für
den Vorgesetzten: Erstens würde bekannt werden, dass er (sie) nicht in der Lage
war, seine (ihre) Führungsfunktion ordnungsgemäß zu erfüllen, und zweitens würde
eine eventuelle Strafe Ihre Aussichten auf eine Versetzung reduzieren! Dank
dieser omertà bringen es manche zu einem glanzvollen Aufstieg - ihre
Vorgesetzten sind nämlich zu allem bereit, wenn sie sie nur loswerden, sogar zu
einer Beförderung. Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für
die Heuchelei ...
Pierre de Coubertin, Initiator der modernen Olympischen Spiele, sagte, es sei
wichtig, teilzunehmen, heute aber ist es wichtig, so wenig wie möglich
teilzunehmen. Wer weiß, vielleicht genügt das schon, um das System zu Staub
zerfallen zu lassen - die Kommunisten haben siebzig Jahre lang Däumchen
gedreht, und eines Tages fiel die Berliner Mauer ...
Im Übrigen sollte man sich keinen Illusionen hingeben; auch von einer
Revolution ist nichts zu erwarten, denn die Menschheit erliegt unablässig den
immer gleichen Irrtümern: Papierfluten, erbärmlich mittelmäßige Chefs und in
brisanten Zeiten, wenn die Leute wirklich hitzig werden, Hinrichtungen. Das sind
die drei Zitzen der
Geschichte. (Aber hat die Geschichte wirklich Zitzen?)
Im Folgenden möchte ich einige Prinzipien aufzeigen, die Ihnen helfen, die Welt
des Unternehmens zu verstehen, wie es wirklich ist, und nicht, wie es zu sein
vorgibt.
Ein neues Interpretationsschema hilft zu verstehen
Wenn in einem Unternehmen jemand etwas zu Ihnen sagt oder wenn Sie ein Dokument
lesen, dann gibt es dafür Schlüssel, mit deren Hilfe Sie den Sinn begreifen können.
Diese Methode der Entschlüsselung mit Hilfe eines Interpretationsschemas wird
Ihnen helfen, im Unternehmen wie in einem offenen Buch zu lesen - denn es ist
wirklich wie ein Text, es spricht, es kommuniziert, es schreibt. Das kann es nur
sehr schlecht, allerdings, aber umso besser für uns, denn die Arbeit der
Entschlüsselung und des Verstehens wird dadurch nur noch amüsanter.
Die Zeichen umkehren.
Je mehr ein Großunternehmen über etwas spricht, umso weniger ist davon
vorhanden. Beispielsweise werden Berufe genau in dem Moment "aufgewertet",
wenn sie verschwinden; es wird über "Autonomie" schwadroniert, während man für
die kleinste Lappalie ein Formular in drei Exemplaren ausfüllen und sechs
Menschen nach ihrer Meinung fragen muss, um eine belanglose Entscheidung zu
treffen; die "Ethik" wird in den Himmel gehoben, während das Unternehmen an
absolut gar nichts glaubt.
Dem kreisförmigen Faden des Diskurses folgen.
Der Diskurs des Unternehmens dreht sich im Kreis, so wie eine Schlange sich in
den Schwanz beißt. Es genügt, eine Idee zu nehmen und den Faden bis zum Ende
zu verfolgen: Man wird unweigerlich wieder am Anfang ankommen. Das Unternehmen
ist eine Welt, in der das Meeting oft der ultimative Zweck der Arbeit ist und
die Aktion das höchste Ziel der Aktion (sofern nicht das Gegenteil der Fall
ist).
Dummheit von Lüge trennen.
Das Schwierigste in einem Unternehmen ist, die Dinge richtig einzuschätzen, und
mit wachsender Erfahrung werden Sie feststellen, dass manchmal beides richtig
ist. Wenn Ihre Vorgesetzten Ihnen beispielsweise erzählen: "Die Mitarbeiter
sind unser wertvollster Trumpf" oder: "Ihre Ideen sind wichtig für
uns",
dann handelt es sich dabei um folgenlose Banalitäten, denn jedermann weiß,
dass eine solche Welt nicht existiert. Hingegen ist der Satz: "Bei uns können
Sie verschiedene Berufe zugleich ausüben, für unterschiedliche und innovative
Aufgaben und Projekte Verantwortung übernehmen" offensichtlich als
Idiotenfalle gedacht. Und wenn ein Manager behauptet: "Ich habe keine
Gerüchte
gehört" oder: "Ich praktiziere eine Politik der Offenheit", dann ist das
normalerweise gelogen. Die Verbindung von Schwachsinn und Heuchelei trägt
reiche Früchte und bringt die Politik des modernen Managements hervor, von
manchen pompös "Neomanagement" genannt.
Das Realitätsprinzip anwenden.
Was im alltäglichen Leben machbar ist, wird in der Welt des Unternehmens
schwierig; und was im Alltag nur schwierig ist, erweist sich in der Arbeit als
vollkommen unmöglich. Man kann beispielsweise das sichere Scheitern aller
Versuche einer Reorganisation in großem Maßstab ebenso vorhersagen wie den
Fehlschlag aller Projekte, die sich über mehr als zwei Jahre erstrecken, und
schließlich ganz allgemein das Scheitern all dessen, was nie realisiert wurde.
Den richtigen Blickwinkel finden.
Man muss die Dinge und Ereignisse in ihrem Kontext sehen. Man kann das
Unternehmen nicht von der Welt trennen, in der es gedeiht - oder, im
Augenblick, verkümmert. Es ist nur Symptom einer Welt, die sich in tausend Lügen
verstrickt hat und unablässig mit Hilfe ungeheurer Bestechungssummen und eines
Kauderwelschs, das von närrischem Gestikulieren begleitet ist, den Gnadenstoß
abwehrt.