Eva Labouvie, Ramona Myrrhe (Hrsg.): "Familienbande - Familienschande"
Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft
Ort
von Konflikten und Loyalität: die Familie
Familien galten lange Zeit quer durch alle Schichten als kleinste
Einheiten der Gesellschaft, sozusagen als deren Zellen. Erst seit
wenigen Jahrzehnten zeigt die Bedeutung und Wertschätzung der
Familie Auflösungserscheinungen. Nirgendwo freilich treten
Konflikte zwischen den Geschlechtern auch heute so verstörend
zutage wie innerhalb der Familie. Das angespannte und komplexe
Verhältnis zwischen den Geschlechtern und andere
Spannungsfelder im familiären Kontext werden im vorliegenden
Buch untersucht, das mehrere voneinander unabhängige
Beiträge beinhaltet.
Das Buch besteht aus drei Teilen mit den übergeordneten Themen
"Bilder, Fiktionen, Konstruktionen", "Geschlecht und Familienleben"
sowie "Familienschande" - so die Titel dieser Teile, die gut die
Inhalte der Beiträge umreißen.
Der erste Teil befasst sich also mit intrafamiliären
Konflikten in der Dichtung, insbesondere solchen zwischen Mann und
Frau, etwa in Wolfram von Eschenbachs "Willehalm", in dem die Frau als
fremdes Element zur Familie stößt, oder in
Dostojewskis "Die
Brüder Karamasow", wo sowohl ein
tödlicher Zwist zwischen Vater und Söhnen sowie den
Brüdern untereinander als auch die Schande
außerehelicher Geburt thematisiert werden.
Sehr heterogen präsentiert sich der zweite Teil. Hier geht es
um Hexenfamilien am Beispiel eines friesischen Landkreises im 17. bis
19. Jahrhundert, um die Beziehung zwischen Bruder und Schwester in
gutbürgerlichen Familien des 19. Jahrhunderts, ebenfalls
anhand eines Beispiels vorgestellt, um
Vater-Sohn-Konflikte
um 1800,
als das junge napoleonische Ideal mit den überkommenen Werten
zusammenstieß, und um einen Ausblick zur Rolle der
Väter in unserer künftigen Gesellschaft.
Extremsituationen innerhalb von Familien bilden den gemeinsamen Nenner
der Beiträge im dritten Teil. Der erste von ihnen befasst sich
mit dem Problem des Alkoholismus im späten 19. und
frühen 20. Jahrhundert, unter dem Frauen (und Kinder) meist
indirekt, nämlich als Opfer alkoholkranker Ehemänner
und Väter, zu leiden hatten. Ein weiterer Beitrag untersucht
die Motive von Verwandtenmorden im 19. Jahrhundert, vor allem tragische
Fälle von
Kindstötung.
Die letzten beiden
Beiträge schließlich versetzen den Leser in die
NS-Zeit zurück: Einer von ihnen schildert die Praxis der
Zwangssterilisation, die den Nazis zufolge die Ausbreitung schlechten
Erbmaterials verhindern sollte, der andere gibt Ausschnitte aus
Interviews mit einer ehemaligen KZ-Aufseherin und ihren
Töchtern wieder und interpretiert sie, sodass der Leser
beobachten kann, wie die frühere Handlangerin der SS und ihre
Töchter auf ganz unterschiedliche Weise das Geschehene
verdrängen und beschönigen.
Was vor allem früher gern
unter den Teppich gekehrt wurde,
zeigt sich in diesem Buch in aller Klarheit: Die Beziehungen zwischen
Familienmitgliedern sind in ihrer Vielschichtigkeit häufig von
Konflikten geprägt, die wiederum oft auf dem unterschiedlichen
Geschlecht der zu betrachtenden Personen und den geschlechtstypischen
Rollen innerhalb der Familie beruhen. Dies arbeiten die entsprechenden
Texte bezüglich verschiedener Probleme, Epochen und
Gesellschaftsschichten sehr gut heraus. Ebenso zeigt sich die
Anfälligkeit der nur scheinbar stabilen "Bastion" Familie
für äußere Einflüsse, etwa, wenn
Familienmitglieder in früheren Zeiten der
Hexerei
bezichtigt
wurden.
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Stehen in einigen Beiträgen die klassischen Konflikte
Mann-Frau, Bruder-Schwester im Vordergrund, so geht es in anderen um
Generationenkonflikte;
zwei Autorinnen arbeiten sehr
sorgfältig einen für seine Zeit typischen
Vater-Sohn-Konflikt heraus. Die Regeln des interfamiliären
Umgangs der Geschlechter und Generationen miteinander lassen auch immer
einen hochinteressanten Blick auf die Gesellschaft zu, in der die
betreffenden Familien lebten. Besonders deutlich zeigt sich dies zum
Beispiel im Beitrag über den Alkoholismus.
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Das Buch deckt innerhalb des vorgegebenen Rahmens einen weiten
Themenbereich ab, auch wenn es letztlich aus Einzelaufnahmen besteht,
die zum Teil ein wenig überlappen. Die Beiträge sind
sämtlich so gut allgemeinverständlich verfasst, dass
auch Nicht-Soziologen mit der Lektüre zurechtkommen. In ihrer
Gesamtheit geben sie einen interessanten Einblick in die Entstehung und
die verschiedenen Ausprägungen von Familienkrisen, mit denen
zu beschäftigen sich lohnt.
(Regina Károlyi; 01/2008)
sEva
Labouvie, Ramona Myrrhe (Hrsg.):
"Familienbande - Familienschande.
Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft"
Böhlau Verlag Köln, 2007. 300 Seiten.
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