Adeline Yen Mah: "Fallende Blätter"
Böse Stiefmütter
gibt es leider nicht nur im Märchen
Die dramatische Autobiografie der chinesischstämmigen Ärztin
Adeline Yen Mah spannt den erzählerischen Bogen der Familienchronik quer durch
nahezu ein Jahrhundert der wechselvollen Geschichte Chinas, beginnend bei ihren
Großeltern bis in die 1990er-Jahre hinein. Ihre Mutter stirbt kurz nach Adelines
Geburt an Kindbettfieber. Als ihr Vater, ein überaus wohlhabender, geschickter
Geschäftsmann neuerlich heiratet, beginnt für sie, ihre vier Geschwister, die
Tante und die Großeltern eine Zeit der ständigen Demütigungen und Zurücksetzungen
durch die "Niang".
Die zum Zeitpunkt der Hochzeit siebzehnjährige Stiefmutter Jeanne ist die Tochter eines Franzosen und einer Chinesin und eine auffallend
schöne, jedoch selbstsüchtige und geizige Frau, die von Anfang an die Beziehungen
der Familienmitglieder untereinander zu zerstören sucht. Mit unglaublicher Härte
und Grausamkeit setzt sie in jedem Bereich des täglichen Lebens ihren Willen durch,
wobei sie es perfekt versteht, nach außen die gesellschaftlich hochstehende, noble
Repräsentationsfigur darzustellen. Sie regiert den Haushalt mit eiserner Hand,
Ansätze von Rebellion erstickt sie teils durch Intrigen, teils durch Handgreiflichkeiten im Keim. Ihr Ehemann lässt sie gewähren,
denn auch er selbst ist seinen Kindern gegenüber äußerst hartherzig und darüberhinaus
seiner hübschen Frau verfallen. Der Ehe der beiden entstammen zwei weitere Kinder,
welche jenen aus erster Ehe in allen Belangen vorgezogen werden.
Der Sadismus
der Stiefmutter kennt keine Grenzen, sie bringt die Familienangehörigen gegeneinander
auf und lenkt die Geschicke der Kinder willkürlich nach eigenem Gutdünken, sogar
die kleinsten Annehmlichkeiten des Wohlstandes bleiben ihnen verwehrt, während
die Eltern ein Leben in luxuriösem Überschwang führen. So müssen die Kinder beispielsweise
die großen Entfernungen zur Schule in stundenlangen Fußmärschen bewältigen, weil
die Eltern kein Geld für die Straßenbahn ausgeben wollen, um sie nicht zu verweichlichen.
Das lange währende Stillhalten der Gequälten ist nur in Kenntnis der damaligen
Gesellschaftsordnung, insbesondere der innerfamiliären Stellung der (Stief-)Kinder
verständlich, welche die Autorin ausführlich beschreibt.
Adeline
Yen Mah verdankt ihrem Talent zum Schreiben die Chance, in England Medizin studieren
zu dürfen: Als sie im Alter von vierzehn Jahren einen Wettbewerb gewinnt, bei dem
es darum geht, ein Theaterstück zu schreiben, bringt ihr das zwar nicht die lebenslang
ersehnte Anerkennung in den Augen ihres Vaters ein, aber immerhin gestattet er
ihr infolgedessen, eine moderne Berufsausbildung zu absolvieren.
Mit bewundernswertem
Mut geht Adeline jahrelang nicht den einfacheren Weg der Unterwerfung und Anpassung
wie einige ihrer Geschwister. Die daraus resultierenden Konsequenzen erträgt sie
tapfer. Als Adelines Vater nach jahrelangem Dahinsiechen
in einem Sanatorium an den Folgen der Alzheimer-Krankheit stirbt, hat
Jeanne das Vermögen längst in
ihre alleinige Verfügungsgewalt gebracht, sodass keines der Kinder
ein Erbteil erhält.
Wie die Autorin ohne Selbstmitleid schreibt schaffte sie
es, "trotz ihrer Familie" und aus eigener Kraft, in der Kindheit nur von ihrer
Tante und den Großeltern moralisch unterstützt, höhere Schulbildung zu erlangen,
was ihr eine beachtliche Karriere und ein Leben in Wohlstand in den USA ermöglichte.
Für eine Chinesin damals durchaus keine Selbstverständlichkeit!
Die 32 Kapitel
tragen poetische Titel. Als Beispiele hierfür seien nur einige genannt: "Herzen
zerfallen zu Asche", "Erzeuge keine Wellen, wo kein Wind weht",
"Wer sich die
Ohren zuhält, kann die Glocke nicht stehlen".
Eine Lebensgeschichte, die
dem Leser Respekt und Achtung für den Mut abnötigt, allen Widrigkeiten zum Trotz
beharrlich einen eigenen Weg zu gehen.
Adeline Yen Mah: "Fallende Blätter. Die wahre
Geschichte einer ungeliebten chinesischen Tochter"
Diana, 2002.
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Noch ein Lektüretipp:
Hong Ying: "Tochter des großen Stromes. Roman meines Lebens"
Das Drama einer Frau und eines ganzen Landes.
Sie träumt von einem Leben ohne Armut und Leid, von einem Leben voller Liebe.
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bricht für das Mädchen namens "Regenbogen" eine bessere Zukunft an.
Hong Yings Leben ist so spannend wie kaum ein Roman. Unverblümt und überwältigend
beschreibt sie ihre Schicksalsjahre in Maos China. (Aufbau)
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