Franco Cardini: "Europa und der Islam"
Geschichte eines Missverständnisses
Dieses bereits im Jahr 2000 erstmals in
Deutschland erschienene Werk könnte aktueller nicht sein. Denn wie bereits im 7.
und 8. Jahrhundert oder zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, klopft der Islam
heute erneut an die Tore Europas. Einerseits durch legale und illegale
muslimische Einwanderer und andererseits durch den Wunsch der Türkei um
Aufnahme in die Europäische Union. Die historischen Umstände haben sich zwar
geändert, aber das Unbehagen über den als "fundamentalistisch" gekennzeichneten
Islamismus hat zu einer Wiederbelebung uralter Feindbilder geführt.
Die
geplante Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sorgt immer wieder
für Aufregung und ist in der Presse konstant präsent. Alle publizierten Umfragen
belegen ziemlich eindeutig, dass seitens vieler EU-Bürger große Abneigung
besteht, die Türkei als Teil Europas anzuerkennen.
Erstaunlich eigentlich, denn Kontakt und Austausch zwischen Europa und der islamischen
Welt gibt es seit langer Zeit, und immer wieder haben Strömungen aus dem
Orient
Europa entscheidend beeinflusst. Umso größer die Hoffnung, Franco Cardini könnte
es gelingen, Ressentiments, Vorurteile und Ängste abzubauen. Tatsächlich geht
er den Motiven für hartnäckig bestehende Vorurteile zwischen Orient und Okzident
auf den Grund.
Befremdlich in diesem Zusammenhang erschien mir allerdings der
Untertitel ("Geschichte eines Missverständnisses"), der das komplizierte
Verhältnis Europas zum Islam als Missverständnis bezeichnet. Auch der Aufbau
dieser überaus interessanten und informativen historischen Studie, die das
Verhältnis zwischen dem christlichen Europa und der islamischen Welt über 13
Jahrhunderte beleuchtet, wirkt fallweise ziemlich einseitig und hebt die
Vorurteile des Westens gegenüber dem Osten hervor, was den Islam phasenweise
geradezu verklärt.
Kriege und Eroberungen werden genauso detailliert
dargestellt wie die
Kreuzzüge, die
"Reconquista" oder die Zurückdrängung des
Osmanischen Reiches. Cardini
beleuchtet politische und wirtschaftliche Aspekte und die vielseitigen
kulturellen Beziehungen zwischen Europa und dem Islam.
"Europa und der Islam"
ist insgesamt eine gute Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte zu diesem
aktuellen Thema, die bedauerlicherweise ein Sachregister und vor allem
Kartenmaterial vermissen lässt, um teilweise komplizierte geschichtliche
Entwicklungen nachvollziehen zu können.
Eines ist Franco Cardini aber
hervorragend gelungen - nämlich plausibel darzustellen, dass der Islam ein Teil
Europas ist. Umso mehr sollte es der EU, die sich in erster Linie als ein
Friedensprojekt versteht, gelingen, einen Raum für alle Kulturen zu schaffen und
eine Gesellschaft zu erschaffen, die es allen Bürgerinnen und Bürgern
ermöglicht, die eigenen Hoffnungen zu entfalten und in die Realität
umzusetzen.
Franco Cardini hat mit diesem Buch sicher einen wertvollen
Beitrag zum Verständnis der Beziehung zwischen Europa und dem Islam geleistet
und eindrucksvoll vor Augen geführt, dass es eine derart scharfe Grenze, wie sie
heute offensichtlich in vielen Köpfen existiert, zwischen Orient und Okzident so
nie gegeben hat.
Der Autor ist Professor für Mittelalterliche
Geschichte an der Universität Florenz und gehört international zu den renommiertesten
Historikern.
(Margarete Wais; 10/2004)
Franco Cardini: "Europa und der
Islam. Geschichte eines Missverständnisses"
Aus dem Italienischen von
Rita Seuß.
C. H. Beck, 2004. 308 Seiten.
ISBN 3-406-51096-5.
ca. EUR
13,30.
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