Geert Mak: "In Europa"
Eine Reise durch das 20. Jahrhundert
Das Europa des 20. Jahrhunderts als Synopse aus historischen Daten, Zeitzeugenerfahrungen und Streiflichtern einer Reise
in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, Geert Maks über 900
Seiten starkes Werk "Über Europa" im Rahmen einiger weniger Zeilen
angemessen zu besprechen, vor allem, weil diese über 900 Seiten
schier überquellen vor geschichtlicher Information,
Stimmungsbildern und autobiografischen Erzählungen.
Mak hat das vergangene Jahrhundert in zwölf Abschnitte unterteilt und im Jahr 1999 jeden Monat einen dieser Abschnitte
bereist - im wörtlichen Sinne: Er besuchte die Orte, die entweder diese Jahre besonders geprägt haben oder von ihnen
geprägt wurden.
Jeder dieser Kurzepochen wird die jeweils aktuelle europäische Landkarte vorangestellt, auf der Maks Reiseroute
eingezeichnet ist, wo nötig, auch einmal ein Frontverlauf oder Truppenbewegungen. Der Besuch der meisten Städte wird
vom Bericht eines mehr oder weniger prominenten heimischen Zeitzeugen eingeleitet, sei es beispielsweise ein Schriftsteller
oder Journalist, ein Offizier, ein Dissident, ein Bauer in den Pyrenäen, ein Enkel
Kaiser Wilhelms II. oder ein damals
aktiver Politiker. Diese Menschen schätzen die geschichtlichen Ereignisse und ihre Auswirkungen sachlich ein und verleihen
ihnen zugleich Leben.
Üblicherweise beschreibt Mak anschließend, von Rückblenden
unterbrochen, die Situation jener historisch bedeutsamen Schauplätze im
Jahre 1999. Freunde und Zufallsbekanntschaften kommen ebenso wie
weitere Zeitzeugen zu Wort, auch in dem gründlich recherchierten
geschichtlichen Abriss, der das Zentrum jeder Betrachtung eines Ortes
darstellt. So finden auch weitgehend unbekannte Details Erwähnung, die
manchmal für die weitere Entwicklung entscheidende Folgen hatten und
unser Verständnis für die von unzähligen Verstrickungen geprägten
Vorgänge fördern. Überhaupt zeichnet dieses Werk aus, dass der Autor
sehr klar die Weichen für viele der Katastrophen des 20. Jahrhunderts
definiert. Dazu setzt er auch solche Quellen ein, die erst seit kurzer
Zeit zugänglich sind.
Vom sehnsüchtig zurückschauenden Wien, vom der Zukunft
zugewandten Paris und vom aggressiv voranschreitenden Berlin des Jahres
1900, vom nach dem Tod Königin Victorias 1901 sozusagen mutterlos
zurückgebliebenen London und England führt ein seltsamer,
schrecklicher Weg über Sarajewo, Versailles und München nach
Auschwitz und
Stalingrad. Umwege mündeten schließlich in die
Gräuel in Ex-Jugoslawien, ganz am Ende des Jahrhunderts. Ein
anderer Umweg brachte die jungen Demokratien Osteuropas
gewissermaßen nach Europa zurück - aber zu welchem Preis
für ihre Völker?
Gänzlich objektive Geschichtsbetrachtung ist unmöglich, auch für einen Niederländer.
Geert Mak kommt dem Ideal allerdings nahe. Er begründet und ergründet, statt
zu verurteilen, er lässt
unmittelbare
Zeugen aus den beteiligten Ländern erzählen und nicht nur seelenlose Daten
sprechen. Einige nationale Mythen bleiben fast restlos auf der Strecke, unter
anderem der französische von de Gaulle und der Résistance und der britische
vom "blitz". Dass Mak kritisch seine Verwunderung darüber äußert, keinen Deutschen
finden zu können, der mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte und über Auschwitz
Bescheid wusste, überrascht nicht. Den Österreichern beweist er, dass sie keineswegs
die reine Opferrolle gegenüber Deutschland innehatten, in der sie sich häufig
sehen. Und seine Landsleute müssen sich ebenfalls Kritik gefallen lassen. Einsicht
ist aber notwendig, damit Europa zu der Einheit findet, die es sich wünscht.
Diese Einheit ist Inhalt des Epilogs: Können die übersatten, trägen und unter
sich zerstrittenen Westeuropäer und die postkommunistischen, verarmten und in
einen neuen Nationalismus gleitenden Osteuropäer nach einem Jahrhundert unübertroffener
Gräuel zueinander gelangen? Treffend meint Geert Mak: "Europa hat nur diese
eine Chance."
Maks Buch ist zugleich ein sachliches und erschütterndes Dokument der jüngsten Geschichte; es bietet ganz unmittelbar
Zugang zu einer Zeit, die unsere Gegenwart noch immer nachhaltig prägt. Daher sehe ich es als eine der wichtigsten
geschichtsbezogenen Neuerscheinungen an. Von seinem beeindruckenden Umfang darf man sich nicht abschrecken lassen: Hat
man einmal begonnen, kann man diese Lektüre kaum aus der Hand legen.
Das Buch ist nicht billig, aber angesichts der Informationsdichte und -qualität und der verlagsseitigen Umsetzung des
ehrgeizigen Projekts empfinde ich den Preis als angemessen. Die Aufmachung ist ansprechend, und auch bei der Herstellung
wurde nicht an der Qualität gespart. Erwähnenswert ist zudem der Umstand, dass es offensichtlich trotz der gewaltigen
Seitenzahl praktisch keine Druck-, Zeichensetzungs- oder sonstige Fehler gibt bis auf eine Verwechslung von
Budapest und Bukarest (S. 839).
Abgesehen davon handelt es sich definitiv um eines der zehn besten Bücher, die ich je gelesen habe, daher
empfehle ich es sehr gern.
(Regina Károlyi; 11/2005)
Geert Mak: "In Europa"
(Originaltitel "In Europa: Reizen door de twintigste eeuw")
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Andreas Ecke.
Siedler, 2005. ca. 928 Seiten; mit Karten.
ISBN 3-
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Geert Mak wurde 1946 in einem
friesischen Dorf geboren. Er ist einer der bekanntesten Publizisten der
Niederlande und gehört zu den wichtigsten Autoren des Landes.
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Das Jahrhundert meines Vaters"
Geert Mak hat eine Biografie der Niederlande geschrieben. Anhand von Interviews,
alten Zeitungsausschnitten und Hunderten von erhalten gebliebenen Briefen erzählt
er von den ländlichen Niederlanden zu Beginn des Jahrhunderts, vom Entstehen
der katholischen, protestantischen und sozialdemokratischen Säulen der
Gesellschaft, von den Krisen und dem Antisemitismus der dreißiger Jahre, von
der anderen Welt der fernöstlichen Kolonien, vom Krieg in Europa und Asien, von
der Mentalität des Wiederaufbaus, von den Träumen der sechziger Jahre und der
darauf folgenden Ernüchterung.
Es ist eine Geschichte, die durch die Hintertür in die Küche einer niederländischen
Durchschnittsfamilie hereinkommt, seiner eigenen Familie. Gerade dadurch erzählt
sie farbig und konkret von den großen historischen Themen: Wie verhielt man
sich anno 1910 Krankheiten, der Sexualität oder dem Tod gegenüber? Wie dachten
die Niederländer
zu ihrer Zeit
über den Ersten Weltkrieg?
Wie erlebten sie Hitlers Machtergreifung, den deutschen Einmarsch, die Strafaktionen
in den Kolonien? Und wie ging es danach weiter, mit Rock'n' Roll, dem Fernsehen,
dem Auto, dem Geld?
Geert Mak erzählt von der Lust und Last, den Verzweiflungen und Hoffnungen
einfacher Leute. Er erzählt die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts,
greifbar nah, erlebbar. (Siedler, btb)
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"Amerika!" zur Rezension ...
Weiterer Tipp:
Jan-Werner Müller: "Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert"
"Das demokratische Zeitalter" ist die erste umfassende Studie des politischen Denkens in Europa, die seit dem Ende des Kalten Krieges erschienen ist und den ganzen Kontinent in den Blick nimmt. Sie setzt 1918 ein und reicht bis zum Zusammenbruch der kommunistischen bzw. realsozialistischen Staaten Osteuropas Ende der 1980er-Jahre.
In einer meisterhaften Mischung aus Geistes- und Kulturgeschichte, angereichert durch eine Fülle von höchst lebendigen biografischen Skizzen einflussreicher, heute zum Teil vergessener Denker aller Couleur, zeichnet Jan-Werner Müller nach, welche politischen Ideen und Köpfe das Zeitalter der ideologischen Extreme bis 1945 geformt und welche das Schicksal Europas danach maßgeblich bestimmt haben.
Max Weber wird ebenso behandelt wie die Vordenker des Faschismus, die Frankfurter Schule und "1968" ebenso wie neokonservative Denkfabriken, etwa die "Mont Pelerin Society". Dass sich die Christdemokratie als die prägende politische Strömung in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg erweist, gehört zu den spannendsten Erträgen dieses Buches, das mehr bietet als eine fulminante Ideengeschichte Europas im Zeitalter der Ideologien: Es liefert auch die Vorgeschichte des heute vieldiskutierten postdemokratischen Status quo, ohne die sich dieser nicht verstehen lässt.
Jan-Werner Müller, geboren 1970, lehrt Politische Theorie in Princeton. (Suhrkamp)
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