Wilhelm Vossenkuhl: "Die Möglichkeit des Guten"

Ethik im 21. Jahrhundert


Angewandte Ethik

Wenn der fränkische Megakomiker Erwin Pelzig einmal formulierte, Ethik ist wie Religion ohne Weihnachten, dachte er dabei v.a. an die Schulfächer. Gerade aber in der Schule des Lebens geht es immer noch und wieder um die Existenz des Guten und des Bösen und um die "Paradoxie des Guten", wie Vossenkuhl das nennt, weil er weiß, dass diese Begriffe und ihre praktische Umsetzung nicht von ewiger Dauer und Wertigkeit sind. "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" - so brachte es einmal Erich Kästner auf den Punkt.

Auch Wilhelm Vossenkuhl - seines Zeichens Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München - geht es um eine Ethik als praktische Wissenschaft, die unsere Verantwortung überprüft, wie wir Fortschritt und Freiheit so umsetzen, dass "ein gutes Leben für alle denkbar und konkret möglich ist."

Auf Bayern Alpha (Serien "Lesch & Co" - "Denker des Abendlandes"), treffen mit Harald Lesch und Wilhelm Vossenkuhl ein Naturwissenschaftler und ein Philosoph zusammen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und der Anwendbarkeit von Erkenntnissen auf die alltägliche Praxis. Im Grunde ist Ethik "nämlich die Klärung der Frage, wie ein gutes gemeinsames Leben der Menschen möglich ist." Dem sind jegliches Erkenntnisinteresse und jede Praxis unterzuordnen. Unser Zusammenleben ist geprägt durch sittliche Regeln, soziale und politische Normen sowie kulturelle Traditionen und Neuentwicklungen.

Sittliche Regeln werden meist durch Intuition eingehalten - wo dagegen verstoßen wird, bedarf es der Institutionen. Wenn auch das Verständnis der Begriffe "Moral" und "Ethik" umstritten ist - so lässt sich sicherlich aus der sarkastischen Bemerkung "Erst kommt das Fressen, und dann die Moral" aus Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" eine Ethik entwickeln, die bewusst aus dem Spannungsfeld Egoismus - Altruismus bzw. auch Materie - Idee ihre Energie ableitet. Das Einzelne ist nur gut, wenn es für das Ganze gut ist. Allerdings gibt es vielerlei Ganzheiten - und die Kriterien für das Gute sind ohnehin vielfältig bis widersprüchlich.

Für Vossenkuhl ist die Ethik "zur Konsistenz ihrer Argumente und zur Kohärenz ihrer Urteile verpflichtet. Er verweist u.a. auf Kant, der mit seinem "Kategorischen Imperativ" die Ethik von der moralischen Autorität der Kirche befreien wollte - andererseits verweist Vossenkuhl auf die Abhängigkeit der Ethik von der Sitte. Als grundlegende Ausrichtung seines Buches formuliert der Autor: "Ziel der Ethik als Konfliktwissenschaft ist es herauszufinden, wie ein gutes Leben in einem sozialen Ganzen trotz der vielfältigen Konflikte möglich ist."

Bereits in seiner Einleitung kommt Vossenkuhl auf recht kniffelige Fragestellungen hinsichtlich einer Zuverlässigkeit ethischer Entscheidungen und stellt "Überlegungen zur Objektivität ethischer Urteile" an. Das dabei entstandene Problem nennt der Autor die "Unbeständigkeit des Guten": weil wir nicht wissen können, ob etwas jetzt als "gut" Angenommenes auch in Zukunft "gut" sein wird - alle unsere Maßstäbe sind nur relativ und temporär! Nichtsdestotrotz gilt als Voraussetzung ethischer Entscheidungen, dass der Mensch frei sei! Ebenso spielt die Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter (!) eine wesentliche Rolle - da wir nun einmal als Materie existieren und dies in einem sozialen Verbund.

In mehreren Kapiteln widmet sich Vossenkuhl sehr differenziert unterschiedlichen Praxisfeldern, auf denen es zu ethischen Konflikten kommen kann: etwa das Verbot zu töten und der Wunsch zu sterben, die Todesstrafe oder die Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen. Immer wieder geht es Vossenkuhl um die "Verbindung zwischen universalen Ansprüchen einerseits und historisch, sozial und kulturell gewachsenen und sich verändernden Ansprüchen andererseits." Welche ethischen Normen überdauern die Zeiten und Gesellschaftsformen bzw. wie können individuelle und gesellschaftliche ethische Normen in Übereinstimmung gebracht werden - und dies mehr durch Einsicht und weniger durch Zwang. Dabei plädiert Vossenkuhl für eine "situative" Ethik, die sich wandelnden Situationen und Problemen gerecht werden kann. Wenn er sagt, eine "fixe, unveränderliche Regelung" sei nicht sinnvoll, dann widerspräche das ja auch der Religion.

Ein Gedanke erinnert an
Schiller ("Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet"): "Wenn sittliche Voraussetzungen ... durch politische Ideologien zerstört werden, wächst der Ethik die Aufgabe zu, ihre eigenen Geltungsbedingungen auf erzieherischem Weg wieder herzustellen." Kant spricht da ja von der "Praktischen Vernunft", die sozusagen als autonome Ethik wirksam wird. Vossenkuhl verschweigt auch nicht, dass es zu moralischem Dissens kommen kann bzw. zu normativer Überforderung, etwa bei der Frage der Organspende oder der Sterbehilfe. Dabei geht es quasi um den Übergang vom Sollen zum Wollen.

Wir erfahren, dass es eine wachsende Anzahl von Menschen gibt, "die nicht an Gott glauben und sich dennoch für ein moralisch integres Leben entscheiden." Freilich ist Religiosität nur eine von mehreren Möglichkeiten, sich moralisch zu verhalten. Der Mensch hat schließlich eine subjektive und eine intersubjektive Verantwortung. In diesem Zusammenhang diskutiert der Autor die Genmanipulation und das Klonen. Unsere Willensfreiheit (auch unsere Spontaneität) wird dadurch geschult, dass wir lernen, ständig auf neue Situationen einzugehen. Fraglich erscheint allerdings Vossenkuhls These, dass Ethik auch ohne Willensfreiheit möglich sei - das käme doch wohl eher einem banalen Nützlichkeitsdenken gleich.

In seinem eigentlich zentralen Kapitel "Das Gute, das Richtige und das gute Leben" versucht Vossenkuhl endlich, "das Gute" zu definieren. Es sei ein Ziel, eine Leitidee, ein Maßstab für alles Übrige. Überdies bezeichnet er das Gute als unbeständig und zukunftsorientiert - wir können jetzt noch nicht wissen, ob sich später eine Handlung tatsächlich als "gut" für die Menschen herausstellt. Der Autor findet eigentlich keine konkrete inhaltliche Definition, er spricht vom "vagen Charakter des Guten" und dem "moralischen Raum" und davon, "dass der Standard der Richtigkeit, der Maßstab der praktischen Vernunft, nur das Gute selbst sein kann.“

Statt einer sozusagen verlässlichen Bestimmung des Guten nachzugehen, schreibt der Autor im letzten Kapitel über das "gute Leben" und das Glück sowie über die "wechselseitige Ergänzung des qualitativen und des quantitativen Guten und der entsprechenden Güter." Wenn sich tatsächlich erweisen sollte, dass sich ethische Normen aus der Knappheit von Gütern als eine Art Verteilungsstrategie ergeben, dann wäre womöglich der ideelle Kernpunkt dieses Buches verschenkt. Das wäre doch etwas zuviel Brecht und zu wenig Schiller. Alles in allem ein grundsätzlich lesenswertes Buch, welches weiter hinten allerdings den konzentrierten Leser herausfordert, sich über den Begriff "gut" eigene Gedanken zu machen. Insofern referiert Vossenkuhl mehr über die Schwierigkeiten bei der Bestimmung einer eindeutigen Ethik und scheut sich eher Empfehlungen mit Verbindlichkeitscharakter auszusprechen.

(KS; 06/2006)


Wilhelm Vossenkuhl: "Die Möglichkeit des Guten"
C.H. Beck, 2006. 472 Seiten.
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Wilhelm Vossenkuhl ist Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.