Péter Esterházy: "Einführung in die schöne Literatur"
Progressiv universal
genial
Man könnte sprachlich quasi kontraproduktivistisch ausrufen:
"Dies ist das verrückteste Buch wo gibt!" Es ist umfangreicher als die Bibel und
besteht eigentlich aus mehreren Büchern, aus sämtlichen erdenklichen Textsorten,
durchmischt mit Grafik und Fotografie. Esterházy (Jg. 1950) sagt dazu: "Anfang
1978 sah ich plötzlich ein 'Gebäude' vor mir, ein 'Texthaus' - also ein Buch, an
dem ich dann bis 1985 arbeitete. Zuerst fing ich an, die einzelnen Räume zu
schreiben, die Zimmer, Säle, breiten Treppenhäuser. Als ich damit fertig war,
begann ich das große Gebäude zusammenzustellen, breite Querkorridore, Fenster,
kleine Gesimse, Leisten, Lappen, Zinnen" (vgl. Klappentext). Das klingt gerade
so, als sei dem Autor hier etwas gelungen wie ein gedruckter Hyperlinktext.
Freilich gibt es hier nichts anzuklicken, sondern nur ein sehr spartanisches
Inhaltsverzeichnis, unter dessen Vernachlässigung man sich einfach auf dieses
Schmökermeer begeben sollte - es trägt uns gehaltvoll, keine Bange. Allerdings
sollte man Bescheid sagen, wo man sich befindet, damit ein guter Freund uns alle
paar Stunden in die Realität zurückholt. Das Original erschien übrigens bereits
1986 in Budapest, an der deutschen Übersetzung haben mehrere Autoren
gearbeitet.
Man sollte nicht versuchen, dieses Monstrum an einem Stück zu
lesen - man müsste zwangsläufig wahnsinnig werden, weil es jeden zeitabhängigen
Horizont schlichtweg überfordert. Schon das erste Kapitel 'Flucht der Prosa'
mutet dadaistisch an, zumindest ähnlich expressionistisch wie Carl Einstein. Die
nur scheinbar banalen Assoziationen überschwemmen sich quasi gegenseitig, wie
auch die Textsorten und Druckbilder. Da sind auch "ver-rückte" Texte dabei, bei
denen man das Gefühl hat, man müsste sie eigentlich hören. Der Leser wird so
ziemlich auf jeder Seite (heraus)gefordert - die Lektüre ist zugegebenermaßen
anstrengend. Es ist als habe hier jemand den totalen Gegenentwurf zur
"BILD"-Zeitungs-Mentalität riskiert. Man fühlt sich als Leser ziemlich
überfordert, Sinn und Verstand zusammenzuhalten. Die Textsorten sind teilweise
avantgardistisch-überreizt oder aber technokratisch-verklemmt. Der Autor
parodiert Andere und auch sich selbst. Vieles wirkt eher hermetisch - und das
mit hämischer Überzeugung.
Und dann zwischendurch lapidare Sätze wie: "Es
gibt etwas, das vorbei ist, der Hunger nach
Gegenwart" - oder: "Wenn das Wort
explodiert, ist das die Tat." Esterházy spürt dem "Wirklichen" nach - allerdings
in einem labyrinthischen Universum. Er schreibt einen Roman, einen Schwank, ein
Märchen, ein Libretto, ein Tagebuch, einen Kommentar. Er ist dabei ein
schwadronierender auktorialer Erzähler mit hemmungsloser Fabulierlaune, der mit
allen Mitteln der Sprache spielt von konventionell bis dadaähnlich, von linear
bis verschachtelt, vom gewohnten Schriftbild bis zu Einschüben aus
typografischen Variationen und Grafiken. Das scheint die Vollendung des
Bewusstseinsstroms zu sein im Geiste der Romantik: progressive
Universalpoesie!
Wir erfahren schier nicht Endenwollendes über die
'Kleine Pornographie Ungarns', die 'Leichte Freiheit des Rausches' die
'Hilfsverben des Herzens'. Und Esterhazy zitiert "in wortwörtlicher oder in
verzerrter Form" Hunderte von Autoren, deren Namen er hinten alphabetisch
auflistet. Und wenn man nach 880 Seiten Lesemarathon schließlich zu lesen
bekommt: "Später werde ich über das alles Genaueres schreiben" - dann weiß man
in seinem Rezipienten-Delirium nicht mehr, ob einen das als Leser erfreuen oder
eigentlich erschrecken soll. Und die banausische Frage muss auch gestellt
werden: wer wird diesen Wälzer diszipliniert seitengetreu lesen?! Es ist ein
Buch für eine Elite, nichts für ungut.
(KS; 04/2006)
Péter
Esterházy: "Einführung in die schöne Literatur"
(Originaltitel "Bevezetes a Szépirodalomba bei Magvetö")
Aus dem Ungarischen von György
Buda, Zsuzsanna Gahse,
Angelika und Peter Maté,
Terézia
Mora und Hans-Hennig Paetzke.
Berlin Verlag, 2006. 891 Seiten.
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Zwei weitere Werke des
Autors:
"Harmonia Caelestis"
Péter Esterházys epochales Werk über
die Geschichte (s)einer Familie.
Péter Esterházy ist der große Erneuerer der
ungarischen Literatur, und sein Familienroman wurde schon kurz nach Erscheinen
in Ungarn als "Nationalepos" begrüßt. Das Buch hat zwei Teile. Der erste Teil
trägt den Untertitel "Nummerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy" und
ist ein Textmosaik aus Einzelgeschichten, Mythen und Legenden. Der zweite Teil
"Die Bekenntnisse einer Familie Esterházy" erzählt die Geschichte der
Aristokratenfamilie im 19. und 20. Jahrhundert. Das Historische ist dem Autor
eine Goldgrube der Sprache und Bilderwelt, der glorreichen und komischen
Anekdoten. (Berlin Verlag)
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Péter Esterházy: "Verbesserte Ausgabe"
Im Jänner des Jahres 2000 entdeckte Péter
Esterházy die Agentenakte seines geliebten Vaters, dem er
mit seinem weltweit gefeierten Roman "Harmonia Cælestis" ein
literarisches Denkmal gesetzt hatte. In "Verbesserte Ausgabe" berichtet
er von dieser persönlichen Tragödie - ein
literarisches Dokument von einer zeitgeschichtlichen Bedeutung weit
über Ungarn hinaus.
"Ich wußte sofort, worum es sich handelte. Ich
konnte nicht glauben, was ich sah. Rasch legte ich meine Hand auf den
Tisch, weil sie zu zittern begann ... Als ich das Dossier
öffnete, hatte ich sofort die Handschrift meines Vaters
erkannt."
So beginnt "Verbesserte Ausgabe", so beginnt eine Tragödie,
deren Veröffentlichung in Ungarn große Betroffenheit
auslöste. Kurz vor Abschluss seiner "Harmonia
Cælestis" war Esterházys Antrag auf Akteneinsicht
beim "Amt für Geschichte" - dem ungarischen Pendant zur
"Gauck-Behörde" - bewilligt worden. Aber statt einer
Stasi-Akte über ihn und seine Familie werden ihm vier
vergilbte Agentendossiers vorgelegt, in denen er die Handschrift seines
Vaters Mátyás erkennt: unter dem Decknamen
"Csanádi" hatte dieser von 1957 bis 1980
regelmäßig als inoffizieller Mitarbeiter an die
ungarische Geheimpolizei berichtet. Für den Autor bricht eine
Welt zusammen - denn mit "Harmonia Cælestis", dem weltweit
gefeierten "Familienroman", hatte er seinem geliebten Vater ein
literarisches Denkmal errichtet. In "Verbesserte Ausgabe" macht
Esterházy zahlreiche Passagen aus den Berichten seines
Vaters an die berüchtigte "Abteilung III/III" der ungarischen
Stasi zugänglich. Neben die dokumentarischen Auszüge
treten Zitate aus "Harmonia Cælestis", deren "Wahrheit" er an
dem neuen Befund misst, und Tagebuchaufzeichnungen seit der Zeit der
Enthüllung - anrührende Notate voller Scham und
Schmerz, in denen er seinen Vater betrauert und bedauert, aber nie
freispricht von Schuld. (Berlin)
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"Das Buch Hrabals"
Ein Roman
zu Ehren des Dichters Bohumil Hrabal, wie ihn nur Péter Esterházy schreiben
kann.
Wie in jedem richtigen Roman gibt es auch hier einige Personen, die dem
Leser zunehmend wichtig werden, so dass er den Tränen nahe ist, wenn er sich von
ihnen zum Schluss des Romans trennen muss. Péter Esterházy bietet: Den
tschechischen Schriftsteller
Bohumil Hrabal, über den der Autor einen Essay
schreiben soll, Anna, die diesen liebt, ferner den Schriftsteller, er ist der
Ehemann von Anna. Außerdem spielt noch der Herr eine Rolle. Zwischen diesen
wunderbaren Personen schwirren Engel umher; was aber
Engel sind, wird bestimmt
niemand leicht sagen können. In diesem schillernden, bewegten Bild von
Mitteleuropa tritt, wenn auch selten, noch eine Person auf. Sie heißt: Ich.
(Berlin Verlag)
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