Péter Esterházy:"Fancsikó und Pinta"
Kinder neigen dazu, tief in das Reich der Fantasie hinab zu steigen. Es ist ihnen ein Bedürfnis, eine eigene Welt zu entdecken und dort Geheimnisse anzusammeln. So lange die Fragwürdigkeit der von Bedingungen durchzogenen Subwelt noch nicht im Kopf manifestiert ist, wagen es die kleinen Erdenbürger, Symbole zu kreieren, die dazu gut sind, Diskrepanzen zwischen der Vorstellung und der wenig durchschaubaren Realität aufzuarbeiten. Der leider vor kurzem verstorbene Heinz von Förster gilt als Vater des Konstruktivismus. "Die Welt als Vorstellung" ist die Grundvoraussetzung der erfundenen Wirklichkeit. Ein Baum ist erst dann ein Baum, wenn er wahrgenommen, begriffen wird. Ist dies nicht gegeben, so existiert er eigentlich gar nicht. Jeder Mensch konstruiert sich seine eigene Welt, und "erfindet" sie Tag für Tag neu. Was für Kinder also eine Selbstverständlichkeit ist, die sich im Spielen und Inszenieren von Gegebenheiten ausdrückt, auf dass eine eigene, selbstregulierte Wirklichkeit entsteht, muss der meist von den Kindestagen abgeseilte "Erwachsene" neu die Wechselwirkung zwischen "Ich" und "Welt" entdecken.
Péter Esterházys Erstlingswerk, das er 1976 im Alter von nur 26 Jahren fertig gestellt hat, erzählt von dem Bruch zwischen den inszenatorischen und real geglaubten Weltverständnissen. Der Ich-Erzähler ist der Kopf, der die Welt um sich herum als Inszenierung versteht, die eine "Erwachsenen-Welt" suggeriert. Fancsikó und Pinta sind erfundene Figuren, die Geschehnisse dokumentieren und zu begreifen suchen, von denen das erzählende Kind-Ich aufgrund fehlender "Welterfahrung" sich keine eigene Vorstellung machen kann. Man könnte diese zwei unbeholfenen Clowns als vorauseilende Erkenntnisprozesse des reifenden Kindes verstehen. Dies zeigt sich deutlich darin, dass mitten in den Erzählsträngen eingewoben das groß gewordene Kind mit der Sexualität in Berührung kommt, und eine Hülle abzustreifen scheint, die es bislang an die Kindheit gebunden hat. Es versucht sich frei zu machen, und fällt doch nur wieder in ein Trauma zurück, das sich erst lösen kann, wenn die verschobenen Konturen der Erinnerungen sich in ein "Erwachsenen-Ich" einbinden lassen. Vorläufig gelingt dies nicht, denn das Kind kommt wieder zum Vorschein, und dies insbesondere in Bezug auf das Verhältnis zum Vater, welches von Spannungen durchzogen ist. Der Vater hat unzählige Affären, von denen das Kind weiß und dies nur durch die Altklugheit der beiden Clowns Fancsikó und Pinta in den Kontext eines verunsicherten Lebens zu bringen versteht. Im übrigen ist diese seltsame Beziehung zum Vater das eigentliche Trauma des Kindes, von dem es nie loszukommen scheint.
Es ist eine sehr "konstruierte" Sprache, die sich dem Leser eröffnet. Alles in diesem Buch scheint vorgezeichnet zu sein, und es gibt kein Prinzip, an dem sich der Text festsetzt. Die verschiedenen kleinen Exkurse in die inszenatorische Innenwelt des Ich-Erzählers prüfen jeweils die Banalität der Außenwelt, und scheitern an deren geringen Ansprüchen. Es gibt kein Entkommen aus der entstehenden Verwirrung, und das Kind muss sich letztlich einer Verantwortung geschlagen geben, die es ohnehin nicht erfüllen kann: Die Eltern in ihrem Verhältnis zueinander neu zu ermessen. Der Vater ist ein großer Abwesender, und die Abspaltung von der Kleinfamilie wird als Schock erlebt, der wiederum nur durch die Vorhut der Fantasie erträglich wird. Die Mutter spielt eine eher unwesentliche Rolle, da sie hauptsächlich im Spiegel der Eskapaden des Vaters wahrgenommen wird. Obzwar winzige kommunistische Reminiszenzen und ungarische Anklänge in die Erzählung eingebunden sind, handelt es sich doch in erster Linie um den Versuch des Kindes, die "ver-rückte" Außenwelt mit spielerischen Mitteln zu gestalten. Alles um den Erzähler herum ist ein Schauspiel, und die Menschen sind mehr oder weniger gute Akteure auf der Bühne unspektakulären, aber traurigen Lebens. Eine gewisse Komik kommt auf, wenn das Ei zu einem Symbol für die Potenz des Vaters erhoben wird.
Der Autor erklärte diese Erzählung als eine des Verlustes der Unschuld. Tatsächlich ist die Welt am Ende nicht mehr jene, die sie noch kurz vorher war. Fancsikó und Pinta sind wahrlich keine "Unschuldsengel", und somit durchleuchtet sich die gespiegelte Erkenntnis des Erzählers im Wagnis, den Engeln die Flügel zu stutzen und das Kind zu einem Flug ansetzen zu lassen, den es erst nach zahlreichen Bruchlandungen übersteht, da es wie ein Bauchredner zunächst Stimmen nur imitieren kann, ehe es einen Zugang zu sich selbst finden mag.
(Jürgen Heimlich; 10/2002)
Péter Esterházy:"Fancsikó und Pinta"
Aus
dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse.
Berlin Verlag, 2002. 143 Seiten.
ISBN
3-8270-0406-3.
ca. EUR 14,-.
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