H. P. Willmott: "Der Erste Weltkrieg"
Dulce et decorum est pro patria mori
H. P. Willmotts reich bebilderte Darstellung des Ersten Weltkriegs
Im
August 1914 begann der Erste Weltkrieg, ein Konflikt, zu dessen Beginn
sich wohl keiner der Gegner die weitreichenden politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Folgen hatte vorstellen können.
Schon ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, einer
fortschrittsgläubigen Periode relativen Friedens und
Wohlstands in Europa und der industriellen und kolonialen Expansion,
rüsteten die Großmächte für einen
über kurz oder lang unausweichlich scheinenden Krieg. Als die
Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz
Ferdinand in ganz Europa einen Strudel von Mobilmachungen und
Kriegserklärungen auslöste, glaubte jede Seite noch
an einen schnellen Sieg.
Junge
Männer aller Nationen zogen zumeist freiwillig und voller
Abenteuerlust ins Feld, getragen von einer Welle patriotischer
Begeisterung. "Wie nie fühlten Tausende und Hunderttausende
Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen
sollen: dass sie zusammengehörten", schrieb
Stefan Zweig in
seiner "Welt von Gestern".
Doch keine der Offensiven Deutschlands, Österreich-Ungarns,
Frankreichs, Großbritanniens oder Russlands brachte den
erhofften raschen Erfolg. Bald lagen sich die Heere vor allem im Westen
in einem unerbittlichen Stellungskrieg gegenüber, einer
endlosen Abfolge von Angriffen und Gegenangriffen, die allzu oft trotz
ungeheurer Verluste an Menschenleben am Ende nur ein paar Meter
Raumgewinn brachten. Neue, teilweise erst viel später zu
mörderischer Perfektion entwickelte Kriegsgeräte -
Maschinengewehre, Gas, Panzer, Flugzeuge, U-Boote - brachten ungeahnte
Schrecken über die Soldaten und verlangten nach manchmal nur
zögerlich eingeführten neuen Taktiken und Strategien.
Der Krieg, eigentlich ein aus dem Zusammenbruch der Beziehungen
zwischen den europäischen Großmächten
resultierender Konflikt, zog beinahe alle Weltregionen in
Mitleidenschaft. Australier und Neuseeländer kämpften
gegen das Osmanische Reich, Algerier, Tunesier und Marokkaner
verbluteten auf den Schlachtfeldern Frankreichs, der britische
Archäologe und Agent Thomas Edward Lawrence wurde als
"Lawrence von Arabien" an der Seite der Araber im Kampf gegen die
Türken zur Legende, Japaner eroberten deutsche Kolonien im
Fernen Osten, während sich deutsche Truppen in Afrika
verbissen gegen die überlegenen Briten behaupteten, und auch
die lange zumindest pro forma neutralen USA traten
schließlich 1917 auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein.
An der "Heimatfront" veränderte der Krieg das Alltagsleben der
Menschen dramatisch. Fern vom traditionellen "Kinder, Küche,
Kirche"-Weltbild mussten etwa nun Frauen in Fabriken und in der
Landwirtschaft, in Büros und im öffentlichen Dienst
die Lücken füllen, die der Fronteinsatz eines
Großteils der männlichen Bevölkerung
hinterließ - eine Entwicklung, welche die gesellschaftliche
Rolle der Frau nachhaltig veränderte. Trotz Rationierungen und
Zuteilungskarten machte die Lebensmittelknappheit allen vom Krieg
betroffenen Nationen schwer zu schaffen. Endloses Schlangestehen und
ein florierender Schwarzmarkt bestimmte den Alltag in den
Städten, der Hunger machte die Menschen für
Krankheiten anfälliger und verstärkte die nach Ende
oder auch schon während des Krieges oftmals gewaltsam
ausbrechenden sozialen Spannungen.
Die Kriegsanstrengungen schufen auch den modernen Staat, der in einem
bis dahin unbekannten Maß in das Leben der Menschen eingriff.
Neue Instrumente zur Kontrolle und Lenkung der Wirtschaft und der
Bevölkerung mussten entwickelt werden, um dauerhaft Armeen in
Millionenstärke organisieren, versorgen und propagandistisch
unterstützen zu können.
Als der Krieg schließlich 1918 mit einem Sieg der Alliierten
endete, waren an die 10 Millionen Soldaten tot, rund 20 Millionen
verwundet. Nach den ebenfalls in die Millionen gehenden zivilen Opfern
des Krieges wütete 1918 und 1919 rund um den Erdball auch die
Spanische Grippe unter der Bevölkerung - neben 62 000
Amerikanern, mehr als bei Kampfhandlungen umgekommen waren, starben
zwischen 21 und 25 Millionen der unterernährten
Europäer.
Die Überlebenden ließ der Krieg desillusioniert und
in einem sich verschlimmernden Klima des Hasses zwischen Nationen,
Klassen und Rassen zurück. Die großen Reiche der
Vorkriegszeit lösten sich auf, neue Staaten und Staatsformen
traten an ihre Stelle. Der Aufstieg der USA zur Supermacht begann
ebenso wie die Konfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus; die
Gründung des Völkerbundes legte den Grundstein
für den Gedanken der friedlichen internationalen
Zusammenarbeit, wie ihn heute die Vereinten Nationen mit wechselndem
Erfolg zu verwirklichen versuchen.
Doch mit den Grundlagen der heutigen Weltordnung schufen der Erste
Weltkrieg und die auf ihn folgende Neuordnung Europas auch die Basis
für weitere schreckliche Jahrzehnte. "Hätte der Erste
Weltkrieg verhindert werden können", urteilt der prominente
Historiker Richard Overy, "wären der Welt sehr wahrscheinlich
die Schrecken des Bürgerkrieges, des politischen Terrors, der
zweite totale Krieg und die Völkermorde der 1930er und 1940er
Jahre erspart geblieben."
Diesem zu Recht als das einschneidendste Ereignis der Moderne geltenden
ersten globalen Konflikt ist das neue Buch des britischen
Militärhistorikers H. P. Willmott gewidmet. Der international
anerkannte Experte für die Geschichte der
Kriegsführung im 20. Jahrhundert lehrt seit vielen Jahren an
Universitäten und Militärakademien in England und
Amerika und hat sich mit zahlreichen Publikationen einen Namen in der
Fachwelt gemacht.
Sein nun erschienenes
Buch über den Ersten Weltkrieg ist der
gelungene Versuch einer im besten Sinne
populärwissenschaftlichen, also fundierten, zugleich aber
leicht verständlichen Darstellung der Kampfhandlungen von 1914
bis 1918 und ihrer Hintergründe, Ursachen und Folgen. In
kurzen, reich illustrierten Kapiteln schildert Willmott nicht nur
umfassend und anschaulich den Verlauf der fürchterlichen
Schlachten, die Strategien und Ziele der Kommandierenden und die
Entwicklung neuer Waffentechniken zu Lande, zur See und in der Luft,
sondern gibt auch dem Leben und Sterben der Soldaten und dem
mühsamen Alltag fern der Front gebührenden Raum.
Karten, Ablaufdiagramme und tabellarische Überblicke helfen
dem Leser, das komplexe militärische und politische Geschehen
zu erfassen. Ganz in der Tradition des Dorling Kindersley Verlages,
unter dessen Ägide das Buch entstanden ist, macht auch eine
Fülle von dokumentarischem Bildmaterial und kommentierten
Abbildungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs
von Soldaten und der Zivilbevölkerung, von Waffen bis zu
Ersatzkaffee aus Löwenzahnwurzeln und Graupen, eine vergangene
Zeit besser greifbar.
Besonders beeindrucken die ebenfalls kurz angerissenen
künstlerischen Werke, die unter dem Eindruck des Ersten
Weltkrieges entstanden sind. Maler wie Fernand Léger oder
Otto Dix, Schriftsteller wie
Erich
Maria Remarque, Georg
Trakl, Siegfried Sassoon oder
Wilfred Owen, der
nur einige Tage vor dem Waffenstillstand fiel, setzten sich in Bildern,
Gedichten und Romanen mit ihren Erlebnissen auseinander. Ihr Schaffen
macht, ebenso wie zahlreiche in Willmotts empfehlenswertem Buch
zitierte Auszüge aus Briefen und Tagebüchern
einfacher Soldaten, das unabhängig von Nationalität
oder politischer Einstellung als traumatisch erlebte Grauen dieses
ersten globalen Krieges eindringlich fühlbar.
(sb; 10/2004)
H. P. Willmott: "Der Erste Weltkrieg"
(Originaltitel "First World War")
Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber.
Gerstenberg, 2004. 319 Seiten.
ISBN 3-8067-2549-7.
ca. EUR 40,10.
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