Joanna Olczak-Ronikier: "Im Garten der Erinnerung"
Eine europäische Jahrhundertfamilie
In
Polen schon im Jahr 2002 mit enormem Echo im dortigen Feuilleton
erschienen und kurze Zeit später mit dem renommierten und
prestigeträchtigen Literaturpreis "Nike" ausgezeichnet, legte
anno 2006 der Aufbau-Verlag die Aufzeichnungen von Joanna
Olczak-Ronikier in einer soliden und gelungenen Übersetzung
von Karin Wolff vor. Unter dem Titel "Im Garten der Erinnerung"
beschreibt die 1934 geborene Journalistin, Dramatikerin und
Drehbuchautorin die Geschichte ihrer Familie. Gestützt auf
Briefe, Memoiren und unzählige Fotos zeichnet sie
zunächst den Lebensweg ihrer Urgroßmutter Julia
Horwitz nach. Diese war Mutter von neun Kindern, früh
verwitwet, eine mutige und entschlossene Frau, deren Lebensmotto "Kopf
hoch!" noch lange Zeit nach ihrem Tod die ihr nachfolgenden
Generationen begleitete und in bestimmten Situationen und schweren
Zeiten nicht aufgeben ließ.
Die in diesem Buch geschilderten Familienporträts umfassen
einen Zeitraum von 140 Jahren und insgesamt vier Generationen. Die
Autorin sammelt nicht nur Daten, Geschichten und Anekdoten einer
Vielzahl wahrhaft interessanter und nicht selten auch berühmt
gewordener Menschen, sondern zeichnet auch ein beeindruckendes
sozialhistorisches Bild einer Epoche, vom Ende des 19. Jahrhunderts an,
geprägt von der Russifizierungspolitik des Zarismus, ein Bild,
das den Ersten Weltkrieg, den Überfall Deutschlands auf Polen
1939, den Hitler-Stalin-Pakt mit der erneuten Aufteilung Polens, den
Holocaust und die anschließende Flucht beschreibt.
Ein solcher Versuch ist riskant, aber er ist der Autorin voll und ganz
geglückt. In einer sensiblen Sprache, die von großer
Hochachtung vor den beschriebenen Personen geprägt ist,
gelingt es ihr, den Leser über weite Teile des Buchs
regelrecht gefangen zu nehmen und ihn zum Nachdenken zu bringen.
Und so ist dieser Familienbericht ein wahres Hohelied auf das den
Einzelnen gegebene oder geschenkte Leben und vermag dem heutigen Leser
auf begrenztem Raum ein farbenreiches und differenziertes Bild von
Geschichte zu vermitteln, wie es ein noch so gut geschriebener Abriss
der Historie nicht hätte schaffen können.
Dem außerordentlichen schriftstellerischen Können
der Autorin verdankt der Leser ein wohltuend unaufgeregt angelegtes,
aber umso nachdenklicher machendes Arrangement der aufgehobenen,
geretteten bzw. wundersam wieder aufgetauchten Dokumente aus dem Leben
einer wirklich außergewöhnlichen jüdischen
Familie.
Man begegnet dem französischen Ingenieur und Autobauer Andre
Citroën als Ahn mütterlicherseits. Auch Gustaw
Bychowski, dem angesehenen und weit über die Grenzen Polens
geschätzten Psychoanalytiker, dessen abenteuerliche Flucht vor
den Nazis mit der Transsibirischen Eisenbahn über Japan in die
USA geschildert wird. Vor dem Krieg ist kein Anderer Hausarzt der
Familie als der später durch sein engagiertes Eintreten
für die Kinder im Warschauer Ghetto und seine
pädagogischen Werke so berühmt gewordene Janusz
Korczak.
Doch im absoluten Mittelpunkt dieses Buches stehen zwei
Frauenpersönlichkeiten. Da ist zunächst die
Urgroßmutter der Autorin, Julia Horwitz (1845-1912), die nach
dem frühen Tod des peinlich auf Wiener Kultur und deutsche
Sprache achtenden Ehemanns und neunfachen Familienvaters den
großen Willen aufbrachte, ihre Kinder nachdrücklich
und entschieden an die ihr vertraute polnische Kultur und Umgebung zu
gewöhnen. Typisch für eine auf Assimilation bedachte
jüdische Familie wird nur noch Polnisch gesprochen.
Die zweite Heldin des Buchs ist die Großmutter der Autorin,
Janina (1873-1960), die Jakub Mortkowicz heiratete, einen in den
Zwischenkriegszeiten über die Grenzen Polens hinaus bekannten
und der Sache Polens bedingungslos ergebenen Verleger. Als er durch die
Weltwirtschaftskrise in ökonomische Not gerät, nimmt
er sich 1931 das Leben. Seine Frau und seine Tochter führen
den Verlag bis 1940 weiter, als sie sich mit Hilfe zahlreicher
wunderbarer Menschen vor den Nazis retten können. Auch das
Leben der vielen anderen Familienmitglieder, die sich nicht retten
konnten, wird ausführlich beschrieben und gewürdigt.
Sie wurden nicht nur Opfer der Nazis, etliche starben auch in
sowjetischen Lagern.
Gerade weil die Autorin jeglicher ideellen Sympathie für den
Sozialismus sowjetischer Prägung fern steht und immer fern
stand, ist ihr mit der Schilderung und Darstellung der Lebenslinien
ihrer durch eigenen Willen
in die Sowjetunion verschlagenen
Familienangehörigen eine Würdigung der besonderen Art
gelungen.
Eindrücklich schildert Joanna Olczak-Ronikier die
Okkupationszeit, die sie als kleines Mädchen getrennt von
Mutter und Großmutter dank der mutigen Bewohner eines
Nonnenklosters überstand. Ihre Mutter und Großmutter
durchlebten vergleichsweise die Hölle, versteckten sich ein
Dreivierteljahr in einer kleinen Kammer, ohne je einen Schritt heraus
machen zu können. In dieser Zeit schrieb die Mutter der
Autorin ihren letzten Willen auf, der der Tochter später
Quelle und Ansporn für dieses einzigartige Buch wurde, das man
im Wissen aus der Hand legt, sehr viel über Polen, seine
Geschichte, seine Literaten und
über das Judentum erfahren zu
haben.
(Winfried Stanzick; 01/2007)
Joanna
Olczak-Ronikier: "Im Garten der Erinnerung. Eine europäische
Jahrhundertfamilie"
Aus dem Polnischen von Karin Wolff.
Aufbau-Verlag, 2006. 447 Seiten.
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