Epikur: "Wege zum Glück"
"In Ehren halten muss man das sittlich Gute, die Tugenden und dergleichen, wenn sie Lust verschaffen; sollten sie aber keine Lust bereiten, dann muss man auf sie verzichten."
(Epikur; Athen. 546 F = 70 Us.)
Der Mensch ist in erster Linie
dazu geschaffen, sich seines Lebens zu erfreuen. Und hierfür
bedarf es lediglich einer Existenzweise der richtigen
Maßhaltung, die sich selbstgenügsam mit dem
bescheidet, was die Natur des Menschen für sich fordert.
Bedürfnis- und Seinsorientierung (statt Besitz- und
Habensorientierung) meint jetzt sicher nicht, das Leben eines Asketen
zu führen, doch gilt es in erster Linie zu erkennen, wessen
man nicht bedarf und wessen man wirklich bedarf. Freuden, deren
Erlangung so aufwendig ist, dass sie das Leben verzehrt,
zerstören einen jeden Glücksanspruch. Man wird zum
Sklaven seiner eigenen Maßlosigkeit. (Tasso; 07/2003) Epikur: "Wege zum Glück"
Es war Epikurs erklärte Zielsetzung, den Menschen
über seine Philosophie zum irdischen Glück zu
geleiten, wofür er nicht müde wurde, ein Leben in
Übereinstimmung mit der Natur zu predigen. Lebensphilosophie
pur! Leben nach dem ökologischen Prinzip. Ein Denkansatz von
wahrlich zeitlosem Gehalt.
Epikur (341-270 v. Chr.) gilt für gemeinhin als
philosophischer Kontrahent
Platons
(427-347 v. Chr.) bzw. als Widerpart zu dessen weltabgehobener
Ideenlehre. In dieser platonischen Ideenlehre wird ein Reich
immaterieller, ewiger und unveränderlicher Wesenheiten, der
Ideen, angenommen, die sodann, in der "Zwei-Welten-Theorie", der Welt
des Vergänglichen ontologisch aber auch ethisch (!)
übergeordnet wird. Die selbst vernunftlose Natur wird einem
Weltbildner untergeordnet, dem Demiurgen, welcher den Kosmos planvoll
gestaltet und - einem vollkommenen Urbild entsprechend - in
natürliche Harmonie setzt.
Mit aller Schärfe widerspricht Epikur dieser platonischen
These eines transzendenten Schöpfergottes. Es wurden
Bücher über die Götter und die
Frömmigkeit geschrieben, und dieses ist "verworrenes Zeug und
nichts Vernünftiges, sondern völlig Abgedrehtes" (so
Epikur). Nichtsdestotrotz entsorgt Epikur den Götterhimmel
nicht einfach auf den Misthaufen fantastischer Abfallprodukte
intellektueller Fabulierlust, sondern konserviert ihn als typisch
menschliche Tatsache: Götter / Gott gibt es, weil die Natur
selbst eine Vorstellung (einen "Vorbegriff") davon in die Seelen aller
Menschen eingeprägt hat. "Worin aber die Natur aller Menschen
übereinstimmt, das ist zwangsläufig wahr."
Der Mensch als Vermittlungsinstanz zwischen Natur und Gott. Wobei Gott
die außerordentliche Natur sei, im Vergleich mit der es
nichts Besseres geben könne. Ähnlich spricht heute so
mancher christliche Theologe wenn es darum geht, die Existenz Gottes
irgendwie, und somit vermittels des sozialgeschichtlich
verbürgten menschlichen Bedürfnisses nach
Transzendenz, zu plausibilisieren. Gott als archetypische Kreatur einer
kollektiven Bewusstseinsbefindlichkeit, dessen Realität
folglich zumindest psychologisch erwiesen ist. Doch lassen wir uns
nicht täuschen, denn der Gottesbegriff Epikurs ist und bleibt
dem Menschen fern und wirkt lediglich in seiner Vorbildhaftigkeit auf
die Welt des Irdischen zurück. Handelt es sich bei Gott
beziehungsweise den Göttern doch um absolut
glückselige Wesenheiten, die wahrlich Besseres zu tun haben,
als über die moralische Integrität ferner Erdenwesen
zu wachen und zeitweilig mit himmlischem Zorn den Sündigen
heimzusuchen. Es gilt der göttlichen Vollkommenheit in den
Grenzen irdischer Sterblichkeit nachzueifern, ihr, ob ihrer
ungetrübten Glückseligkeit, Anbetung zu erbieten,
doch, so meint der frühe Aufklärer Epikur,
fürchten muss man sie nicht. Denn jede abergläubische
Furchtsamkeit erübrigt sich, wenn Götter - ihres
glückseligen Gleichmuts wegen - weder geneigt sind zu
intervenieren, noch die Absicht hegen, jemals über das
weltliche Tun und Lassen zu Gericht zu sitzen. Es gibt weder ein
Fegefeuer, noch eine Hölle oder irgendein anderes
hinterweltliches Danach und Jenseits, deswegen man im Hier und Jetzt
freudlosen Tugenden frönen müsste. Viel eher, mit dem
Tod ist alles vorbei, und wer sein Leben bis dahin verpasst hat, der
hat es endgültig verpasst. Religion, in ihrer
üblichen Spielart innerweltlicher Askese, ist einfach nichts
als dumpfer Aberglaube und in Hinblick auf die solcherart erwirkte
Lustvermeidung ein grober Unfug. "Wir halten die
Lebensentwürfe für vulgär und plump, die
nicht auf ein glückliches Leben zielen." (Philod. pragm. = 74
Ar.) - Bei der religiösen Praxis handelt es sich demnach um
eine irregeleitete Verschwendung von allemal sowieso knapp bemessener
Lebenszeit, die man ebenso im maßvollen Genuss hinbringen
könnte. Ein toter Organismus verwest nur noch. Und mit ihm
eine jede Illusion von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Ein
Standpunkt übrigens, welcher die epikureische Theologie seit
jeher auch für materialistische Atheisten attraktiv machte,
hingegen Anhänger eines patriarchalisch-fürsorglichen
Gottesbildes - wohl wissend warum - ihre helle Freude daran hatten,
Epikurs Lehre von "zuständlicher Lust", Seelenruhe und
Freiheit von Schmerz und Furcht, seine Ethik des "passiven Hedonismus",
in böswilliger Absicht mit Schlemmerei, Egoismus und
Ausschweifung gleichzusetzen. Was einem "radikalen Hedonismus"
entsprechen würde, dessen zügellosen Begierden Epikur
allerdings Zeit seines Lebens mit Vehemenz entgegengetreten war.
Es ist sicherlich nicht völlig verfehlt, in Epikur einen
frühen Verfechter einer Praxis des "ökologischen
Nonkonformismus" zu erkennen. Epikur gilt zwar als prototypischer
Hedonist (Hedonismus = Genuss als Sinn und Ziel allen Handelns), doch
definierte sich sein Begriff der Lustorientierung primär aus
der akzentuierten Negation von Unlust, und er verstand unter dem
Streben nach Glückseligkeit (Eudämonie) in erster
Linie eine bedürfnisorientierte Lebensführung in
Übereinstimmung mit der Natur. Hierzu zwei bezeichnende
Textzitate:
"Wenn du in Übereinstimmung mit der Natur lebst, wirst du
niemals arm sein: wenn du nach den üblichen Meinungen lebst,
wirst du niemals reich sein." (Sen. ep. 16,7 = 201 Us.)
"Wer also der Natur folgt und nicht den leeren Meinungen, ist in jeder
Hinsicht selbstgenügsam. Denn im Blick auf das der Natur
Genügende ist jeder Besitz Reichtum; im Blick auf die
grenzenlosen Wünsche ist selbst der größte
Reichtum Armut." (Porph. ad Marc. 27 = 202 Us.)
Es gilt also, der grenzenlosen Begierden Herr zu werden, die das Leben
des Menschen knechten, ihn abhetzen und mit Angst erfüllen.
Und insbesondere gilt es in diesem Zusammenhang die Angst vor dem
Sterben (die Begierde nach unendlichem Leben) über eine
kompromisslose Bejahung des Lebens zu überwinden: "Der Tod
geht uns nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod noch nicht da;
aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr (nach Diogenes Leartius,
X, 125)." Eine Einsicht in das Wesen von Leben und Tod, ob derer Erich
Fromm in seinem Standardwerk
"Haben
oder Sein" den griechischen Philosophen explizit - mit obigem
Zitat - zur lobenden Würdigung erwähnte.
Die Wirkungsgeschichte des - zu Lebzeiten selbst keineswegs
missionarisch agierenden - Philosophen der Lebensfreude fand und findet
bis in unsere Tage hinein in vielerlei Gestalt ihren Nachhall. Eine
besondere Erwähnung verdient sich in diesem Zusammenhang der
amerikanische Philosoph und Menschenrechtsaktivist Henry David Thoreau,
der sich mit seinem philosophischen Experiment
"Walden"
in einem gewissen Sinne als radikaler Epikuräer erwies,
wenngleich Epikur selbst den asketisch-weltflüchtigen
Charakter einer zeitweiligen Einsiedelei, in der Wildnis fernab
zivilisatorisch vermittelter Wohltaten, vermutlich als
überzogen verworfen hätte. Und jeder und jede, der
und die sich heute einer - längst schon zur Tugend
überhöhten - selbstbetäubenden
Konsummentalität versagen und sich stattdessen einem
naturnahen Leben zuwenden, sind im Grunde genommen Söhne und
Töchter im Geiste Epikurs.
Mit Fug und Recht darf man in der Person des griechischen Philosophen
einen der Urahnen der modernen Ökologiebewegung erkennen,
obgleich zu seiner Zeit die ökologische Krise noch kein Thema
war. Sein sinngemäß zum Ausdruck gebrachtes
"Zurück zur Natur" ist im Grunde nicht weniger konsequent als
der gleichlautende Appell eines
Jean-Jacques
Rousseau, nur dass uns bei
Epikur ein gerütteltes Maß an weltfremder
Schwärmerei erspart bleibt. Epikur ist maßvoll und
deswegen auch lebbar. Und er hat seine Philosophie der
Selbstgenügsamkeit auch selbst in seinem Athener Garten
vorgelebt, dem örtlichen Zentrum der von ihm geleiteten
philosophischen Gemeinschaft, welcher übrigens auch
Angehörige des weiblichen Geschlechts zugehörten. Man
ergötzte sich in Epikurs Garten gemeinsam an den kleinen
Freuden einer bescheidenen Lebensführung. Für mehr
reichte es in der Regel nicht, und mehr war im Grunde auch nicht
gewollt: "Ich genieße meine körperlichen
Lustgefühle in vollen Zügen, während ich
Wasser und Brot zu mir nehme, und ich spucke auf die Freuden, die durch
übermäßigen Aufwand erzeugt werden, nicht
wegen der Freuden an sich, sondern wegen der Beschwerden, die ihnen
unweigerlich folgen." (Stob. 3,17,33 = 181 Us.)
Mit gesellschaftlichen Normen kritiklos konform zu gehen bedeutet
heute, eine Lebenspraxis der Selbstentfremdung in Kauf zu nehmen und
einem radikalen Hedonismus zu frönen, der den Menschen in
ebenso kurzweilige wie verflachende Gelüste stürzt.
Soziologen sprechen bezüglich gegenwärtiger
Lebensverhältnisse gelegentlich von einer
Spaßgesellschaft, in welcher "leichtfertiges Spielen statt
Denken" die oberste Verhaltensmaxime darstellt. Dem ist bei Wahrung
eines Mindestmaßes von Verantwortung gegenüber den
Mitgeschöpfen dieser Erde mit Entschiedenheit entgegen zu
wirken. Ein Gebot epikureischer Ethik. Vernunftbestimmt handeln, wo
sonst nur noch aus Selbstzweck gehandelt wird, den längst
schon überdrehten Lebenstakt entschleunigen und missachten,
was missachtenswert ist. Frei von Unwohlsein werden und solcherart
Lusterfüllung zu erlangen, das ist das Programm der
epikureischen Heilsphilosophie, welche in ihrer ganzheitlichen
Dimension aus Kanonik, Physik und Ethik mehr als nur eine Sammlung
lebenskundlicher Ratschläge ist. Es lohnt, sich näher
damit zu befassen und seinen Lebensvollzug in diesem Sinne zu
überdenken und neu zu orientieren.
Die bei Patmos erschienene Textsammlung ("Fragmente", "Briefe",
"Maßgebende Sätze", "Vatikanische Spruchsammlung")
ermöglicht dem Interessierten eine eingehende Vertiefung in
die Gedankenwelt Epikurs, wobei sämtliche Texte in
lateinischer oder griechischer Originalsprache sowie in deutscher
Übersetzung abgedruckt sind. Zur Einführung in das
philosophische Denken Epikurs findet sich im Anhang des Buches ein
Aufsatz des Herausgebers der Textsammlung, zum besseren
Verständnis des Gegenstands und mit kritischem Bezug zu
Erscheinungen der Gegenwartsgesellschaft. Der apodiktische Charakter
des Schreibstils Epikurs wird vielleicht so manchen Leser
überraschen, doch war es eben nicht des Philosophen Absicht
seine Ansichten ausschweifend und mit wortgewandter Raffinesse
darzulegen, sondern knapp und griffig sei die Lehre formuliert, so dass
sich jedermann rasch damit vertraut machen kann, ohne dabei von
Wortartistik abgelenkt zu werden. Der sprachlichen Form nach handelt es
sich um aphoristische Minutenlektüre, die sich an den
Heilssuchenden adressiert, welcher sein gewohntes Leben satt hat, der
jedoch selbst in der Lektüre von klassischer Philosophie weder
geübt ist, noch es ihm möglich ist, besonders viel
Zeit dafür zu erübrigen, sich in umfassendere
Theorien einzulesen. Man könnte nun fast meinen, dass Epikurs
Zielsetzung mehr medizinischer denn philosophischer Natur ist.
Jedenfalls handelt es sich um eine Philosophie mit therapeutischem
Zweck, die nicht gefallen, sondern helfen will. Eine therapeutische
Philosophie und dadurch zugleich ein frühes Werk der
Aufklärung, das den Menschen dazu beruft, von seiner
Verstandeskraft Gebrauch zu machen, mündig zu werden und sein
Leben nach Vernunftkriterien einzurichten. Epikurs Philosophie ist ein
einziger "Appell an die Vernunft" und insoweit
voll der brisanten
Bezüglichkeiten zur Jetztzeit. Diese Philosophie
ist, nach Meinung des Herausgebers Rainer Nickels, nicht zuletzt eine
Mahnung, angesichts der heutzutage elektronisch geprägten
Lebenswirklichkeit (Internet) wirkliche Gedanken auszutauschen, statt
einfach nur Unmengen von Daten zu produzieren, eine Datenflut, die auf
dem Informations-Highway mit Millisekundengeschwindigkeit ausgetauscht
wird und deren Informationsgehalt in Hinblick auf die eigentliche
Existenzproblematik menschlichen Lebens nichtssagend ist.
Epikurs aufgeklärter Hedonismus empfiehlt dem Menschen, seine
Geisteskraft vorrangig zur Erhaltung und Steigerung der
Lebensqualität zu verwenden, anstatt sie an sinnlose, rein
mengenmäßig vermittelte, Eskapaden zu verschwenden.
Eine grundsätzliche Kritik an dem alle Gesellschaftsbereiche
durchdringenden Wachstumsfetisch unserer Tage. Die Produktion von
gehaltlosen Unmengen ist unartig und sinnlos. Und ein Mensch, welcher
der natürlichen Tugend der Selbstgenügsamkeit
entfremdet ist, welcher die Unmenge wuchern lässt, der wird
selbst noch im größten Reichtum dem Elend verfallen
sein. Bleibt ihm doch, von wegen seiner Habensorientierung, ein Leben
in Übereinstimmung mit der Natur verschlossen. Er wird ein
Leben bar des höchsten Gutes, d. h. der Lust, führen.
Und der Gram darüber wird ihn in einen bösartigen
Widerling verwandeln, in ein dauerhaftes und grenzenloses
Übel, welches der Menschen Zusammenleben vergiftet. Ihm sei,
mit Epikurs Worten gesprochen, nur ein Einziges geraten: "Du musst der
Philosophie dienen, damit dir die wahre
Freiheit gelingt." (Sen. ep.
8,7 = 199 Us.)
Herausgegeben
und neu übersetzt von Rainer Nickel.
Artemis
& Winkler, 2003. 300 Seiten.
ISBN 3-7608-1731-9.
ca. EUR 29,80.
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