Epikur: "Wege zum Glück"

"In Ehren halten muss man das sittlich Gute, die Tugenden und dergleichen, wenn sie Lust verschaffen; sollten sie aber keine Lust bereiten, dann muss man auf sie verzichten."

(Epikur; Athen. 546 F = 70 Us.)


Der Mensch ist in erster Linie dazu geschaffen, sich seines Lebens zu erfreuen. Und hierfür bedarf es lediglich einer Existenzweise der richtigen Maßhaltung, die sich selbstgenügsam mit dem bescheidet, was die Natur des Menschen für sich fordert. Bedürfnis- und Seinsorientierung (statt Besitz- und Habensorientierung) meint jetzt sicher nicht, das Leben eines Asketen zu führen, doch gilt es in erster Linie zu erkennen, wessen man nicht bedarf und wessen man wirklich bedarf. Freuden, deren Erlangung so aufwendig ist, dass sie das Leben verzehrt, zerstören einen jeden Glücksanspruch. Man wird zum Sklaven seiner eigenen Maßlosigkeit.

Es war Epikurs erklärte Zielsetzung, den Menschen über seine Philosophie zum irdischen Glück zu geleiten, wofür er nicht müde wurde, ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur zu predigen. Lebensphilosophie pur! Leben nach dem ökologischen Prinzip. Ein Denkansatz von wahrlich zeitlosem Gehalt.

Epikur (341-270 v. Chr.) gilt für gemeinhin als philosophischer Kontrahent Platons (427-347 v. Chr.) bzw. als Widerpart zu dessen weltabgehobener Ideenlehre. In dieser platonischen Ideenlehre wird ein Reich immaterieller, ewiger und unveränderlicher Wesenheiten, der Ideen, angenommen, die sodann, in der "Zwei-Welten-Theorie", der Welt des Vergänglichen ontologisch aber auch ethisch (!) übergeordnet wird. Die selbst vernunftlose Natur wird einem Weltbildner untergeordnet, dem Demiurgen, welcher den Kosmos planvoll gestaltet und - einem vollkommenen Urbild entsprechend - in natürliche Harmonie setzt.

Mit aller Schärfe widerspricht Epikur dieser platonischen These eines transzendenten Schöpfergottes. Es wurden Bücher über die Götter und die Frömmigkeit geschrieben, und dieses ist "verworrenes Zeug und nichts Vernünftiges, sondern völlig Abgedrehtes" (so Epikur). Nichtsdestotrotz entsorgt Epikur den Götterhimmel nicht einfach auf den Misthaufen fantastischer Abfallprodukte intellektueller Fabulierlust, sondern konserviert ihn als typisch menschliche Tatsache: Götter / Gott gibt es, weil die Natur selbst eine Vorstellung (einen "Vorbegriff") davon in die Seelen aller Menschen eingeprägt hat. "Worin aber die Natur aller Menschen übereinstimmt, das ist zwangsläufig wahr."

Der Mensch als Vermittlungsinstanz zwischen Natur und Gott. Wobei Gott die außerordentliche Natur sei, im Vergleich mit der es nichts Besseres geben könne. Ähnlich spricht heute so mancher christliche Theologe wenn es darum geht, die Existenz Gottes irgendwie, und somit vermittels des sozialgeschichtlich verbürgten menschlichen Bedürfnisses nach Transzendenz, zu plausibilisieren. Gott als archetypische Kreatur einer kollektiven Bewusstseinsbefindlichkeit, dessen Realität folglich zumindest psychologisch erwiesen ist. Doch lassen wir uns nicht täuschen, denn der Gottesbegriff Epikurs ist und bleibt dem Menschen fern und wirkt lediglich in seiner Vorbildhaftigkeit auf die Welt des Irdischen zurück. Handelt es sich bei Gott beziehungsweise den Göttern doch um absolut glückselige Wesenheiten, die wahrlich Besseres zu tun haben, als über die moralische Integrität ferner Erdenwesen zu wachen und zeitweilig mit himmlischem Zorn den Sündigen heimzusuchen. Es gilt der göttlichen Vollkommenheit in den Grenzen irdischer Sterblichkeit nachzueifern, ihr, ob ihrer ungetrübten Glückseligkeit, Anbetung zu erbieten, doch, so meint der frühe Aufklärer Epikur, fürchten muss man sie nicht. Denn jede abergläubische Furchtsamkeit erübrigt sich, wenn Götter - ihres glückseligen Gleichmuts wegen - weder geneigt sind zu intervenieren, noch die Absicht hegen, jemals über das weltliche Tun und Lassen zu Gericht zu sitzen. Es gibt weder ein Fegefeuer, noch eine Hölle oder irgendein anderes hinterweltliches Danach und Jenseits, deswegen man im Hier und Jetzt freudlosen Tugenden frönen müsste. Viel eher, mit dem Tod ist alles vorbei, und wer sein Leben bis dahin verpasst hat, der hat es endgültig verpasst. Religion, in ihrer üblichen Spielart innerweltlicher Askese, ist einfach nichts als dumpfer Aberglaube und in Hinblick auf die solcherart erwirkte Lustvermeidung ein grober Unfug. "Wir halten die Lebensentwürfe für vulgär und plump, die nicht auf ein glückliches Leben zielen." (Philod. pragm. = 74 Ar.) - Bei der religiösen Praxis handelt es sich demnach um eine irregeleitete Verschwendung von allemal sowieso knapp bemessener Lebenszeit, die man ebenso im maßvollen Genuss hinbringen könnte. Ein toter Organismus verwest nur noch. Und mit ihm eine jede Illusion von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Ein Standpunkt übrigens, welcher die epikureische Theologie seit jeher auch für materialistische Atheisten attraktiv machte, hingegen Anhänger eines patriarchalisch-fürsorglichen Gottesbildes - wohl wissend warum - ihre helle Freude daran hatten, Epikurs Lehre von "zuständlicher Lust", Seelenruhe und Freiheit von Schmerz und Furcht, seine Ethik des "passiven Hedonismus", in böswilliger Absicht mit Schlemmerei, Egoismus und Ausschweifung gleichzusetzen. Was einem "radikalen Hedonismus" entsprechen würde, dessen zügellosen Begierden Epikur allerdings Zeit seines Lebens mit Vehemenz entgegengetreten war.

Es ist sicherlich nicht völlig verfehlt, in Epikur einen frühen Verfechter einer Praxis des "ökologischen Nonkonformismus" zu erkennen. Epikur gilt zwar als prototypischer Hedonist (Hedonismus = Genuss als Sinn und Ziel allen Handelns), doch definierte sich sein Begriff der Lustorientierung primär aus der akzentuierten Negation von Unlust, und er verstand unter dem Streben nach Glückseligkeit (Eudämonie) in erster Linie eine bedürfnisorientierte Lebensführung in Übereinstimmung mit der Natur. Hierzu zwei bezeichnende Textzitate:

"Wenn du in Übereinstimmung mit der Natur lebst, wirst du niemals arm sein: wenn du nach den üblichen Meinungen lebst, wirst du niemals reich sein." (Sen. ep. 16,7 = 201 Us.)

"Wer also der Natur folgt und nicht den leeren Meinungen, ist in jeder Hinsicht selbstgenügsam. Denn im Blick auf das der Natur Genügende ist jeder Besitz Reichtum; im Blick auf die grenzenlosen Wünsche ist selbst der größte Reichtum Armut." (Porph. ad Marc. 27 = 202 Us.)

Es gilt also, der grenzenlosen Begierden Herr zu werden, die das Leben des Menschen knechten, ihn abhetzen und mit Angst erfüllen. Und insbesondere gilt es in diesem Zusammenhang die Angst vor dem Sterben (die Begierde nach unendlichem Leben) über eine kompromisslose Bejahung des Lebens zu überwinden: "Der Tod geht uns nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod noch nicht da; aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr (nach Diogenes Leartius, X, 125)." Eine Einsicht in das Wesen von Leben und Tod, ob derer Erich Fromm in seinem Standardwerk "Haben oder Sein" den griechischen Philosophen explizit - mit obigem Zitat - zur lobenden Würdigung erwähnte.

Die Wirkungsgeschichte des - zu Lebzeiten selbst keineswegs missionarisch agierenden - Philosophen der Lebensfreude fand und findet bis in unsere Tage hinein in vielerlei Gestalt ihren Nachhall. Eine besondere Erwähnung verdient sich in diesem Zusammenhang der amerikanische Philosoph und Menschenrechtsaktivist Henry David Thoreau, der sich mit seinem philosophischen Experiment "Walden" in einem gewissen Sinne als radikaler Epikuräer erwies, wenngleich Epikur selbst den asketisch-weltflüchtigen Charakter einer zeitweiligen Einsiedelei, in der Wildnis fernab zivilisatorisch vermittelter Wohltaten, vermutlich als überzogen verworfen hätte. Und jeder und jede, der und die sich heute einer - längst schon zur Tugend überhöhten - selbstbetäubenden Konsummentalität versagen und sich stattdessen einem naturnahen Leben zuwenden, sind im Grunde genommen Söhne und Töchter im Geiste Epikurs.

Mit Fug und Recht darf man in der Person des griechischen Philosophen einen der Urahnen der modernen Ökologiebewegung erkennen, obgleich zu seiner Zeit die ökologische Krise noch kein Thema war. Sein sinngemäß zum Ausdruck gebrachtes "Zurück zur Natur" ist im Grunde nicht weniger konsequent als der gleichlautende Appell eines Jean-Jacques Rousseau, nur dass uns bei Epikur ein gerütteltes Maß an weltfremder Schwärmerei erspart bleibt. Epikur ist maßvoll und deswegen auch lebbar. Und er hat seine Philosophie der Selbstgenügsamkeit auch selbst in seinem Athener Garten vorgelebt, dem örtlichen Zentrum der von ihm geleiteten philosophischen Gemeinschaft, welcher übrigens auch Angehörige des weiblichen Geschlechts zugehörten. Man ergötzte sich in Epikurs Garten gemeinsam an den kleinen Freuden einer bescheidenen Lebensführung. Für mehr reichte es in der Regel nicht, und mehr war im Grunde auch nicht gewollt: "Ich genieße meine körperlichen Lustgefühle in vollen Zügen, während ich Wasser und Brot zu mir nehme, und ich spucke auf die Freuden, die durch übermäßigen Aufwand erzeugt werden, nicht wegen der Freuden an sich, sondern wegen der Beschwerden, die ihnen unweigerlich folgen." (Stob. 3,17,33 = 181 Us.)

Mit gesellschaftlichen Normen kritiklos konform zu gehen bedeutet heute, eine Lebenspraxis der Selbstentfremdung in Kauf zu nehmen und einem radikalen Hedonismus zu frönen, der den Menschen in ebenso kurzweilige wie verflachende Gelüste stürzt. Soziologen sprechen bezüglich gegenwärtiger Lebensverhältnisse gelegentlich von einer Spaßgesellschaft, in welcher "leichtfertiges Spielen statt Denken" die oberste Verhaltensmaxime darstellt. Dem ist bei Wahrung eines Mindestmaßes von Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen dieser Erde mit Entschiedenheit entgegen zu wirken. Ein Gebot epikureischer Ethik. Vernunftbestimmt handeln, wo sonst nur noch aus Selbstzweck gehandelt wird, den längst schon überdrehten Lebenstakt entschleunigen und missachten, was missachtenswert ist. Frei von Unwohlsein werden und solcherart Lusterfüllung zu erlangen, das ist das Programm der epikureischen Heilsphilosophie, welche in ihrer ganzheitlichen Dimension aus Kanonik, Physik und Ethik mehr als nur eine Sammlung lebenskundlicher Ratschläge ist. Es lohnt, sich näher damit zu befassen und seinen Lebensvollzug in diesem Sinne zu überdenken und neu zu orientieren.

Die bei Patmos erschienene Textsammlung ("Fragmente", "Briefe", "Maßgebende Sätze", "Vatikanische Spruchsammlung") ermöglicht dem Interessierten eine eingehende Vertiefung in die Gedankenwelt Epikurs, wobei sämtliche Texte in lateinischer oder griechischer Originalsprache sowie in deutscher Übersetzung abgedruckt sind. Zur Einführung in das philosophische Denken Epikurs findet sich im Anhang des Buches ein Aufsatz des Herausgebers der Textsammlung, zum besseren Verständnis des Gegenstands und mit kritischem Bezug zu Erscheinungen der Gegenwartsgesellschaft. Der apodiktische Charakter des Schreibstils Epikurs wird vielleicht so manchen Leser überraschen, doch war es eben nicht des Philosophen Absicht seine Ansichten ausschweifend und mit wortgewandter Raffinesse darzulegen, sondern knapp und griffig sei die Lehre formuliert, so dass sich jedermann rasch damit vertraut machen kann, ohne dabei von Wortartistik abgelenkt zu werden. Der sprachlichen Form nach handelt es sich um aphoristische Minutenlektüre, die sich an den Heilssuchenden adressiert, welcher sein gewohntes Leben satt hat, der jedoch selbst in der Lektüre von klassischer Philosophie weder geübt ist, noch es ihm möglich ist, besonders viel Zeit dafür zu erübrigen, sich in umfassendere Theorien einzulesen. Man könnte nun fast meinen, dass Epikurs Zielsetzung mehr medizinischer denn philosophischer Natur ist. Jedenfalls handelt es sich um eine Philosophie mit therapeutischem Zweck, die nicht gefallen, sondern helfen will. Eine therapeutische Philosophie und dadurch zugleich ein frühes Werk der Aufklärung, das den Menschen dazu beruft, von seiner Verstandeskraft Gebrauch zu machen, mündig zu werden und sein Leben nach Vernunftkriterien einzurichten. Epikurs Philosophie ist ein einziger "Appell an die Vernunft" und insoweit voll der brisanten Bezüglichkeiten zur Jetztzeit. Diese Philosophie ist, nach Meinung des Herausgebers Rainer Nickels, nicht zuletzt eine Mahnung, angesichts der heutzutage elektronisch geprägten Lebenswirklichkeit (Internet) wirkliche Gedanken auszutauschen, statt einfach nur Unmengen von Daten zu produzieren, eine Datenflut, die auf dem Informations-Highway mit Millisekundengeschwindigkeit ausgetauscht wird und deren Informationsgehalt in Hinblick auf die eigentliche Existenzproblematik menschlichen Lebens nichtssagend ist.

Epikurs aufgeklärter Hedonismus empfiehlt dem Menschen, seine Geisteskraft vorrangig zur Erhaltung und Steigerung der Lebensqualität zu verwenden, anstatt sie an sinnlose, rein mengenmäßig vermittelte, Eskapaden zu verschwenden. Eine grundsätzliche Kritik an dem alle Gesellschaftsbereiche durchdringenden Wachstumsfetisch unserer Tage. Die Produktion von gehaltlosen Unmengen ist unartig und sinnlos. Und ein Mensch, welcher der natürlichen Tugend der Selbstgenügsamkeit entfremdet ist, welcher die Unmenge wuchern lässt, der wird selbst noch im größten Reichtum dem Elend verfallen sein. Bleibt ihm doch, von wegen seiner Habensorientierung, ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur verschlossen. Er wird ein Leben bar des höchsten Gutes, d. h. der Lust, führen. Und der Gram darüber wird ihn in einen bösartigen Widerling verwandeln, in ein dauerhaftes und grenzenloses Übel, welches der Menschen Zusammenleben vergiftet. Ihm sei, mit Epikurs Worten gesprochen, nur ein Einziges geraten: "Du musst der Philosophie dienen, damit dir die wahre Freiheit gelingt." (Sen. ep. 8,7 = 199 Us.)

(Tasso; 07/2003)


Epikur: "Wege zum Glück"
Herausgegeben und neu übersetzt von Rainer Nickel.
Artemis & Winkler, 2003. 300 Seiten. 
ISBN 3-7608-1731-9. 
ca. EUR 29,80. Buch bestellen