Ulrich Beck, Christoph Lau (Hrsg.): "Entgrenzung und Entscheidung"
Die reflexive Modernisierung ist ein
Ansatz des bekannten Münchener Soziologen Ulrich Beck zur Beschreibung des
zweiten Anlaufs der Moderne, den er "zweite Moderne" zu nennen pflegt. Zum
Inhalt der Termini "reflexive Modernisierung" und "zweite Moderne" lernt der
Leser dieses Sammelbandes viel. Insbesondere fällt auf, wie breit gefächert die
Phänomene sind, welche die Moderne reformiert haben. Dies ist nämlich ein
Resultat des Sonderforschungsbereichs "Reflexive Modernisierung", den die
Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 1999 an Universitäten des Münchener und
Augsburger Raumes vorantreibt, und aus dem dieser Sammelband hervorgegangen ist:
Es wurde dadurch klar, dass die Fortentwicklung der Moderne in eine zweite Phase
mit klar definierten und völlig eigenen Merkmalen eingegangen ist. Diese zweite
Phase (eben die "zweite Moderne") ist nicht nur der Soziologen-Zunft um Ulrich
Beck sondern etwa auch Psychologen und Politikwissenschaftlern
aufgefallen.
Ein Hauptmerkmal der zweiten Moderne, das als Angelpunkt des Sammelbandes dient,
ist die Verwischung der Grenzen (Stichwort: Entgrenzung): Krieg und Friede,
nationale Souveränität und kolonialähnliche Abhängigkeit, Emanzipation und Bevormundung
seien nicht mehr als Gegensatzpaare zu verstehen. Dies hat die Gesellschaft
verändert.
Die Verwischung der Grenzen führt zu größeren
Entscheidungsspielräumen und -zwängen. Alte Normen, Vorgaben, Lebensformen und
Selbstverständlichkeiten fallen weg. Man muss in Politik, Ökonomie,
interpersonellen Beziehungen Grenzen neu ziehen, während früher von
Selbstverständlichkeiten ausgegangen wurde: Die Staaten gingen davon aus, dass
andere Staaten sich nicht in ihre internen Angelegenheiten einmischen; ein
Unternehmer hatte Angestellte und mehr Geld, ein Angestellter weniger Geld,
dafür aber einen ruhigeren Schlaf; die Ehe galt als verhältnismäßig feste
Bindung. Nichts davon ist mehr der Fall: Einmischungen in interne
Angelegenheiten aus humanitären Gründen treten immer mehr an die Tagesordnung
der internationalen Politik; ein Unternehmer kann sein einziger Angestellter
sein und trotz Angestelltenbezügen einen unruhigen Unternehmerschlaf haben; die
Ehe ist ein Faktor der Verunsicherung - sie stellt nicht erst Sicherheit
her.
Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich jeweils
mit einem Themengeflecht der zweiten Moderne: Viehöver u.a., May und Sellmeier
beschäftigen sich mit dem zeitgenössischen Stand der Theorie und Praxis um
Sterbehilfe und
Humangenetik. Bei Kratzer und in zwei Texten von Bonß u.a. kann
man beobachten, wie früher als abweichend geltende Beschäftigungsformen jetzt
zum Normalfall geworden sind. Eine Aufweichung der Grenzen zwischen "gedopt" und
"clean" bzw. zwischen Gennahrung und natürlicher Ernährung stellen außerdem
Viehöver und Andere fest. Bei Böhle u.a. kommt der neue, gehobene Stellenwert
des praktischen (Erfahrungs-)Wissens zur Sprache. Auf zunehmende Risiken und
Handlungsspielräume, die auf persönliche Entscheidungen drängen, macht außerdem
Bonß u.a. in einem seiner Texte aufmerksam. Neue Facetten der Arbeit und des
Umgangs mit Geld sowie die damit verbundenen Risiko- und Entscheidungsspielräume
werden von Bonß/Kesselring/Weiß, von Hacket u.a., von Almendinger u.a. sowie von
Kratzer u.a. erörtert. Die Politik in der zweiten Moderne beschäftigt Heidling
u.a., Grande, Kriesi/Grande und selbstverständlich den Herausgeber Ulrich Beck
samt seinen jeweiligen Mitautoren in mehreren Beiträgen.
Die Sprache des
Bandes ist auch für nicht spezialisierte, soziologisch interessierte
Personen verständlich. Trotz des oft technischen Vokabulars hat nämlich die
Sprache nicht die schwerverdauliche Vielsilbigkeit von Habermas, geschweige denn
dass sie nebulos wäre. Im Gegenteil werden in diesem Band Vorgänge vorgestellt
und soziologisch erläutert, die man aus dem Alltag bereits kennt. Kein
Hineininterpretieren aus einer höheren Sicht ist also hier der Fall. Rechnen
muss man allerdings mit einem Mehr-als-gewöhnlich an Soziologen-Fachjargon. Die
Aktualität der beschriebenen Phänomene ist dafür sehr hoch. Angenehm ist auch
der ständige Wechsel des Blickwinkels von Beitrag zu Beitrag. Wer gerne die
Kolumnen Ulrich Becks und die Bücher Anthony Giddens’ liest, sollte das Buch
kennen lernen. Ebenso, wer das letzte Wort in der
Globalisierungsdebatte
kennen lernen möchte.
Insgesamt eine äußerst lohnende Lektüre für alle,
die über die berufsspezifischen Thematiken der Sozialen Arbeit hinaus die
Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wagen
wollen.
(Detlef Rüsch; 01/2005)
Ulrich Beck, Christoph Lau (Hrsg.):
"Entgrenzung und Entscheidung"
Suhrkamp, Edition Zweite Moderne, 2004.
515 Seiten.
ISBN 3-518-41648-0.
ca. EUR 20,60.
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Ulrich Beck, geboren 1944, lehrt
Soziologie
an der Universität München und an der London School of Economics.
Christoph Lau, geboren 1947, lehrt Soziologie an der Universität Augsburg.
Weitere Bücher aus dieser Reihe (Auswahl):
Ulrich
Beck: "Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Eine weltpolitische Ökonomie"
Ulrich Beck deckt die Ursachen auf für die gegensätzlichen Tendenzen wie Barbarei
und militärische Interventionen unter Berufung auf die Menschenrechte, globalem
Krieg und globaler Ökonomie, der Zunahme der Armut wie des Reichtums. Es ereignet
sich gegenwärtig - so seine These - eine schöpferische Selbstzerstörung der
von Nationalstaaten dominierten Weltordnung. Damit eröffnet sich die Möglichkeit
eines kosmopolitischen Blickes und einer Weiterentwicklung der Politik zum "kosmopolitischen
Staat". Es handelt sich also nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern um den
Kampf für eine Menschheitskultur, in der unterschiedlichste Traditionen miteinander
leben können.
Damit der Begriff des Kosmopolitismus, der seit Kant zum philosophisch-politischen
Urgestein der westlichen Zivilisation gehört, zur Kritik der herrschenden Verhältnisse
werden kann, unterzieht ihn Ulrich Beck einer "rettenden Kritik". Denn die Ökonomie
des Weltmarktes hat in ihrer Zwangsdynamik die
Regeln
der Weltpolitik verändert. Durch Entgrenzung von Ökonomie, Politik und
Gesellschaft
beginnt ein neuer Kampf um Macht und Gegenmacht. Welche Strategien hierbei das
Kapital, die Staaten und zivilgesellschaftliche Bewegungen verfolgen beziehungsweise
verfolgen sollten, analysiert Ulrich Beck in seinem umfangreichen Panorama der
neuen weltpolitischen Ökonomie.
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Ulrich Beck: "Der kosmopolitische
Blick oder: Krieg ist Frieden"
In seinem Buch "Macht und Gegenmacht" rollte Ulrich Beck die Frage und die Dilemmata
der Legitimität von Herrschaft im globalen Zeitalter auf. Nun wendet er konsequent
die philosophische Tradition des Kosmopolitismus empirisch-analytisch und konstatiert:
Die Nationalstaatsgesellschaften selbst werden in ihrem Inneren kosmopolitisiert.
Der Kosmopolitismus war seit der griechischen Antike eine kontrovers diskutierte
Vernunftidee - was nicht verhinderte, dass er von
Hitler
und Stalin buchstäblich als Totschlagargument
verwendet wurde. Heute dagegen ist festzustellen: Die Wirklichkeit selbst ist
kosmopolitisch geworden, als ungesehene soziale Folge von Handlungen im Netzwerk
globalisierter Risiken. In dem Maße, in dem diese historische Lage - in der
der Nationalstaat zunehmend von einer planetarischen Interdependenz belagert
wird, von ökologischen, ökonomischen und terroristischen Risiken, die die getrennten
Welten unterentwickelter und entwickelter Nationen aneinander binden - weltöffentlich
reflektiert wird, entsteht etwas historisch Neues: ein kosmopolitischer Blick,
in dem sich die Menschen zugleich als Teil einer gefährdeten Welt und als Teil
ihrer lokalen Geschichten und Lagen sehen. Dieser kosmopolitische Blick ist
skeptisch, selbstkritisch und illusionslos - denn er macht sichtbar, dass sich
im Zeitalter der Menschenrechtsinterventionen und der Durchsetzung von Demokratie
die Grenzen von Krieg und Frieden verwischen: Krieg ist Frieden.
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Ulrich Beck, Edgar Grande:
"Kosmopolitisches Europa"
Europa ist in Europa die letzte realpolitisch
wirksame Utopie. Wer Europa allerdings als Zusammenschluss von Nationalstaaten
versteht, verkennt dessen Wirklichkeit und Zukunft. Die Realität des nicht
national gebundenen, also kosmopolitischen Europa kann nur in radikaler
Selbstkritik der gängigen Politik- und Staatsbegriffe gewonnen
werden.
Ähnlich wie mit dem Westfälischen Frieden die konfessionell
überformten Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts durch die Trennung von Staat und
Religion beendet wurden, kann die Reaktion auf den Horror des 20. Jahrhunderts
in einer Entkoppelung von Staat und Nation bestehen. Ähnlich wie der säkulare
Staat die Ausübung verschiedener Religionen ermöglichte, muss das
kosmopolitische Europa die grenzübergreifende Koexistenz der verschiedenen
ethnischen, nationalen, religiösen und politischen Lebensformen durch das
Prinzip der konstitutionellen Toleranz gewährleisten.
Europa neu denken - das
ist das Thema dieses Buches. Der kosmopolitische Blick auf Europa, in Begriffe
gefasst, kann neue Handlungschancen eröffnen.
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