Anna Enquist: "Die Eisträger"
Die zerstörerische Last des
Schweigens - wenn das innere Chaos sichtbar wird:
Gleichgewichtsverlust auf dünnem Eis ...
Als die stille Adoptivtochter Maj im Alter von 19 Jahren kurz vor dem Abitur einfach
davonläuft, beginnt für die Eltern, Loes und Nico, das eisige Schweigen, das
Leugnen der Wahrheit: Das Ereignis wird totgeschwiegen, die Eheleute sprechen
mit niemandem, auch nicht miteinander darüber, und so nimmt das weitere Unheil
für die Bewohner eines in den Sanddünen gelegenen Hauses seinen Lauf ...
Ein
halbes Jahr nachdem Maj weggelaufen ist, haben Loes und Nico nichts unternommen,
um ihre Tochter wiederzufinden, mehr noch: keiner außer ihnen weiß vom Verschwinden Majs, die sich inzwischen auch nicht gemeldet hat.
Doch das vereinte Schweigen erweist sich
als trügerischer Ansatz zur Bewältigung der Gefühle: Während Loes, ihres Zeichens
Lehrerin, Zuflucht zur inneren Emigration, zur Alltagsroutine und zur zwanghaft
bemühten Gartenarbeit
nimmt, (der salzige Sandboden ist immerhin ein handfester Gegner, dem man mit
der Schaufel "zu Leibe rücken" kann), stürzt sich Nico, von Beruf Psychiater
und soeben zum Leiter eines psychiatrischen Krankenhauses bestellt, mit vollem
Einsatz ins Berufsleben und reorganisiert die Anstalt vom Keller bis zum Dach
- sozusagen "auf Teufel komm raus".
Darüber hinaus betäubt er sich, indem er
wie besessen Rad fährt. Die innere Stimme, die ihm vorhält, dass er im Umgang
mit seiner Adoptivtochter nach allen Regeln der Kunst versagt hat, kann er freilich
weder mit ehrgeiziger Betriebsamkeit dauerhaft übertönen, noch entfaltet eine
außereheliche Affäre heilbringende Wirkung.
Selbst Nicos Freunde und Kollegen
können die Mauer des Schweigens nicht durchbrechen als sie spüren, dass etwas
nicht in Ordnung ist.
"Früher
gab es in den Pyrenäen Eisträger, die mit schweren, aus dem Gletscher gehauenen
Blöcken auf den Schultern ins Tal zu den Palästen in Foix und Toulouse marschierten.
So wie Loes und ich", gesteht sich Nico ein.
Die Fassade von der heilen Familie
in der heilen Welt bekommt mehr und mehr Risse, das als Notgriff ersonnene Band
des Schweigens schnürt der Partnerschaft zunehmend die Luft zum Atmen ab.
Warum auch immer, weder der Psychiater
Nico noch die Lehrerin Loes finden die Kraft, sich ihrem Versagen zu stellen;
sie steuern auf den seelenlosen Abgrund zu, und tatsächlich bleibt die Katastrophe
nicht aus.
Anna Enquists Sprache
bildet die durch Gesprächsverweigerung fortschreitende Vereinsamung und die einbrechende
Eiseskälte haargenau ab; wie das Abgleiten in Extreme die Menschen von allen Bezugspunkten
abtrennt ...
"Die Eisträger" ist ein düsterer Roman, der zur Suche nach tauglichen
Lebenskonzepten einlädt.
(S. Gabriel)
Anna
Enquist: "Die Eisträger"
(Originaltitel "De ijsdragers")
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
btb.
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Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren. Sie wuchs in Delft auf, studierte
Klavier am Königlichen Konservatorium in Den Haag, anschließend Klinische
Psychologie in Leiden und arbeitet als Psychoanalytikerin. Seit 1991
veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen.
Anna Enquist zählt neben
Margriet de Moor
und Harry
Mulisch zu den bedeutendsten niederländischen Autoren der Gegenwart. Ihre
Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen
Literaturpreisen ausgezeichnet. Anna Enquist lebt in Amsterdam. (Luchterhand)
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Streichquartett"
In einem Streichquartett kommt es auf jeden Einzelnen an, aber auch auf die
Beziehungen untereinander. Und die vier Freunde, die abends auf einem Hausboot
in Amsterdam zusammenkommen, um zu musizieren, kennen einander schon lange. Die
Musik von Mozart oder
Schubert hilft ihnen, ihr Leid kurz zu vergessen, den
zuweilen tristen Alltag zu erhöhen oder zumindest vorübergehend auszublenden.
Doch dann holt sie die Wirklichkeit eines Tages grausam ein ...
Die Ärztin Carolien, ihr Mann Jochem, die Krankenschwester Heleen und Hugo, Leiter des
örtlichen Musikzentrums, kommen regelmäßig auf Hugos Hausboot zusammen. Sie
kennen einander schon lange, haben das Einstudieren klassischer Musik und das
gesellige Beisammensein stets genossen. In letzter Zeit fällt es ihnen jedoch
immer schwerer, den Alltag hinter sich zu lassen. Carolien und Jochem können
kaum noch miteinander reden, seit sie bei einem tragischen Verkehrsunfall beide
Söhne verloren haben, Hugo sieht keinen Sinn mehr in seiner Arbeit, und Heleen,
deren besonderes Engagement der Altenpflege gilt, kann nicht umhin zu
realisieren, dass das Gesundheitswesen immer unsozialer und rigider wird. Auch
die Spannungen in der Gruppe sind unübersehbar. Trotzdem üben sie unbeirrt
weiter. Als sie beim fünfzigsten Geburtstag eines Freundes Mozarts
Dissonanzenquartett aufführen, scheint es, als hätte das Blatt sich gewendet,
als könnte die Musik wie einst wieder heilen und trösten, ja sogar Glück
schenken. Doch gerade in diesem Augenblick wird die Idylle gesprengt, denn ein
flüchtiger Mörder sucht ausgerechnet auf dem Hausboot Schutz vor der Polizei...
(Luchterhand)
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