Donald Antrim: "Ein Ego kommt selten allein"
Eine Umarmung zum Aus-der-Haut-Fahren und ihre Folgen ...
In "Ein Ego kommt selten allein"
erzählt Tom, seines Zeichens Psychoanalytiker mittleren Alters am
prestigeträchtigen "Krakower Institute", von einem harmlos beginnenden Abendessen
mit seinen befreundeten Berufskollegen im "Pancake House & Bar", um sich dem
gemeinsamen Fachsimpeln bei Kaffee und Pfannkuchen hinzugeben.
Doch es wäre kein echter Antrim und nicht halb so lesenswert, nähme die Geschichte nicht
unverzüglich eine unverhoffte, absurde Wendung. Aber der Reihe nach:
Tom wird ständig durch gedankliche Abschweifungen vom gerade in der Gruppe
besprochenen Thema abgelenkt. Seine Überlegungen kreisen hauptsächlich um
ehemalige, gegenwärtige und vielleicht zukünftige Sexualpartner sowie das ewige
"Wer-mit-wem". Dass er seine Frau namens Jane verdächtigt, eine Liebesbeziehung
mit Manuel Escobar, einem seiner Kollegen zu unterhalten, beschäftigt ihn ebenso
wie die sinnliche Ausstrahlung der Kellnerin Rebecca. Dass ihn bereits die
anstehende Entscheidung zwischen
Blaubeerpfannkuchen
und Eiern Benedict bei der Bestellung im Restaurant in eine Identitätskrise
stürzt, illustriert, wie beklemmend Toms grundlegende Zweifel an allem und jedem
sind. Innerhalb der Psychoanalytiker-Riege ist Toms Rolle die eines Narren, der
abwechselnd Kritik, Tadel nebst Verständnislosigkeit auf sich zieht und
gelegentlich, (mitunter auch unfreiwillig), für Heiterkeit sorgt.
Als er es an dem besagten Abend im "Pancake House & Bar" wieder einmal allzu bunt
treibt, hindert ihn sein väterlicher Freund, der Psychiater Dr. Richard
Bernhardt daran, eine Essensschlacht mit
Zimt-Rosinen-Toasts
zu eröffnen, indem er ihn plötzlich "bedrohlich intim" hinterrücks umarmt,
festhält und hochhebt.
Was dann geschieht, ist nicht nur eine Frage der persönlichen Sichtweise sondern
auch eine gute Gelegenheit für den Leser, ebenfalls - zumindest gedanklich -
"abzuheben": Erleidet Tom einen Nervenzusammenbruch, erlebt er gar eine
außerkörperliche Erfahrung?
Die bis zu dieser Stelle lineare Realität wird in mehrere
Ebenen aufgefächert; Tom schwebt über den Dingen, ist Akteur und Beobachter,
Provokateur und Opfer. Er nimmt die Unterhaltungen der Restaurantbesucher, allen
voran freilich jene seiner Psychoanalytiker-Kollegen, die seinen akuten Zustand
mehr oder weniger interessiert diskutieren, wahr und bewegt sich gleichzeitig
durch Materie und Zeit, wird mit realen Szenen seiner Ehe konfrontiert, fliegt
davon, unternimmt mit Rebecca eine Zeitreise in die Vergangenheit der Stadt, ...
Was genau ist ein Nervenzusammenbruch? Dieses Wort bezeichnet in der
Umgangssprache echte oder vermeintlich schwere psychische Überlastungsreaktionen
oder nervöse Erschöpfung; bis zum Ausbruch einer Schizophrenie kann alles
dahinter stecken. Der Begriff kann ebenso für einen relativ harmlosen,
kurzfristigen Verlust der Affektbeherrschung stehen wie für die schwere Form
einer akuten Psychose mit Störungen des Bewusstseins, des Denkens und der
Gefühlswelt. Als Hauptsymptome finden sich gesteigerte Erregbarkeit, leichte,
allgemeine Erschöpfbarkeit, Störungen in der Herzgegend, mangelnde
Konzentrationsfähigkeit sowie Kopf-, Kreuz- und Muskelschmerzen.
(Ursache der kurzfristigen
Rückenschmerzen Toms ist allerdings vermutlich Dr. Richard
Bernhardts Erektion, die ihn an empfindlicher Stelle drückt.)
Als Auslöser eines Nervenzusammenbruchs kommen viele Faktoren in Frage. Neben einer
ererbten Bereitschaft bedingen meist andauernde Gemütserregungen und
Spannungszustände bei außergewöhnlichen Ereignissen einen Nervenzusammenbruch.
Die Belastung der Persönlichkeit ist größer als der Betreffende ertragen kann.
Bei einem solchen Zusammenbruch entlädt sich ein oft sehr lange andauernder
Spannungszustand plötzlich und heftig. Wichtig ist, dass Menschen mit einem
Nervenzusammenbruch nicht alleine gelassen werden, weil sie sich allein oft
nicht mehr zu helfen wissen und gelegentlich auch zu "Kurzschlusshandlungen"
neigen.
Der ewige
Zweifler Tom hat daher Glück im Unglück und es ist bestimmt kein Zufall,
dass ihm dergleichen ausgerechnet in solch illustrer Gesellschaft widerfährt -
ist sie doch die ideale Umgebung, Themen von fundamentaler Bedeutung wie
Sexualität, Familie, Ehe und Psychoanalyse zu wälzen und sich dabei selbst im
Mittelpunkt zu sehen, noch dazu in möglichst bemitleidenswerter
Pose.
Fazit: Einfach zum Abheben ...
(kre; 10/2001)
Donald Antrim: "Ein Ego kommt
selten allein"
(Originaltitel "The
Verificationist")
Aus dem Amerikanischen von Brigitte
Heinrich.
Residenz Verlag, 2001. 208 Seiten.
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Donald Antrim, geboren und
aufgewachsen in Miami, lebt in Brooklyn.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Mutter. Kein Roman"
An einem schönen Augustmorgen des Jahres 2000 entschläft Louanne Antrim nach
langem Krebsleiden im Morphiumrausch. Was macht ihr Sohn Donald Antrim, der New
Yorker Schriftsteller, kaum dass sie unter der Erde ist? Er kauft sich ein Bett.
Und zwar nicht irgendeins, sondern ein nach den neuesten Erkenntnissen
esoterisch-biotechnischer Schlafforschung gestaltetes, sündhaft teures Monster.
Dieses Bett soll seine Befreiung feiern; es soll sein Fluchtort werden, so etwa,
wie wenn man zu jemandem sagt: "Ich brauche Raum". Nur dass
"Raum" sich dann gewöhnlich auf Gefühle bezieht, Antrim ihn aber mit
einem konkreten Ort verwechselt. Darum tut er in diesem Bett nie ein Auge zu.
Typisch für ihn. Typisch für den Sohn einer lebenslangen, maß- und schamlos
exzentrischen Alkoholikerin, die ihrem Sohn kaum etwas mitgab außer ihrem
Selbsthass. Und ihn in eine Affenliebe zwang, die jede noch so verrückte
Marotte von ihr zu tolerieren, ja zu verteidigen hatte.
"Mutter" ist ein erschreckend klarsichtiges Buch - und ein grotesk
komisches. Das verdankt sich Antrims sprachlichen und analytischen Fähigkeiten.
Er beschreibt ein (sein) Leben in einer durchgedrehten Alkoholikerfamilie: das
komplexe Wechselspiel von
Macht und Furcht,
Manipulation und schließlichem
Widerstand, der immer auf ein
Mirakel hofft, ein Ereignis, das alles verändert
und ihn wie ein großes Kunstwerk der Erlösung näher bringt. Dies alles
erfasst Antrim in einem Reigen von Geschichten, die sich um- und
ineinanderwinden: minuziöse Momentaufnahmen, präzise, sinnlich und voller
Ironie. (Rowohlt)
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