Jorge Edwards: "Der Ursprung der Welt"
Raffiniert, leidenschaftlich,
komisch
In Paris gibt es in einem ehemaligen Bahnhof ein Museum, das Musée d'Orsay.
Eines der wichtigsten Gemälde dort stammt von Jean-Desire-Gustave Courbet und
heißt: "L'origine du monde" - der Ursprung der Welt. Es wurde 1866 als Auftragsarbeit
für den türkischen Botschafter hergestellt, tauchte nach dem Fall der Mauer
in Budapest wieder auf, wurde vom französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan
für seine Praxis gekauft und 1995 nach seinem Tod vom Museum erworben. Die meiste
Zeit seiner Existenz hat es also im Dunkel verbracht. Kaum aber war es ans Tageslicht
gekommen, inspirierte es die Kunstwelt. Schon kurz nach Eröffnung der Ausstellung
begann der ehemalige chilenische Botschafter in Kuba, Jorge Edwards, mit der
Arbeit an einem kleinen Roman mit dem Titel "El origen del mundo", der dann
1996 erschien. Im Jahr 2000 veröffentlichte die französische Schriftstellerin
Christine Orban einen Roman mit dem Titel "J'étais l'origine du monde", die
Geschichte eines Mannequins, das einmal dem Maler Whistler, dann Courbet zugetan
ist. Beide Bücher waren große Erfolge.
Das Buch von Edwards ist nun auf deutsch erschienen. Klaus Wagenbach hat es mit
einem neckischen Umschlag ausgestattet, der wie ein halbdurchsichtiges Dessous
den Blick auf das Gemälde freigibt, das auch unter heutigen Gesichtspunkten
noch skandalös wirkt. Man sieht eine gesichtslose, jüngere, etwas üppige
Frau, die mit gespreizten Beinen auf dem Rücken liegt. Ihr Nachthemd ist bis
zum Hals hochgerutscht. Brust, Bauch und Schambereich liegen frei. Der Titel
bezieht sich offensichtlich auf die Frau als Urmutter, als Gebärerin, als
Sinngebende, und überschreitet dabei die pornografische Dimension. Gleiches
kann man vom Roman sagen, der an der Oberfläche mit Sexualität zu tun hat, in
der Tiefe aber von Gefühlen in einer Ehe und gegenüber Freunden, vor allem
aber vom Altern handelt.
Er erzählt die Geschichte von Dr. Patricio Illanes, einem Exil-Chilenen,
Mittsiebziger und pensioniertem Allgemeinarzt, der seit über drei Jahrzehnten
mit seiner jüngeren Frau, Silvia, in einer nach außen hin perfekten Ehe
zusammenlebt. Sein bester Freund ist der Mittfünfziger Felipe Diaz, ein
Lebemann, ein unterhaltsamer Aufschneider, der angeblich Frauen wechselt wie
seine Hemden, nun aber auch schon in die Jahre gekommen und in den Alkoholismus
abgestürzt ist. Die Besuche von Felipe bleiben sowohl für Illanes wie auch
seine Frau ein Ereignis. Als nun Felipe Selbstmord begeht und sich eine Fotografie
findet, die äußerlich dem Gemälde von Courbet ähnelt, aber dabei den Körper
Silvias abzubilden scheint, beginnt für Illanes ein Leidensweg voll Eifersucht
und Leidenschaft, der die Ehe zu zerstören droht.
Die Reaktionen der Literaturkritik auf den nun auch in Deutschland aufgelegten
und in Buchhandlungen intensiv nachgefragten Roman sind hymnisch. Hans Christoph
Buch schreibt in der Zeit: "Gibt es das? Ein perfektes Kunstwerk, dem die
Quadratur des Kreises gelingt, leicht und substanzvoll, tiefsinnig und
unterhaltsam zugleich zu sein? Und ist es möglich, grundlegende Fragen der
Literatur und der Politik, der Liebe und der Sexualität, des Alterns und des
Todes auf knapp 165 Seiten so locker und doch so fesselnd abzuhandeln, dass man
den schmalen Band in einem Atemzug zu Ende liest?"
Dieselben Worte sind mir nach der Lektüre gekommen. Tatsächlich fängt man mit
dem Lesen an, und es wird dann alles unwichtig, bis man damit zu Ende ist. Erklären
kann man dergleichen Phänomene nicht, aber sie scheinen keine Ausnahmen zu
sein. Das Buch liest sich praktisch von selbst. Es ist spannend, erheiternd,
lehrreich und von tiefer emotionaler Kraft. Man erfährt in ihm nebenbei sehr
viel. An der Oberfläche geht es um einen Verdacht und eine nachfolgende
Detektivgeschichte, die zur Reise zu sich selbst wird. Verfremdungseffekte
werden sparsam eingesetzt. In einem Kapitel des Romans wird der Ich-Erzähler in
der dritten Person geschildert, was zum Thema passt, denn es erzählt den Tod
des besten Freundes. Das letzte Kapitel erzählt Silvia. Warum das gut ist, soll
hier nicht verraten werden.
Nebenbei macht Edwards auf Seneca aufmerksam, der wirklich sehr Interessantes
über das Leben und Beziehungen geäußert hat. Dann entwirft er ein Bild der lateinamerikanischen
Exilantenszene in Paris. Edwards war langjährig an der Seite
Pablo
Nerudas in Paris als Kulturattaché angestellt und ist ein Liebhaber
der Stadt. Er kennt die Orte und Plätze und schreibt nebenbei eine Hommage
an seine Wahlheimat. Der Roman ist ein Buch über das Altern und über alternde
Ehen, über Freundschaften und über den Sinn des Lebens. All das wird mühelos
und mit kräftigem Strich in einem kurzen, knackigen Roman verpackt. Manchmal
staunt man, wie groß die Unterschiede zwischen guter und schlechter Literatur
sind, selten aber wird einem hohe Erzählkunst so eindrucksvoll vorgeführt wie
in diesem wunderbaren Buch.
(Berndt Rieger; 05/2005)
Jorge Edwards: "Der Ursprung der Welt"
(Originaltitel "El origen del mundo")
Aus dem chilenischen Spanisch von Sabine Giersberg.
Verlag Klaus Wagenbach, 2005. 164 Seiten.
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Jorge Edwards wurde 1931 in Santiago
de Chile geboren. Er studierte in Chile und Princeton Jura und Philosophie.
Als Diplomat vertrat er sein Land in Brüssel,
Havanna,
Lima und Paris. Nach dem Militärputsch ging er 1973 für fünf Jahre ins spanische
Exil.
Für sein großes literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen,
darunter 1994 den "Chilenischen Nationalpreis", 1999 den bedeutendsten
Literaturpreis der spanischsprachigen Welt, den "Premio Cervantes",
und 2008 den "Premio Iberoamericano Planeta - Casa de América de Narrativa"
(für den Roman "La casa de Dostoievsky").
Weitere Bücher des Autors:
"Persona non grata. Als Diplomat im revolutionären Kuba"
In seinem berühmten Kuba-Buch schildert Jorge Edwards seine Zeit als Diplomat
der Regierung Salvador Allendes auf Kuba. Mit großem Enthusiasmus stürzt sich
der glühende Anhänger Castros in die neue Aufgabe. Der Widerspruch zwischen
sozialistischem Traum und kubanischer Realität lässt die anfängliche
Begeisterung aber bald in Kritik umschlagen, was Edwards spektakuläre
Ausweisung zur Folge hat. Ausgezeichnet mit dem angesehensten spanischen
Literaturpreis, dem "Premio Cervantes". (Piper)
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"Faustino"
Eine surreale Agentengeschichte mit Schauplätzen im geteilten Berlin und in den
Anden. Ein Edwards in Höchstform!
In einem Helikopter verlässt Faustino Joaquín Piedrabuena Ramírez,
chilenischer Kommunist im Ost-Berliner Exil, die Zone und fliegt quer über den
Atlantik zurück nach Santiago. Ist er derjenige, der das Attentat auf den
Diktator verüben wird? Wird man versuchen, ihn mit einem Wahrheitsserum zum
Sprechen zu bringen? Soll Faustino als neuer Präsident installiert werden? Und
wer zum Teufel ist Apolinario Canales, jene zwielichtige Gestalt, die mit
Faustino Fressorgien feiert und ihm junge Frauen zuführt?
Jorge Edwards, der große chilenische Romancier, hat ein ebenso spannendes wie
absurdes Buch geschrieben. Und während er sich dabei ins Fäustchen lacht und
Goethe mit dem Genre des Politthrillers und des fantastischen Romans
kreuzt, kann sich auch der Leser vor Lachen kaum mehr halten - derart grotesk
ging es zwischen Teufels- und Blocksberg, beziehungsweise den Gipfeln der Anden
schon lange nicht mehr zu ... (Verlag Klaus Wagenbach)
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