Tanja Dückers: "Der längste Tag des Jahres"
Paul
Kadereit, Hobbyimker und leidenschaftlicher Reptilien- und
Amphibienliebhaber, stirbt am 21. Juni 2003, dem längsten Tag
des Jahres. Seine Frau findet den gerade 62 Jahre alt Gewordenen tot in
seinem Bienenhaus, seinem letzten Zufluchtsort, nachdem er sein
Lebenswerk, eine Zoohandlung mit Spezialisierung auf
Wüstentiere, wegen Insolvenz zwei Jahre zuvor aufgeben musste.
Seine zweite Firma, "Honeylife", einen Spezialversand für
Imkereibedarf, hatte er schon einige Zeit vorher schließen
müssen.
Diese Verluste treffen den Mann tief, er zieht sich zurück,
lässt sich gehen und droht körperlich und seelisch zu
verwahrlosen. Das Buch beschreibt nun in fünf Kapiteln die
Reaktionen seiner fünf erwachsenen Kinder auf seinen Tod. Und
so unterschiedlich diese Kinder sind, so verschieden fallen auch ihre
Reaktionen auf die Todesnachricht aus, und so unterschiedlich
verarbeiten sie die Trauer um ihren Vater.
Nicht nur diese Reaktionen auf den Tod des Vaters beschreiben die
Kapitel dieses den Leser tief berührenden Buches, sondern in
der Summe der Perspektiven entsteht in den Erinnerungen der
Söhne und Töchter Paul Kadereits ein Bild von einem
Mann, den das "Wirtschaftswunder" hochgespült hat und der sich
der neuen Zeit nach der Wende 1989 nie wirklich anpassen konnte und
wollte. Ein Mann, der von der Wüste und der weiten Welt
träumte und sich doch nie auch nur eine einzige Reise in eines
jener Länder gönnte, deren Tierbewohner er in seiner
Zoohandlung verkaufte und in deren Geografie und Geschichte er sich
auskannte wie kein Zweiter.
Tanja Dückers, 1968 in West-Berlin geboren, reflektiert hier
das Leben der Generation ihrer Eltern. Und sie verknüpft die
Eigenheiten des Familienoberhauptes Paul Kadereit geschickt mit den
verschiedenen Lebenswegen und Lebenskonzepten seiner Kinder in einer
ebenso ausdrucks- wie eindrucksvollen Sprache.
Diese Lebenskonzepte und Lebenswege von fünf Geschwistern
könnten kaum unterschiedlicher sein. In ihnen findet sich im
Mikrokosmos die Vielfalt von Lebenseinstellungen und Werthaltungen der
letzten zwanzig Jahre wieder.
Die beiden Töchter Anna und Sylvia führen mit ihren
Familien ein relativ normales Leben in ihrer Heimatstadt
Fürstenfeldbruck. Sie haben all die Jahre den intensivsten und
häufigsten Kontakt mit dem Vater. Ihre Kinder lieben den
Großvater und sind, jedenfalls bis zu einem gewissen Alter,
gerne gelehrige Schüler in seiner Wüstenwelt.
David ist Schauspieler, experimentiert gern und schielt nicht auf die
große Karriere. Sein Bruder Bennie, den es nach Berlin
verschlagen hat, tut das noch weniger. Er ist ein kleiner
Lebenskünstler, der versucht, ambitionierte und kritische
Kunst in seiner kleinen Galerie auszustellen. Man spürt bei
beiden Brüdern, dass all das gewiss keine gute, abgesicherte
Zukunft hat, aber das stört sie nicht. Ganz im Gegensatz zu
ihrem Vater, der Schauspiel und Kunst für etwas hält,
das man zu seinem Hobby machen, aber mit dem man sicher keine Familie
ernähren kann.
Und dann ist da noch der verschollene Sohn Thomas, von dem nur David
den jeweils letzten Aufenthaltsort kennt. Er ist ein echter
Exzentriker, aber mit einer gediegenen Ausbildung. An vielen Stellen
auf der Welt hat er in Wüstenregionen
Wasserleitungen repariert und ist jetzt in der kalifornischen
Wüste gelandet, wo er mit seinem Sohn Sami und seiner
Partnerin Chantal lebt.
Thomas ist anscheinend das einzige von Paul Kadereits Kindern, das
seine Leidenschaft für die Wüste mit ihm teilt. Zwar
hat Thomas den Kontakt zur Familie abgebrochen, dennoch ist sie dauernd
in ihm präsent. Als er ernsthaft überlegt, die
Verbindung zu seinem Vater wieder aufzunehmen, nachdem seine Frau mit
einem anderen Sonderling durchgebrannt ist, erreicht ihn - Wochen nach
Pauls Tod - die Trauerkarte aus Deutschland, die seine Mutter
geschrieben hat. Sie bewegt ihn tief, und dennoch hat man beim Lesen
das Gefühl, dass er nicht weiß, wie er damit umgehen
soll. Er hat etwas verloren, aber er weiß nicht, was. Es
bleibt offen, wie sein Leben weitergeht. Wahrscheinlich bleibt er mit
seinem Sohn in der Wüste, vielleicht fährt er auch
weiter in der Welt herum, bis er für sich und seinen Sohn eine
wichtige Frage beantworten kann.
Als Thomas und Sami die Trauerkarte aus Deutschland lesen, fragt ihn
sein Sohn am Ende:
"Was heißt das: Er ist nach einem erfüllten Leben zu
unserem Herrn heimgegangen?"
Thomas lenkt ab, aber Sami besteht auf einer Antwort:
"Ich weiß es nicht."
Dieses Buch war die erste Begegnung des Rezensenten mit der
Schriftstellerin Tanja Dückers. Sie hat ihn voll
überzeugt und ihm Lust auf ihr voriges Buch
"Himmelskörper" gemacht, in dem ebenfalls die Geschichte einer
Familie erzählt wird.
(Winfried Stanzick; 03/2006)
Tanja Dückers: "Der längste Tag des Jahres"
Gebundene Ausgabe:
Aufbau-Verlag, 2006. 213 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
Aufbau-Verlag, 2007.
Buch
bei amazon.de bestellen
Tanja
Dückers wurde am 25. September 1968 in Berlin (West) geboren.
Studium der Nordamerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte.
Für ihr schriftstellerisches Werk erhielt sie zahlreiche
Preise und Stipendien, die sie u. a. nach Los Angeles, Pennsylvania,
Gotland (Schweden), Barcelona, Prag und Krakau führten. Sie
schreibt auch Essays, Hörspiele und Theaterstücke.
Tanja Dückers lebt in Berlin.
Lien zu Tanja Dückers' Netzseite:
https://www.tanjadueckers.de/.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Hausers Zimmer"
Berlin 1982: Das Ende des Kalten Kriegs und die Wiedervereinigung schier
undenkbar, die geteilte Stadt im Niemandsland immer noch mit Einschusslöchern
und Ruinen, Insel und Frontstadt, eingeschlossen und kalt, ihre Bewohner
verkrochen in die Höhlen ihrer Hinterhofwinkel und Altbauwohnungen. Alltag in
einer von Gegensätzen geprägten Welt mit Poppern und Punks, Bürgerlichkeit
und Anarchie. In Mietshaus, Schulhof und Straße prallen Lebenswelten
aufeinander und werden ebenso wie die Ideale und Widersprüche der
Achtundsechziger aus heutiger Sicht mit doppelbödigem Humor geschildert.
Die Erzählerin Julika Zürn träumt sich hinaus in die weite Welt, nach
Patagonien - und mindestens ebenso sehnsüchtig in das Zimmer des
Motorradrockers Peter Hauser von gegenüber. Tagsüber bahnt sich die Tochter
eines Sammlers ihren Weg durch wuchernde Kunstwerke, markiert ihre Lieblingsorte
und macht sich ihren Reim auf die Welt. Während ihrer schlaflosen Nächte zieht
Hausers orange leuchtendes Fenster sie in Bann. (Schoeffling & Co.)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Spielzone"
Berlin, Ende der 1990er-Jahre, eine Stadt zwischen
Provinzialität und Szeneleben. In Neukölln und
Prenzlauer Berg - genauer in der Thomas- und der Sonnenburger
Straße - treffen beide Welten aufeinander.
Da sind zum Beispiel Elida und Jason, zwei Paradiesvögel in
Neukölln, die in schrillen Siebziger-Jahre-Klamotten
herumlaufen, in mehr oder minder seriösen Jobs Geld verdienen,
meist aber nur Musik hören, in der Badewanne liegen und
miteinander schlafen. Von den Nachbarn werden die beiden
Traumtänzer neugierig-wohlwollend beobachtet, von einem
biederen Angestellten sogar vom Dach einer Friedhofsgruft observiert.
So wie das Szenepaar der Inbegriff der unausgelebten
Sehnsüchte der Leute ringsum ist, so dient der Thomasfriedhof
als Ort nichtalltäglicher, abgehobener Aktivitäten:
für Partys oder eben Spannereien. Für die jungen
Leute ist Neukölln trotzdem ein langweiliger, fast
"verslumter" Bezirk, ohne Szene, Spaßkultur oder "Events".
Die gerade findet man im Prenzlauer Berg, und darum zieht auch die
Studentin Katharina dorthin. Sie trifft auf Szenegänger
zwischen zwanzig und dreißig, die ständig auf der
Suche nach angesagten "Locations" sind, "Eventhunting" betreiben und
natürlich ihr freizügiges Sexleben ausstellen.
Dennoch holen sie auch hier Gewöhnung und Überdruss
ein - und plötzlich geht es einfach wieder um so etwas
Altmodisches wie Liebe.
"Aus einem Augenwinkel sehe ich noch, wie die beiden in ihrer
über und über mit blauen Plastikblumen dekorierten
Badewanne liegen, Kiwis löffeln und ihre Zungen über
ihre Körper gleiten lassen. Müssen sie denn nie
einmal Dinge tun, wie den Müll runtertragen oder Schuhcreme
kaufen?"
Ein Roman voller merkwürdiger Geschichten und durchgeknallter
Gestalten. (Aufbau-Verlag)
Buch bei
amazon.de bestellen
"Café
Brazil"
Nach ihrem vielbeachteten Roman "Spielzone" legte Tanja
Dückers einen ebenso tempo- wie abwechslungsreich
erzählten Geschichtenband vor: Psychologisch verschlungen,
eigensinnig beobachtet und oft von hintersinniger Komik, stecken diese
Erzählungen um ganz normale Nervtöter, leichtsinnige
Kinder oder verwirrte Großmütter voll
zärtlicher Bosheiten und akribischer Perfidien.
Nathalie hat mit fünfzehn angefangen, eine Liste über
ihre Liebhaber zu führen. Nun sind es - sie hat vor zwei Tagen
nachgezählt - neunundneunzig. Plötzlich bereut sie,
diese Liste angelegt zu haben, eine ungute Ehrfurcht erfüllt
sie und ein Problem: Wer wird die goldene Nummer hundert? Schwankend
zwischen Zwanghaftigkeit und Selbstvergessenheit, wählt sie
einen seltsamen Kompromiss.
Lukas kommt mit einem Nachschlüssel in die Wohnung seiner
früheren Freundin, die jetzt mit Uwe, dem absoluten
"Anti-Lukas", zusammenlebt. Wenn die beiden nicht zu Hause sind,
schleicht sich Lukas ein und hinterlässt Spuren, um ein Moment
von Irritation in die Pärchenharmonie einzufädeln.
Lauri steht eines Tages mit Seesack und Brokatstirnband auf dem Hof
eines besetzten Hauses und fragt nach einem Zimmer. Von da an
tönt morgens ein lautes "Ooohm" durchs Haus, werden
Horoskope
in der Gemeinschaftsküche vorgelesen und Verletzungen mit
Tigerfett behandelt. Doch es gibt noch "Ungläubige" ...
(Aufbau-Verlag)
Buch bei
amazon.de bestellen
"Luftpost.
Gedichte Berlin - Barcelona"
Orte in Dückers' Heimatstadt Berlin werden zum Gegenstand der
poetischen Betrachtung: die eigene Wohnung mit dem Arbeitsplatz am
Rechner und dem morgendlichen Straßenlärm, kranke
Großstadttypen in der U-Bahn, Unentschlossenheit im
Supermarkt, die neue (inszenierte) Mitte. Die Beobachtung der Umwelt
und persönliche Empfindungen vermengen sich zu einem
Gesamtbild aus Großstadttristesse, schnellen Liebesabenteuern
und Szenebeschreibungen. Barcelona und Katalonien
sind Schauplätze des zweiten Teils. Es geht um mediterranes
Sich-Treibenlassen, um flüchtige Kontakte,
Sommernächte im Zelt und heiße Tage am Meer.
Fieberhaft saugt Tanja Dückers Eindrücke von Neuem
und Fremdem auf, ihre Verse zeugen vom intensiven Erleben des
Augenblicks und der Sehnsucht nach Freiheit. Tanja Dückers
literarische Streifzüge führen abschließend
in unterschiedliche, manchmal abgelegene Gegenden der Welt. Tokyoter
Schaufenster, einsame finnische Wälder, Zugfahrten in Asien
oder in namenlosen Flughäfen eingefangene Atmosphäre
liefern Mosaikstücke, die sich, vermengt mit
Erinnerungssplittern an Freunde, Geliebte oder Reisebekanntschaften, zu
den Gedichten des letzten Teils zusammenfügen. (Tropen Verlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Himmelskörper"
Drei
Frauen, drei Generationen: Zwischen Berlin und Polen ist eine
junge Wolkenforscherin einem Familiengeheimnis auf der Spur.
Tanja Dückers ist mit ihrem Roman mehr als ein vielschichtiges
Familienporträt gelungen: In nachhaltigen,
bildkräftigen Szenen stößt sie zum Kern von
Beziehungen und Erinnerungen vor.
"Es gibt so viel Ungeklärtes in unserer Familie, das mir
plötzlich keine Ruhe mehr lässt. Als hätte
eine Art Wettlauf mit der Zeit begonnen ... vielleicht ist es ein
unbewusster Drang, zu wissen, in was für einen Zusammenhang,
in was für ein Nest ich da mein Kind setze ..."
Freia, die
junge Meteorologin aus Berlin, ahnt mehr und mehr, dass es in ihrer ach
so normalen Familie nicht nur ein Geheimnis gibt, weswegen vertuscht,
gelogen, verdrängt wird. Was immer Freia erfragt oder
vermutet, alles scheint 1945 begonnen zu haben - an jenem bitterkalten
Morgen im Krieg, als die Großmutter mit Freias Mutter, damals
ein Mädchen von fünf Jahren, auf einem der letzten
Schiffe aus Westpreußen über die Ostsee fliehen
wollte. Freia, die jetzt selbst ein Kind erwartet, muss dieser
Geschichte auf den Grund gehen, um sich von der Vergangenheit zu
befreien. (Aufbau-Verlag)
Buch bei
amazon.de bestellen