Karl Gerstner:
"Marcel Duchamp: 'Tu
m' - Rätsel über Rätsel' "
"Dass es Duchamp war, der in der Kunst die kopernikanische Wende herbeiführte, ist eine Überzeugung, die seit langem nicht nur Eingeweihte teilen."
Die Kunst der Avantgarde - und um solche handelt es sich hier
- ist seit jeher befremdend und entfremdend. Befremdend? Wer wagte es zu bezweifeln.
Doch entfremdend? Gar wohl, denn sie führt denjenigen, der sich ernsthaft auf
sie einlässt, weg von den eingefahrenen Wahrnehmungsweisen des Alltags, entfremdet
von den Kategorien des Erkennens und Wertens, wie sie genormt und eingewöhnt durch
unsere Köpfe spuken. Wer sich also diesem Entfremdungsprozess bereitwillig hingibt,
wird sich gar bald in bis dahin völlig ungewohnten Wahrnehmungswelten heimisch
fühlen und zum Fremden werden in der vertrauten Welt des Gewohnheitsdiktats.
Der französische Maler und Objekt-Künstler Marcel Duchamp (1887-1968)
entfaltete sein Kunstschaffen vor dem Hintergrund kubistischer und dadaistischer
Einflüsse, wovon letztere sich als verzweifelte Reaktion auf jene bürgerliche
Ästhetik verstanden, die mit Hurrageschrei in den blutigen Wahnsinn des
Ersten
Weltkriegs gezogen war. Solcherart entwickelte sich, nicht zuletzt eben bei Marcel
Duchamp, eine Ästhetik der Antiästhetik, die sich zusehends aller Koketterie mit
konventioneller Kunstfertigkeit versagte, dem Virtuosentum eines zuweilen schon
lächerlichen Meisterkults der "Könner" abschwor und an die Stelle handwerklich
vollendeter Ausfertigungen ihrer eigentlichen Zweckbestimmung entzogene Gegenstände
des Alltags - so genannte "Ready-mades" - setzte, die bar jeglicher weiterführenden
künstlerischen Bearbeitung blieben. Konsequentester Ausdruck dieser allen künstlerischen
Gehabens enthaltsamen Kunstgesinnung war in etwa "Fontaine" (1917), ein schlichtes
Pissoirbecken aus Porzellan, dessen Kunstwesen allein in seiner Erwählung durch
die Definitionsmacht des Künstlers, der im konkreten Fall als "R. Mutt" (englisches
Wort für "Trottel") signierte, begründet war, welcher solcherart mit dem banalen
Ding eine konzeptuelle Idee verband. Er bestimmte es kraft seiner - mit ironischem
Gestus selbst in Zweifel gezogenen - Autorität zum Kunstwerk. Das war es dann
auch schon. Zu jener Zeit eine Provokation sondergleichen, die sich einer allgemeinen
Missbilligung gewiss sein konnte. "Das soll Kunst sein?" - Der Gemeinsinn hatte
seinen liebsten Feind gefunden, und Marcel Duchamp blieb der Rolle des agent provocateur
weiterhin treu, indem er von nun an selbst der herkömmlichen Ölmalerei entsagte
und zu einem Richtung weisenden Theoretiker der Anti-Kunst-Bewegung im Rahmen
der ästhetischen Moderne avancierte. Ein Künstlerphilosoph, der mit seiner Antiästhetik
die Kunstszene aufscheuchte und ihre institutionellen Verortungen in Frage stellte.
(Also die übliche Inszenierung von Museumskunst; bzw. die Isolierung von Kunst
in einem sich gegen die Lebenswirklichkeit abschließenden Rahmen.)
Duchamps Schaffen war weniger praktischer denn theoretischer
Natur, er betrieb die Intellektualisierung des Begriffs
vom "Schönen" (dessen
Loslösung von den bildenden Künsten), weshalb dann auch sein künstlerisches Gesamtwerk
- im Unterschied zu seinem kunstphilosophischen Vermächtnis - dem Umfang nach
denkbar dürftig blieb, obgleich er seine Ideen, wann immer möglich, zu vergegenständlichen
trachtete. Und dieses bei gleichzeitig penibler Wahrung der Distanz zu konventionellen
Kunstbegriffen, welchen der dadaistische Protest, mehr aus Gründen des Ekels vor
einer wahnwitzigen Kulturindustrie denn aus subversiver Gestik, für alle Zukunft
entsagen wollte. Selbst der in Künstlerkreisen so leidenschaftlich betriebene
Kult um das geniale Individuum wurde Duchamp in seinem Streben nach avantgardistischer
Wahrhaftigkeit zusehends widerwärtig, und er selbst agierte dann, mehr denn je,
unter (teils skurrilen oder auch aufreizenden) Pseudonymen. Rätselhaft und interpretationsbedürftig
blieb letztlich sein Werk, welches in seiner ultimativen Radikalität bis in unsere
Tage hinein gleichermaßen irritiert wie inspiriert. Und solcherart gewiss, als
Verführung zu einer Existenzweise ästhetischer Modernität, dem Begriff vom "Guten
Geschmack" eine gehörige Dosis Selbstbesinnung abnötigte, womit in Ironie und
tieferer Bedeutung allenfalls das Ende des Mythos vom Kunstschönen verkündet war,
ohne deswegen in der Tat zu beheben, was allgemein und anmaßender Weise gefällt
oder missfällt. Schlussendlich also ein Sturm im Wasserglas? Ein vorbeiziehendes
Unwetter viel eher, das uns allerdings unseren Begriff von der "ästhetischen Idee"
schärfen und neu beleben half, wie es anhand gegenständlichen Buches nur allzu
eindrücklich verdeutlicht ist.
Was erwartet nun den Leser bzw. den reflektierenden Betrachter,
dieses dünnen, da gerade einmal 56 Seiten starken, doch großformatigen, und ebenso
reich bebilderten wie inhaltsmächtigen Kunstbandes? Jedenfalls, soviel sei vorweg
verraten, nicht gerade anheimelnde - schlechthin gefällige - Bildkunst, die mit
angestaubten Begriffen wie "das ästhetisch Schöne", "das Anmutige und das Erhabene",
sowie "das Farbenfrohe und das Formvollendete" und dergleichen mehr und Ähnlichem
zu assoziieren wäre.
Nebst einem einleitenden Essay zur Person des Künstlers ist
Duchamps letztes "in Öl und Essig" gemaltes Bild "Tu m' " von 1918 zentraler Gegenstand
einer - ineinander synthetisierenden - Abfolge analytischer Betrachtungen. Dieses,
ein Ensemble von Gebilden wiedergebendes Bild aus dem Jahre 1918 ist dem Titel
nach schon ein Rätsel, das sich als "Tu m'aimes" ("Du liebst mich") oder aber,
so die häufigste Interpretation, als "Tu m'embêtes" ("Du langweilst mich") oder,
schärfer noch, "Tu m'emmerdes" ("Du kannst mich mal") auslegen lässt. Welche Deutung
nun dem gemeinten Sinn am nächsten steht? Man weiß es nicht und soll es wohl auch
nicht wissen. Rätsel über Rätsel. Eine faszinierend rätselhafte Welt tut sich
dem Betrachter sohin auf, die Welt des Marcel Duchamp, in welche sich der Schweizer
Grafikdesigner Karl Gerstner anhand dieses einen ausgewählten Bildes mit ungestümer
Neugier für das Befremdliche versenkt, um in zwanzig Analysen zu Format, Figürlichkeit,
Kompositionstechnik, Perspektivenkonstruktion, Farbgebung, und Linienführung sukzessive
Rätsel um Rätsel zu erhellen. Der Band "Tu m' " ist also durchaus auch, aber eben
nicht nur, als analytische Hommage an dieses einzelne, in den Focus erhöhter Aufmerksamkeit
gestellte Bild zu verstehen, welches als Auftragsarbeit für die Mäzenin Katherine
Dreier entstand und von Duchamp selbst als Rückfall in eine konventionelle und
viel zu dekorative Malerei disqualifiziert wurde, der er bereits drei Jahre zuvor
für immer entsagt haben wollte.
Die befremdliche Welt des Marcel Duchamps mag nach dieser eingehenden
Befassung mit Person und Werk (im Besonderen wie im Allgemeinen) zwar dunkel und
rätselhaft bleiben; doch ist es nicht so, dass vertrauter wird, was begrifflich
begreifbar geworden ist? Das
Abenteuer der ästhetischen Moderne,
am Beispiel eines ihrer extremsten Agitatoren, entfaltet sich solcherart über
nur 56 Seiten und macht dem empfänglichen Kunstfreund erfassbar, was gemeinhin
für unfassbar erachtet wird. Es ist eine dezidiert intellektuelle Annäherung an
den Kunstbegriff der Moderne, ganz nach Marcel Duchamps Wahlspruch: "Das Schöne
kann nicht länger eine Frage der bildenden Kunst sein." Oder, wie Karl Gerstner
in der Basler Zeitung vom 14./15. April 2002 zu Duchamp anmerkte: "Nicht die Retina
soll animiert werden, sondern das
Gehirn
dahinter. Die Kunst nicht als ästhetische Herausforderung, sondern als geistiger
Schluss mit dem verbreiteten Diktum: bête comme un peintre - dumm wie ein Maler."
Die Arbeiten des 1930 in Basel geborenen Karl Gerstners wurden
in zahlreichen Publikationen gewürdigt und werden - über die Welt verstreut -
in Museen gesammelt. Das Museum of Modern Art in New York veranstaltete 1973 unter
dem Titel "think program" eine Ausstellung über die Methoden und Philosophie seiner
Arbeit. Der Art Directors Club New York nominierte ihn für die Hall of Fame, der
Art Directors Club Deutschland wählte ihn 1992 zum Ehrenmitglied.
(Tasso; 06/2003)
Karl Gerstner:
"Marcel Duchamp: 'Tu m' - Rätsel
über Rätsel' "
Hatje Cantz, 2003. 56
Seiten, 28 farbige Abbildungen.
ISBN 3-7757-9126-4.
ca. EUR 24,80.
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