Wolfgang Hädecke: "Dresden"
Eine Geschichte von Glanz, Katastrophe und Aufbruch
800 Jahre Elbflorenz
Der
Autor - "Dresdner aus Überzeugung" - legt hier die "Geschichte von Glanz,
Katastrophe und Aufbruch" (Untertitel) einer der interessantesten deutschen
Städte vor. Die einstige Residenzstadt, fast völlig im Zweiten Weltkrieg
zerstört, erlebte zweifelsohne mit der
Wiedervereinigung 1989 einen starken
neuen Impuls, wofür der Wiederaufbau der Frauenkirche auch unabhängig von
jeglicher Religionszugehörigkeit ein hartnäckiges Dokument ist. Man mag über
Sinn und Unsinn der Rekonstruktion historischer Fassaden oder ganzer Gebäude
streiten - für Dresden hat dieser Wiederaufbau Symbolcharakter mit Strahlkraft
auf die gesamten sogenannten Neuen Bundesländer. Dresden - das ist Geschichte,
Architektur, Kunst, Musik - Semper,
Wagner, Kästner.
Hädecke ist ein
interessanter Erzähler, der mit vielen Details zu brillieren versteht. Man
sollte das Buch in Etappen lesen, um dabei entweder seine Erinnerungen
wiederzubeleben oder um einen Dresden-Besuch vorzubereiten bzw. zu flankieren.
Diese Stadt ist eben auch ein Paradebeispiel für den Überlebenswillen ihrer
Einwohner sowie für den Brückenschlag aus der ruhm- und schmerzreichen
Vergangenheit in eine moderne Gegenwart und Zukunft. Wie viele Systeme und
Katastrophen musste diese Stadt überleben - hier erhalten wir ein "Stadtpanorama
(...) in Gestalt von Geschichten, Aufzeichnungen, Dokumenten, Tagebüchern,
Briefen, Autobiografien, dichterischen Erfindungen und anderen Zeugnissen"
(Vorwort).
Schockartig beginnt das Buch mit der Apokalypse Dresdens, dem
13. Februar 1945, als
Man staunt über die
Raffinesse der
Zwinger-Architektur
- den "Doppel- und Kontrast-Eindruck von Auflösung und gleich-zeitiger,
gleich-örtlicher Stabilität" - ebenso über die unnachgiebige Integrationskraft
dieser Stadt, die aufeinanderfolgenden Architekturepochen und auch die
Zerstörung in ein lebensfähiges, verträgliches Ambiente zu harmonisieren. Die
Kapitel "Poesie und Malerei" und "Erich Kästner in Dresden" handeln u.a. auch
von Caspar David Friedrichs Affinität zu dieser Stadt, von E.T.A. Hoffmanns
Phantasmagorie "Der Goldene Topf" - jenem wahnwitzigen Kunstmärchen, das uns aus
Dresden bis nach Atlantis entführt. Und scheint dies nicht ein (ungewolltes?)
Gleichnis dieser Stadt zu sein, "dass in die reale, zeitlich, topografisch und
personell konkrete Dresden-Welt jederzeit das Irrationale, Fantastische,
Wunderbare, aber auch Gefährliche einbrechen kann"?! Wir lernen daraus: Dresden
ist kein Märchen, aber von Dresden aus kann man in eine wunderbare Welt
aufbrechen, ebenso wie in eine furchtbare, wie wir in Ausschnitten aus Hoffmanns
Tagebüchern erfahren können.
Abgesehen davon, dass Wagner und Semper
quasi vor der Industriellen Revolution aus Dresden flohen, musste sich Kästner
aus dem Hinterhof heraus behaupten. Heute sitzt er in Bronze auf der Gartenmauer
der Villa Augustin, in der ein kleines putziges Kästner-Museum aufbewahrt ist.
Sympathisch, dass Hädecke auch einige Fußballer würdigt, wie Helmut Schön und
Richard Hofmann. Wer weiß denn heute noch, dass Schön 700 Spiele für den DSC
absolvierte und dabei 650 Tore erzielte?! Ebenso wird Dresdens Rolle bei der
sogenannten Wende gewürdigt. Allerdings hat die Stadt auch knapp 14 Prozent
Arbeitslose und "verharrt (...) in einem Schwebezustand (...) wie das ganze
Land."
Wir müssen begreifen, dass Dresden - ähnlich wie Venedig -
eigentlich eine Metapher ist. Wofür? Das weiß man nach der Lektüre dieses
Buches. Es ist auch ein Positivum, dass Hädecke am Schluss diverse Aspekte der
Post-DDR-Geschichte kritisch reflektiert. Das Buch besticht insgesamt durch
ungeheuerliche Detailkenntnis sowie einen einfühlsamen aber auch
spannungsgeladenen Stil - es muss jeden halbwegs offenen Leser dazu verführen,
Dresden zu besuchen und wertzuschätzen.
(KS; 03/2006)
Wolfgang Hädecke: "Dresden"
Carl Hanser
Verlag, 2006. 416 Seiten.
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Wolfgang Hädecke, geboren 1929, ist
Spezialist für die Literatur und Literaturgeschichte des 19.
Jahrhunderts.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Theodor
Fontane. Biografie"
Mit Einfühlung und auch kritischer Distanz, immer
wieder aufgelockert durch übergreifende Betrachtungen, schildert Wolfgang
Hädecke das bewegte Leben Theodor Fontanes: von der Kindheit in Neuruppin und
Swinemünde über die Jahre als Apotheker und die ersten Schritte als angehender
Schriftsteller in Berlin, die Englandaufenthalte, die Zeit als
Kriegsberichterstatter in Frankreich bis zu den Jahrzehnten der journalistischen
und schriftstellerischen "Brotarbeit" und des späten Ruhms.
Gestützt auf die
Briefe, Tagebücher und Werke Fontanes zeichnet der Autor ein einfühlsames,
ausgewogenes Porträt des Menschen und Dichters und bietet dem Leser zugleich
erhellende Informationen zum Werk, von "Effi Briest" bis "Stechlin", sowie ein
farbiges Bild des sozialen, politischen und literarischen Lebens in Deutschland
im 19. Jahrhundert.
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"Poeten und Maschinen. Deutsche
Dichter als Zeugen der Industrialisierung"
Die industrielle Revolution
verwandelte im 19. Jahrhundert nicht nur die Welt, sondern auch das Bewusstsein
der Menschen. Wolfgang Hädecke stellt hier umfassend die Reaktion der deutschen
Dichter und Schriftsteller auf die Macht der Naturwissenschaft, der Technik und
der Industrie zusammen. Dabei wird deutlich, dass die Konflikte jener Zeit, die
Fragen, die damals aufgeworfen wurden, auch heute noch ungelöst und
unbeantwortet geblieben sind.
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Leseprobe:
Dresden leuchtet: Der Zwinger
Am
Anfang steht ein grundsätzliches Urteil von Fritz Löffler, dem Doyen der
Dresdner Architektur-Geschichtsschreibung: "Das Unternehmen des Zwingers ist mit
seinem Bauherrn August dem Starken, mit seinem Architekten Matthäus Daniel
Pöppelmann und dem Bildhauer Balthasar Permoser untrennbar verbunden. Nur das
Zusammenspiel dieser drei Kräfte gewährleistete die vollkommene Lösung des
großartigen, scheinbar mühelos gewachsenen Baus." Eindringlich zeigt der Zwinger
die Handschrift dieses Kurfürsten-Königs und absoluten Herrschers von hohem
Kunstverstand, der die beiden wichtigsten künstlerischen Lenker des Werkes mit
Charme und untrüglichem Gespür für Qualität auswählte und selber ständig mit
klugen Korrekturen, Vorschlägen und Anordnungen eingriff - in einem Umfeld, das
Harald Marx, der Direktor der Galerie Alte Meister, in doppelter Perspektive
einleuchtend ausmalt: Dresden sei als Residenz berühmt geworden, seine
künstlerischen Leistungen, denen es diesen Ruhm verdanke, seien als Aufträge des
Hofes oder doch aus Bedürfnissen der Residenz entstanden: "Sie wurden realisiert
von 'Hofkünstlern', die frei von Innungszwängen lebten, aber gebunden an
fürstliche Aufträge." Diese hätten gewiß häufig die Grenzen des Möglichen
überschritten, doch "es war die 'Verschwendung' des Königs, nicht das
ökonomische Denken des Magistrats der Stadt, was Dresden zu einer Kunststadt
höchsten Ranges machte."
Was schließlich den prunkvoll-repräsentativen
Gebäudekomplex mit dem scheinbar schlichten Namen ausmachte, begann am
Festungswall westlich des Schlosses zunächst mit dem Plan einer winterfesten
Orangerie, wo der Fürst, ähnlich wie bei seinem Porzellan-Enthusiasmus, der
unter Zeitgenossen verbreiteten Liebhaberei zu südländischen Pflanzen und
Früchten frönen wollte, die "paradiesisches und glückliches Leben"
symbolisierten (Heinz Quinger). Die Ansätze zur Orangerie als Keimzelle eines
das ursprüngliche Projekt nach Eigenart und Umfang weit übersteigenden Garten-
und Architekturwerkes entstanden an der nordwestlichen "Scharfen Ecke" der
Festung, der späteren "Bastion Luna", auf dem Zwinger genannten Raum zwischen
äußerer und innerer Mauer, wo auch das Zwingen, das Einsperren von Raubtieren,
möglich war. Wichtige Leitbauten der ebenso prächtigen wie sinnlich-heiteren
Repräsentations- und Festarchitektur wurden zwischen 1709 und 1719, dem
Hochzeitsjahr des Kurprinzen Friedrich August und der Tochter des
Habsburger-Kaisers Joseph I., Maria Josepha, errichtet. Die Anlage war aber zum
gigantischen Fest kurfürstlich-königlicher Selbstdarstellung noch nicht
vollendet; weitere Bauphasen folgten bis Ende der zwanziger Jahre, wobei die
Elbseite des ungefähr entlang einer gedachten Nordwest-Südost-Achse, um einen
rechteckigen Gartenhof gestalteten dreiseitigen Gebäude-Komplexes bis zur
Errichtung von Sempers Galerie Alte Meister (1849-1855) frei blieb.
Bemerkenswert, auch wegen des vielfachen königlichen Mitwirkens an den
Großbauten des Gesamtkunstwerkes: Die Entstehungszeit des meisterhaften, wenn
auch fragmentarischen Zwingers berührt sich an ihrem Ende mit dem Baubeginn von
Frauenkirche und Hofkirche!
Die inspirierende und steuernde Einflußnahme
Augusts des Starken, der als Prinz beim damaligen Oberlandbaumeister Wolf Caspar
von Klengel grundlegend in Architektur unterrichtet wurde, bestand in sehr viel
mehr als einer überlieferten, flüchtig hingeworfenen "Eigenhändigen Skizze zur
Orangerie im Zwingergarten", einem Grob-Entwurf von 1709, dem gegenüber
Global-Lobsprüche wie die des Biographen Faßmann aus Augusts Todesjahr 1733
übertrieben-schmeichlerisch ausfielen: "Solche milde Neigungen Sr. Majestät
haben sich auf alle Künste und Wissenschaften, die Bildhauer und die Mahlerey
erstreckt." Auf jeden Fall konnte der Monarch, wie Walter May mit gutem Grund
annimmt, gerade wegen seiner Kennerschaft der faszinierenden Materie auch ein
schwieriger Bauherr sein, zum Beispiel für August Christoph von Wackerbarth, den
Generalintendanten seines Bauwesens, und für die Architekturbeamten des
einflußreichen Oberbauamtes, denen er auch beim Zwinger-Projekt die Richtung
vorgab: Bei aller Toleranz und Weitherzigkeit blieb August immer der absolute
Herrscher, dessen Wille regierte. Dabei spielte zumindest zeitweilig die
Abstimmung des Zwinger-Unternehmens mit dem geplanten Neubau des nahe gelegenen
Schlosses eine Rolle - der Plan kam, auch aus finanziellen Gründen, über
gelungene Innovationen des Inneren nicht hinaus.
Dem Eingangssatz
Löfflers sei eine historische Epochenwürdigung von Marx zur Seite gestellt: "Es
waren die politische Aufwertung und die architektonische Verwandlung, die in
wenigen Jahrzehnten aus der kurfürstlichen Residenz der Wettiner eine
Königsstadt werden ließen, mit verschwenderischer Hofhaltung und wochenlangen
Festen, es waren aber auch die künstlerischen und musikalischen Interessen der
Herrscher, das Entstehen der noch heute berühmten Sammlungen und der
überwältigende Reichtum an kunsthandwerklichen und künstlerischen Leistungen,
die, in solchem Klima gefördert, mit einem Male auf den verschiedensten Gebieten
hervortraten, was diese Sonderstellung bewirkte." Interessanterweise hob der
Preußenkönig Friedrich der Große, der Dresden schon als Kronprinz kennengelernt
hatte, in der "Geschichte meiner Zeit", 1746 geschrieben, 1775 eigenhändig
redigiert, bei einer strengen Auswahl "schöner Kunst im Norden" mit Werken aus
Berlin, Wien, München, Mannheim, Ludwigsburg und Dresden für Sachsens Residenz
zwei in ihrer Sonderstellung noch ausgezeichnete Bauten hervor: die
Augustusbrücke und den Zwinger, beides Schöpfungen Pöppelmanns.
Der
Zwinger-Architekt, 1662 in Herford/Westfalen geboren, tauchte um 1680 in Dresden
auf und hinterließ zunächst keine Spuren, war aber, nach Ausbildung im
Oberbauamt, dort spätestens ab 1686 angestellt. Nach Jahren bescheidener
Positionen, aber genauester Studien des Dresdner Stadtbildes wurde er vom König
ob seiner exzellenten baukünstlerischen Fähigkeiten entdeckt und 1705 zum
Landbaumeister ernannt. Das war seine große, glänzend genutzte Chance: Als
Bauorganisator, Bauingenieur und Architekt, urteilt Marx, habe er in den
folgenden Jahren Hervorragendes geleistet und entscheidend dazu beigetragen, die
Residenz der sächsischen Kurfürsten zu einer wegen ihrer Bauten berühmten Stadt
zu machen. Auch habe es Pöppelmann durch Diensteifer und herausragende
künstlerische Leistungen verstanden, sich die königliche Gnade beständig zu
erhalten.
Der Monarch schickte seinen Künstler auf Studienreisen, damit
er neueste architektonische Errungenschaften und ihre Schöpfer vor Ort
kennenlernte. 1710 besuchte er Prag, Wien, wo er Fischer von Erlach traf, und
Rom, wo er barocke Meisterwerke des 17. Jahrhunderts studierte, zum Beispiel
Berninis kühnste Plastiken, seinen Palazzo Barberini und die Kolonnaden des
Petersplatzes sowie Borrominis Kirche der Päpstlichen Universität Sant’ Ivo alla
Sapienza, "die wohl kühnste Raumgestaltung des Barock". 1715 reiste Pöppelmann
nach Paris, wo er kurz vor dem Tod
Ludwigs XIV. in Versailles, dem
architektonischen Musterort des Sonnenkönigs, für den Zwinger, besonders für die
Inneneinrichtung, forschte.
Fügen wir hinzu, daß Pöppelmann, seit 1718
Oberlandbaumeister, in den drei Jahrzehnten seit 1705 ständig dienstlich auf
Achse war, so sieht man ein gewaltiges Pensum von Aufgaben und Leistungen vor
ihm aufgetürmt; dabei stand der unermüdliche Baumeister und Organisator ständig
"im Spannungsbogen zwischen Pflicht und schöpferischer Leistung, zwischen
Ingenieurbau und höfischer Repräsentation, zwischen der Anpassung des Hofbeamten
an gesellschaftliche Zwänge und den projektgewordenen Hoffnungen des Künstlers"
(Marx).
Nur eine Auswahl aus der Werkfülle, die er allein oder anteilig
bewältigte, kann hier aufgereiht werden: Neben anderen Wasserbauten, Toren und
Straßen der vielbewunderte Brückenneubau, dessen Erhöhung und Verbreiterung "in
den vollkommensten Stand" bis 1907 hielt, "die bemerkenswerte städtebauliche
Situation, daß eine an einem breiten Strom gelegene Stadt an beiden Ufern eine
gleichwertige Gestaltung erfuhr und die Stadtteile organisch miteinander
verbunden wurden" (Bächler) - auch durch die glanzvolle beiderseitige
Brückenkopf-Profilierung; genannt seien weiter die Außenbauleitung des - 1849
durch Beschuß und Brand vernichteten - Großen Opernhauses und die Neugestaltung
der Repräsentations- und Festetage im Schloß, 2. Obergeschoß, beide Bauaufgaben
für die Hochzeit 1719; die richtungweisende Mitwirkung Pöppelmanns bei der
Installierung des Grünen Gewölbes ab 1723 und beim Umbau des Holländischen zum
Japanischen Palais in der Neustadt; weiterhin der in der Forschung nicht
eindeutig geklärte Anteil am Ausbau von Schloß Pillnitz; die Leitung des Umbaus
von Schloß Moritzburg nördlich Dresdens zu seiner heutigen viertürmigen Gestalt
innerhalb der ursprünglichen Landschafts-Umgestaltung zum barocken Tiergarten;
die Mitwirkung an frühen Bauphasen des Taschenberg-Palais; anteilige
Entwurfsarbeit für mehrere Bürgerhäuser; schließlich der Beitrag zum Bau der
Matthäus-Kirche Friedrichstadt, wo der große Baumeister 1736 beigesetzt wurde,
und zu den Umsetzungs- und Neubauarbeiten der Dreikönigskirche, deren Inneres
George Bähr und Johann Gottlieb Fehre einrichteten; die Interimskirche, die der
Neustädter Gemeinde von 1732 bis 1739 diente, war das alleinige Werk
Pöppelmanns, ebenso die Weinbergkirche in Pillnitz.
Seinen die
Jahrhunderte überdauernden Ruhm begründete der Zwingerbau. Besucher bewundern
zugleich die fabelhafte, von einer ganzen geschundenen, aber nicht zerbrochenen
Bevölkerung gewünschte und mitgetragene Wiederaufbauleistung kongenialen
Nachschaffens, die mit Enttrümmerung, Sichtung und Rettung des Erhaltenswürdigen
schon in den ersten Nachkriegsmonaten begann. Die Besucher, der südwestlichen
Längsfront sich nähernd und auf der schlichten Holzbrücke über den
Zwinger-Wassergraben verharrend, stehen staunend vor dem einzigartigen
Kronentor, einem unwiderstehlichen, goldblitzenden Wahrzeichen dieser
Stadt.
Ursprünglich als Torpavillon mit "Hercules saxonicus" obenauf
projektiert, wovon noch ein überlieferter Entwurf Pöppelmanns von 1714 zeugt,
ragt das architektonische und bildnerische Kleinod im Mittelpunkt der
Langgalerie auf, die das Obergeschoß des Tores in einer Art Turmrotunde kreuzt.
Löffler deutet es als Nachfahren antiker Triumphtore und baut es in Sätzen nach:
"Durch einen kleinen Risalit ragt es aus der Langgalerie heraus. Flankiert von
Pilastern und vorgelegten doppelten und einfachen Säulenstellungen, die sich auf
über Eck gestellten Sockeln erheben, wird das erste Stockwerk mit stark
verkröpftem Gebälk und gesprengten Giebeln bekrönt. Etwas zurückgesetzt erhebt
sich das erste Geschoß mit seiner durchbrochenen Silhouette. Die vier tragenden
Pfeiler, die die Rundbogen begrenzen, sind ebenfalls durch Pilaster aufgelockert
und durch volle Ecksäulen betont. Verkröpftes Gebälk und gebrochene Giebel
leiten über zur Attika, auf der sich der figurale Schmuck drängt", durchweg
filigrane Kleinplastik von Menschen und Pflanzenwerk. Den vier Pfeilern
entsprechen vier Nischen; die an der Grabenfront zeigen zu beiden Seiten des
Durchgangs überlebensgroße Figuren: links den grandiosen Permoserschen Vulkan,
eine fast tragisch-dramatische, ins Riesige aufgetürmte Vergrößerung der
Jahreszeiten-Miniatur "Winter" vom Grünen Gewölbe, rechts einen sanft
lächelnden, an Kopf und nacktem Leib von prall-reifen Trauben und Weinblättern
bedeckten Bacchus, wohl ein Werk Kretzschmars. In den Nischen der Hofseite
korrespondieren mit den Frontstatuen, beiderseits und überlebensgroß wie diese,
links Permosers Ceres, rechts Egells Pomona, beide heiter und reiche Ernte von
Garben und Früchten spendend, jede mit einer kindlich-gierig bettelnden Putte am
rechten Bein. Über der dichtbevölkerten Attika aber steigt die dunkelkupferne,
zwiebelförmige Kuppel aus einem von Goldlaub und Goldmuscheln verzierten Sims
auf, großblättrige goldene Girlanden schmücken aufsteigend die Kuppelkanten, der
Zwiebelturm mündet in vier vergoldete polnische Adler und in die goldschöne
Königskrone: Dresden leuchtet!
Die Besucher schreiten schauend und redend
durch das Tor und betreten den Innenhof. Sie wenden sich ungefähr in
nordwestlicher Richtung nach links und sehen vor sich eine eigenartig
gespiegelte bauliche Verdoppelung: Wie Geschwister, um nicht zu sagen: wie
Zwillinge stehen zwei reichgeschmückte zweistöckige Gebäude auf gleicher Höhe
und Linie des Innenhofes rechtwinklig zu den Längsseiten der Anlage, mit
gehörigem Abstand voneinander, die dreiachsigen Schmalseiten einander
spiegelhaft zugewandt: linker Hand, der Innenstadt zu, der nach seinen kostbaren
Wissenschafts- und Technik-Kollektionen benannte Mathematisch-Physikalische
Salon, rechts, nach der Elbe zu, der Französische Pavillon, der früher den auf
Augusts Wunsch mit sächsischem Marmor erbauten Kunstsaal barg, dessen große
mythologische Gemälde, zum Beispiel vom berühmten Hofmaler Louis de Silvestre,
der Krieg 1945 unwiederbringlich zerstörte; beide Zwillingsbauten mit den
gleichen breitwirkenden neunachsigen und neunfenstrigen Längsfronten prächtig
ausgestattet, beide auf den Dachfriesen spiegelverkehrt mit denselben gedrängten
Schmuckwerken und Verzierungen - Figuren, Pflanzen, Wappen, auch Putten auf
Sockeln - befrachtet und überdies über den Fenstern des Erdgeschosses außer dem
mittleren durch weit ihre Flügel spreizende Adler belebt, beide durch
eingeschossige Bogengalerien mit dem wunderbaren Zentrum des Nordwest-Zwingers,
manche Enthusiasten rühmen: mit seinem Herzen, verbunden, dessen Vasallen sie
sind: mit dem Wallpavillon.
Die besondere, vielbewunderte, manche
Nachweltler aber auch irritierende Eigenart des Zwinger-Herzstücks hat Löffler
hyperbolisch zusammengefaßt: "Der gesamte Baukörper des Wallpavillons ist in
Bewegung und völlige Auflösung geraten, die Mauern scheinen plastisch gebogen.
Alle Horizontalen sind durch die fünf großen Bogenöffnungen der unteren Halle
ebenso wie durch die Fenster des oberen Geschosses und die Giebelaufbauten
gesprengt. Die ganze Architektur bewegt sich scheinbar über einen mächtigen
Mittelgiebel aufwärts zu dem die Welt tragenden
Herkules, der
den Pavillon bekrönt und als 'Hercules Saxonicus' überragt." Die Auflösung ist
allerdings eine - freilich mit höchstem Raffinement und genialer Kunstfertigkeit
erschaffene - Scheinbarkeit: Die Sprengung der Horizontalen wird nämlich durch
die dreifachen waagerechten Fenster-Querstreben, vor allem aber durch die sechs
streng senkrecht strukturierten Pilasterbahnen der Vorderfront konterkariert,
die vom Dachfries bis zum Plafond der Eingangstreppe oder umgekehrt ihre
vertikale Geradlinigkeit behalten - eine Linearität, die durch die zwölf
Pilaster-Hermen und deren nach unten fallenden Pflanzengirlanden nur scheinbar
verdeckt, für den vorurteilslosen Gesamtblick des Betrachters aber eher noch
bekräftigt wird - fehlte diese geniale Pilaster-Strenge, würde der herrliche
Bau, angetrieben durch das wallende Bewegungen des Mauerwerks suggerierende,
orgastische Schmuck-Festival über den Fenstern bis zur Weltkugel hinauf,
geradezu davonfliegen müssen.
Der Doppel- und Kontrast-Eindruck von
Auflösung und gleich-zeitiger, gleich-örtlicher Stabilität wird durch das Innere
des fabelhaften Bauwerks bestärkt: Es ist ja, vom fünffachen, wundervoll
verzierten Bogen-Torwerk der Vorderfront her, luft- und damit bis zu einem
gewissen Grade auch licht-offen, durchlässig, scheinbar labil. Trotzdem steht
die Halle innen unerschütterlich: durch dasjenige Instrumentarium, das womöglich
sogar Pöppelmanns erste, ursprüngliche Vision des Wallpavillons war: die Treppe.
Pöppelmann, so versichert uns Löffler, sei ein Meister der Treppengestaltung -
das ist wahr. Die hier in Rede stehende Treppe ist eigentlich ein
zusammengesetzter Komplex. Er beginnt unten auf dem Hofgrund mit einer Plattform
leicht segmentbogenförmig gestalteter Flachstufen; die Treppe führt zunächst mit
einem schnurgeraden, fünfzehnstufigen, breiten Anstieg ins luftige Halbdunkel
des offenen Hauses, gabelt sich vor dem Innen-Brunnen nach rechts und links in
zwei jeweils symmetrische und gegenläufig angelegte Teiltreppen mit erst 19,
dann 16 Stufen, Treppenstrecken, die zickzackartig zum Wall hochsteigen, wo sie
im Freien, unsichtbar für den Betrachter der Fassadenfront enden. Die
vollkommene Symbiose von Treppenanlage und Pavillonbau, den Eberhard Hempel
sogar "Gehäuse" nennt, schuf die wundervolle schwebende Festigkeit, die der
Besucher, hinauf- oder hinabsteigend, erlebt.
In dieser Symbiose
erreichten Pöppelmann und Permoser die Höhepunkte ihres Schaffens - zwei
Persönlichkeiten von sehr unterschiedlicher Couleur und Geschichte: Der Bayer
Permoser, bei seiner Arbeitsaufnahme am Zwinger schon um die Sechzig, mit
europäischer, zumal vierzehnjähriger italienischer Erfahrung, der gebürtige
Westfale Pöppelmann, über zehn Jahre jünger und, von einigen kürzeren
Studienreisen abgesehen, ganz auf das sächsische Baugebiet festgelegt -– zwei
unterschiedliche, dennoch kongenial zusammenarbeitende, ihre Ideen und Werke
beim Fürsten behauptende und durchsetzende Künstler schufen das Sinnbild dieser
Stadt, wobei Permoser auf seine reichbesetzte Werkstatt, auf Schüler und
exzellente Kollegen setzen konnte. Die wichtigsten Skulptoren in seinem Gefolge
waren Paul Egell, Schöpfer der schon vorgestellten Pomona und markanter
Männerköpfe als Giebel-Schlußsteine am Wallpavillon, Paul Heermann, der die
Paare Venus und Paris sowie Minerva und Juno links und rechts der
Mittelkartusche gab (und von dem eine meisterliche Porträtbüste Augusts des
Starken, jetzt in der Skulpturensammlung, stammt); ferner Johann Christian
Kircher, schon vom Großen Garten her vertraut, am Wallpavillon unter anderem mit
den Gruppen der geflügelt-menschlichen "Ostwinde" (Euros, Eos) und "Südwinde"
(Auster, Iris) sowie, fast humoristisch, mit zwei prallbusigen, dünn- und
langrohrige Trompeten blasenden Genien in der Mittelkartusche vertreten;
weiterhin Johann Joachim Kretzschmar, der vermutliche Meister des
Kronentor-Bacchus, und Benjamin Thomae, von dem eine Nymphe im Bad
stammt.
Aus dem überbordenden Schmuckwerk-Schatz des Wallpavillons
fallen, sozusagen auf dem Blickweg nach ganz oben, über dem zweiten und vierten
Tor zwei mächtige steinerne Adler mit halbgeöffneten Flügeln und starken
Krummschnäbeln auf. Über der Mittelkartusche mit Wappen und Krone, Genien-Musik,
kühnem Doppelschwung-Giebel aber steigt himmelwärts der königliche Athlet und
Atlas-Vertreter, "Hercules Saxonicus et Augustus", das rechte Bein auf den
felsigen Untergrund gestemmt, das linke mit überdimensionalem Oberschenkel
angewinkelt, die gigantische Last stützend, die den monumentalen,
schurzbewehrten und umhanggewärmten Heldenkörper beugt, den krausbärtigen, üppig
gelockten Kopf auf die muskelgeschwellte linke Schulter drückt, wobei rechte
Schulter, rechter Arm, linke Stützhand über Beugearm und Nacken die ungeheuere,
in der wehenden Luft geschwärzte Weltkugel heben, tragen, balancieren und
halten: Balthasar Permosers Huldigung für einen Halbgott in sächsischem
Sandstein.
Die Zwinger-Forschung ist sich darüber einig, daß diese
Huldigung für eine die ganze Anlage beherrschende direkte oder metaphorische
Glorifizierung des Stifter-Fürsten, Königs und Kurfürsten August durch
architektonische und skulptural-ikonographische Präsentation steht: "Wie kaum
ein anderes Bauwerk ist die Erscheinung des Zwingers durch ein ikonographisches
Grundmotiv geprägt, die antiken Sagen von Herkules und dem Garten der Hesperiden
mit ihren goldenen Äpfeln, die zu einer Apotheose des Bauherrn gesteigert
werden", konstatiert Walther May; Bildwerk, Relief und Skulptur, findet Michael
Kirsten, hätten im wesentlichen "einer Demonstration der Machtvollkommenheit von
August dem Starken in seiner Eigenschaft als Reichsvikar, König und Kurfürst"
gedient; Fritz Löffler erhebt die seinerzeitigen Bauaufgaben sogar zu einem
allgemeingültigen Epochenmodell: Der Grundsatz der Anspielung auf den
Auftraggeber sei bei allen repräsentativen Konzeptionen des Barock von
entscheidender Bedeutung gewesen; so habe man auch das Figurenprogramm des
Zwingers sowohl direkt als auch durch Allegorien auf August und seine Tugenden
bezogen. Die nahezu einhellige Interpretation einer durchaus spektakulären
Baukunst-Programmatik wird durch eine höchst kompetente zeitgenössische
Auslegung historisch untermauert: durch Pöppelmanns Vorwort zu seinem berühmten
Kupferstichwerk über den Zwinger von 1729. Es glorifiziert den "Hercules
Saxonicus", dessen "Bild-Säule theils als eines Ober-Aufsehers (...), theils als
eines Welt-Unterstützers, wie er die Himmel-Kugel auf seinen Schultern trägt, in
Abzielung auf die damahlige Reichs-Stadthalterschaft unseres heldenmüthigen
Königs, in der Höhe über der großen Treppe aufgestellt" ist.
Die
herkulische Gipfelfigur mit der Himmel-Kugel suggeriert noch eine andere
Variante der Anspielung, wenn schon nicht der Glorifizierung Augusti: seine
Männlichkeit und Sexualität. Sie drückt sich in der beinahe supermännischen
Körperlichkeit des Permoserschen Helden aus - in seiner siegreichen Nacktheit,
aber erst recht in der seltsam decouvrierenden Verhüllung des
herkulisch-königlichen Geschlechts durch eine schlangenartige Pflanze oder ein
Tuch, die den Phallus wie eine gierig umschlingende Hand packt, mit einem Griff,
der einer raffinierten, dem Künstler vielleicht nicht voll bewußten, in der
Verdeckung prahlenden Entblößung gleichkommt.
Dieser Eindruck wird -
vielleicht ebenfalls halb bewußt und jedenfalls assoziativ - durch die
eigenartige, aber zu den künstlerisch höchstrangigen Bildwerken des
Wallpavillons zählende Männergruppe der zwölf Hermen verstärkt. Sie wachsen -
zweimal drei, zweimal zwei, zweimal eine - mehrere Meter über der Plattform aus
den sechs Stammpilastern der Vorderfront, dicht unter dem breiten Fensterfries
heraus. Alle haben Männerköpfe, von denen keiner einem anderen oder einem
Jünglingshaupt gleicht, durchgebildete nackte Körper bis in die Bäuche herab und
muskelstarke Arme; die Beine stecken, sozusagen, in den
Pilastern.
Exemplarisch zeigt der Text jetzt die zwei dem Haupttor am
nächsten aufgebauten Hermen der linken Dreiergruppe von Permoser selbst. Zuerst
die innere Randfigur: Lorbeerkranz auf dem Kopf, großblickende Augen, das
Gesicht bei feinem Lächeln schön geschwungener Lippen mit eher leichtem,
nachdenklichem Spott; der muskulöse linke Arm nach oben angewinkelt, die Hand
hinter Kranz und unauffälligem Haar verborgen, der athletische rechte Arm über
der Brust angewinkelt, starke Muskeln und Sehnen, die Hand den linken Oberarm
greifend; Oberbauch und ein Teil des Unterleibs nackt, sportlich-muskulös
geformt, der Nabel leicht gehöhlt; Schoß und Scham mit Trauben und größeren
Früchten - Birnen, Äpfeln, Orangen und anderen Südfrüchten - dick bedeckt, wohl
auch Anspielung auf die goldenen Äpfel der Hesperiden; nach unten fortgesetzt
mit Ornament und hängender kleiner Fruchtgirlande, darin Ananas und Laubwerk:
geballte Fruchtbarkeitssymbolik und Zeugungskraft - wie beim "Hercules
Saxonicus" selbst?
Daneben die mittlere Figur im Dreigespann: ein
älterer, vielleicht sogar alter Mann, aber mit üppiggelocktem Haar an Oberkopf,
Wangen, Kinn, über die Schulter, die ganze rechte Körperseite bis in den Schoß
hinabgeschlängelt; bei nach links geneigtem Kopf ein höhnisch-verzerrter
Gesichtsausdruck: Satyrherme; beide Arme hinter dem Kopf verschränkt, Rippen und
Brustmuskeln kräftig, die Warzen spitz erigiert, der Unterbauch bis an die
Schamgrenze nackt, Nabel offen, ein dicker Schurzknoten über dem Geschlecht,
aufgedeckt durch demonstrative Verhüllung wie beim "Hercules" unter der
Himmel-Kugel - die gesamte Zwölfergruppe, deren Schöpfer mit der uralten
Zauberzahl assoziativ zu spielen scheinen, ist vor allem in den Physiognomien
zwischen sanfter Heiterkeit und Satyr-Fratzen wunderbar ausdifferenziert - und
strömt zugleich durch ihre künstlerisch vollendete, erstaunlich jung wirkende
nackte Körperlichkeit starke erotisch-sexuelle Attraktion und Macht aus: Der
gewollte oder ungewollte Bezug zur Majestät Augusti ist auch in der
Hermen-Phalanx unübersehbar. (...)