Roddy Doyle: "Jazztime"
Henry Smart, der aus Roddy Doyles Roman
"Henry der Held" bekannte Protagonist, ist seinen Häschern in Irland entkommen
und hat nun die Neue Welt
erreicht:
das New York der frühen 1920er Jahre. Dort kann er sich mit seinem Charme und
seinem Aussehen sowohl bei den Frauen als auch bei prospektiven
Geschäftspartnern rasch beliebt machen. Er arbeitet zunächst als wandelnde
Werbewand, bis er eine Möglichkeit findet, diese Tätigkeit zu
professionalisieren und sich in diesem Bereich selbstständig zu machen. Aber
getrieben von eigenem Ehrgeiz und diversen Frauen in seinem Leben beginnt er
bald, auch in andere Arbeitsbereiche auszugreifen und ist folglich schnell mit
der organisierten Kriminalität im Zusammenhang mit der Prohibition verbunden.
Das soll sich als ziemlich ungesund herausstellen ...
So muss Henry New York
nach einigen Rückschlägen überstürzt verlassen und sich auf den Weg in den Süden
machen.
Im Süden, genauer in Chicago, trifft er auf einen hervorragenden
Musiker und wieder auf eine gefährliche Frau. Beide sollen sein Leben in den
folgenden Jahren maßgeblich beeinflussen. Der Musiker ist ein junger Trompeter
namens Louis Armstrong, und kurz nachdem Henry dessen Bekanntschaft gemacht hat,
bietet Armstrong dem jungen Einwanderer eine recht ausgefallene Stellung. Denn
Henry hat auf seinem Weg in den Süden etwas kennen gelernt, das er so bisher
noch nicht kannte: die Rassentrennung.
Im vom rassischen Denken absolut
unbeleckten Henry sieht Louis Armstrong eine gute Schutzwand zwischen sich und
einer ihn eigentlich ablehnenden Umwelt.
Doch auch in Chicago und anderen
Städten wird Henry immer wieder von der Vergangenheit eingeholt, die er
eigentlich gehofft hatte in Europa zurück gelassen zu haben, und die zu den
unwahrscheinlichsten Zeitpunkten und an den unmöglichsten Orten ihren Kopf
erneut empor reckt. Die Gespenster der Vergangenheit treiben ihn schließlich
weiter über den amerikanischen Kontinent.
Dabei begibt sich Henry für einige
Zeit sowohl auf die Spuren so typischer amerikanischer literarischer Größen wie
Jack
London und
John
Steinbeck, denn Henry geht als guter Ire stets am unteren Rande der
Gesellschaft entlang und landet immer - mit dem sprichwörtlichen Glück der Iren
- dort, wo das Elend im Moment am größten zu sein scheint.
Gegen Ende des
Romans werden die literarischen Anklänge, speziell an Jack Londons "Abenteuer
des Schienenstrangs" und John Steinbecks "Früchte des Zorns", stärker, doch bis
zu diesem letzten Teil ist "Jazztime" durchwegs interessant und bildet sowohl
die Zeit als auch die Menschen der 1920er und 1930er Jahre lebendig ab, bis
Henry schließlich dort hin kommt, wo man ihn sowieso früher oder später erwartet
hätte ...
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2006)
Roddy Doyle: "Jazztime"
(Originaltitel "Oh,
Play That Thing")
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann.
Carl Hanser
Verlag, 2006. 480 Seiten.
ISBN 3-446-20714-7.
Buch bei amazon.de bestellen
Roddy Doyle, 1958 in Dublin geboren,
ist einer der bekanntesten Vertreter der neueren irischen Literatur. Für seinen
Roman "Paddy Clarke Ha Ha Ha" erhielt er den renommierten Booker Prize. Roddy
Doyle lebt in Dublin. Mit "Das große Giggler-Geheimnis" gelang ihm auch als
Kinderbuchautor ein grandioses Debüt.
Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Henry der Held"
Henry ist arm, hungrig und ein wahrer
Prachtkerl - der König der Straßen von Dublin. Schon mit vierzehn mischt er beim
Osteraufstand 1916 mit. Er ist ein Rebell auf einem gestohlenen Fahrrad, ein
Freiheitskämpfer - eine irische Legende.
Buch bei amazon.de
bestellen
"Rory & Ita. Eine irische
Geschichte"
Rory und Ita beschreiben ihr einfaches Leben und ihre Liebe
in einem noch weitgehend ländlichen Irland. Abwechselnd erzählen sie von ihrer
Kindheit und Jugend im Irland der 1920er und 1930er Jahre, von ihren Berufen als
Schriftsetzer und Hausfrau, von Heirat, Familie und Festen. Aus Anekdoten und
sinnlichen Erinnerungen an
Farben, Geräusche und
Gerüche entsteht das Mosaik
eines ganzen Lebens. Eine liebevolle Annäherung Doyles an seine Eltern und ein
persönliches Dokument irischer Geschichte. (Hanser)
Buch bei amazon.de bestellen
"Paddy Clarke HaHaHa"
Es ist
1968. Patrick Clarke ist zehn Jahre alt, und abends sitzt er vor dem Fernseher,
knabbert Chips und sinniert über die amerikanischen Soldaten, die im
Mekong-Delta gegen "Gorillas" kämpfen. Er liebt den Geruch seiner Wärmflasche
und das Gefühl im Mund, wenn er eine Lebertrankapsel zerbeißt. Er hasst
Zoos,
lässt sich ungern küssen und empfindet die Jungs aus der neuerbauten
Sozialsiedlung als seine natürlichen Feinde. Seinen kleinen Bruder Sinbad kann
er nicht ausstehen, dafür ist Kevin sein bester Freund, mit dem er Fußball und
Verbrechen spielt. Dennoch ist Paddys Welt alles andere als heil: Sein Vater
trinkt zuviel und streitet immer häufiger mit seiner Mutter, und schließlich
bekommt auch die Freundschaft mit Kevin einen Riss. Ohne Psychologisierungen,
unsentimental und nüchtern, zeichnet Doyle das Leben dieses kleinen Jungen nach,
der aus dem Paradies der
Kindheit vertrieben wird. Ein einfühlsames,
stilsicheres Porträt eines zehnjährigen Jungen und seiner Welt.
Buch bei amazon.de
bestellen
"Die Frau, die gegen Türen
rannte"
Roddy Doyle erzählt Paulas Geschichte. Es geht um ihre große
Liebe, Charlo, um ihre Ehe mit diesem Mann, zu dem sie hält - auch wenn er sie
jahrelang immer wieder schlägt. Es geht um die Liebe Paulas zu ihren Kindern und
um die Flucht in den Alkohol. Und es sind die kleinen Siege, die Paula die Kraft
geben, weiterzumachen.
Buch bei amazon.de
bestellen
"Rover rettet
Weihnachten"
Der Weihnachtsmann hat ein Problem, und das trägt den
schönen Namen Rudolf. Just am 24. Dezember leidet das rotnasige Musterexemplar
eines Rentierbullen an einer Verkühlung, vor allem aber an grober Unlust. Ersatz
muss her, und zwar ein echter Könner! Wer käme da ernsthaft in Frage außer
Rover, dem Hund, der jede Abkürzung kennt?
Mit den Mack'schen Kindern und
zwei versehentlich nach Lappland gebeamten Echsen im Schlepptau starten Rover
und der Weihnachtsmann den Wettlauf gegen die Zeit. Aber schon kitzeln die
Strahlen der aufgehenden Sonne sie im Nacken! Werden sie es schaffen, allen
Kindern von Australien bis Alaska in der Nacht auf den 25. Dezember ihr Geschenk
zu bringen? Immerhin geht es um die Glaubwürdigkeit des Weihnachtsmannes. Und
was wäre der, wenn das Unternehmen misslänge? Doch nichts weiter als ein alter
Mann mit weißem Bart wie Millionen andere!
Buch bei amazon.de
bestellen
"Das große
Giggler-Geheimnis"
Mister Mack ist auf dem Weg zur Arbeit, als er
geradewegs auf einen gigantischen Hundehaufen zusteuert, der mitten auf dem
Bürgersteig liegt. Ein
Zufall? Keineswegs, die Sache ist geplant. Von wem? Von
den Gigglern, kleinen elfenartigen Wesen, sie es sich seit die Welt besteht zur
Aufgabe gemacht haben, Erwachsene, die gemein zu Kindern waren, auf diese Weise
zu bestrafen. Das große Giggler-Geheimnis, so nennen sie diese Form der Strafe.
Und nun wartet es auf Mister Mack. Doch warum? Am Abend zuvor haben die Giggler
beobachtet, wie er seine beiden Söhne Jimmy und Robbie ohne
Abendessen ins Bett
schickte, weil sie beim Fußballspielen eine Fensterscheibe kaputt gemacht
hatten. Begeistert, ein neues Opfer gefunden zu haben, blieben sie nicht länger
im Mack’schen Garten und erfuhren so nicht, dass sich Mister Mack von seiner
Frau umstimmen ließ, die Jungs doch noch zum Abendbrottisch zu holen.
Als die
Giggler am nächsten Morgen durch Zufall doch noch erfahren, dass sie gerade
dabei sind, einen Unschuldigen zu bestrafen, ist Mister Macks Schuhsole nur noch
Zentimeter vom größten, stinkigsten Hundhaufen entfernt, den die Giggler jemals
verwendet haben. Eine haarsträubende Rettungsaktion beginnt, bei der nicht nur
die Giggler, sondern auch die drei Mack’schen Kinder Jimmy, Robbie und das Baby
Kayla, Misses Mack und
der Hund
Rover eine wichtige Rolle spielen.
Das Besondere an "Das große
Giggler-Geheimnis" ist nicht allein die Idee, sondern auch die Art und Weise,
wie die Geschichte erzählt wird. Dramaturgisch perfekt treiben zahlreiche
Ablenkungen und Nebenhandlungen die Spannung ins geradezu Unerträgliche. Komik
und Wortwitz wechseln sich mit Spannung und Handlung ab, sodass hin und wieder
auch für den Leser eine Verschnaufpause gestattet ist.
Geeignet zum Vorlesen
für die ganze Familie und zum Selberlesen. (Ab 8 J.)
Buch bei amazon.de
bestellen
"Paula Spencer" zur Rezension ...
Weitere Buchtipps:
Frank
McCourt: "Die Asche meiner Mutter"
Frank McCourts Erinnerungen an seine
Jugend in den 1930er Jahren gehören zum Schrecklichsten und zugleich Schönsten,
was je über Irland und
die irische
Seele geschrieben wurde.
Buch bei amazon.de
bestellen
zur Rezension ...
Frank McCourt: "Ein rundherum tolles
Land"
Die Fortsetzung von Frank McCourts Lebenserinnerungen. Sie beginnt
dort, wo der erste Teil endet, auf einem irischen Schiff vor der Stadtsilhouette
von New York, und der Funkoffizier fragt den neunzehnjährigen Frank: "Ist das
hier nicht ein rundherum tolles Land?"
Frank McCourts Freunde kennen das
Geheimnis seines Erfolgs, hören sie ihm doch ganze Nächte lang zu und können
nicht genug bekommen. Er ist ein wahrer irischer Geschichtenerzähler, ein
"seanachie", für den eine Geschichte erst dann gut erzählt ist, wenn die Leute
nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen.
Als er mit neunzehn Jahren
von Irland nach Amerika geht, hat er nichts außer der Hoffnung auf eine bessere
Zukunft. Arm, mit schlechten Zähnen und entzündeten Augen, ohne jede
nennenswerte Ausbildung, erreicht er das Land seiner Träume - und muss
feststellen, dass er mit seinem Aussehen und seinem Akzent ein Nichts ist. Mit
Hilfe eines gar nicht frommen katholischen Priesters, der demokratischen Partei
und der US Army gelingt es ihm jedoch, sich im Land der Schönen und Reichen zu
behaupten, auch wenn die Stationen seines Werdegangs recht ungewöhnlich sind:
Hoteldiener, Hafenarbeiter, Soldat, nicht im Korea-Krieg, sondern in Bad Tölz,
einer Kleinstadt in Bayern, wo er vom Hundeabrichter zum Materialverwalter
(Zuteilung von Decken, Kissen, Kondomen) aufsteigt ... Trotz aller Widrigkeiten
wird er High-School-Lehrer - dank der GI-Bill, seiner Liebe zur Literatur und
seines unverwüstlichen Humors -, gründet eine Familie und holt seine Mutter und
seine Brüder aus Limerick nach. Ende gut, alles gut? Seine Frau ist eine
Protestantin, abends zieht er durch die irischen Kneipen der Stadt und erzählt
Anekdoten aus seinem Leben, und auch nach Limerick kommt er noch einmal: um dort
die Asche seiner Mutter auf die Gräber der Familie zu streuen ...
Frank
McCourts zweiter Erinnerungsband über die Jahre in Amerika steckt voll der
unglaublichsten Geschichten über Priester und Jungfrauen, über irische Kneipen,
bayerische Bierkeller und die merkwürdigen Sitten der Amerikaner im allgemeinen,
geschildert mit Frank McCourts unnachahmlicher Mischung aus Traurigkeit und
Witz.
Buch bei amazon.de
bestellen
Hugo Hamilton: "Gescheckte
Menschen"
Der irische Erzähler Hugo Hamilton erinnert sich an seine
ungewöhnliche Kindheit. Als Sohn eines irischen Vaters und einer deutschen
Mutter beseelte ihn ein Kinderleben lang nur ein Wunsch: endlich irgendwo
hinzugehören. Nach Frank McCourts Erfolgsbuch "Die Asche meiner Mutter" ein
weiteres lebenskluges Erinnerungsbuch aus Irland.
Hugo lebt in einem Land,
das auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Der kleine Junge wurde in Irland
geboren und wächst in Dublin auf, er geht jeden Abend in Deutschland zu Bett und
steht am Morgen in Deutschland wieder auf. Er und sein Bruder tragen Lederhosen
aus Bayern und Aran-Pullis aus Connemara, und sie sprechen kein Englisch, dafür
aber Deutsch und
Gälisch, was niemand in ihrer Straße versteht. Denn Hugo und
seine Geschwister sind "braec" - gescheckt, eine Mischung verschiedener
Elemente, die zu einem neuen Ganzen zusammengefügt wurden. Die Mutter ist aus
dem kriegszerstörten Deutschland geflohen, der Vater will mit seiner Familie ein
Bollwerk gegen alles Englische errichten. Es ist ein Traum, den er alleine
träumt. Hugo registriert den hilflosen Nationalismus des Vaters und die Trauer
der Mutter. Er sieht ihre Tränen und lässt sich doch von ihren sanften
Trostgeschichten verzaubern. Aber wo genau ist sein Platz in dieser Welt? Was
genau ist Heimat?
Ein faszinierendes Buch, das hinter jedem Wort das
Schweigen, hinter der Liebe die Einsamkeit und hinter jedem Witz die Trauer
spüren lässt. Kongenial übersetzt
von Henning
Ahrens.
Buch bei amazon.de
bestellen
Leseprobe:
In New York konnte ich mich eingraben. Das sah ich
schon vom Schiff aus, als wir unter einem kalten Morgenhimmel, der hinter mir
rasch heller wurde und den Dunst von der schieferfarbenen Wasserfläche vertrieb,
an der Freiheitsstatue vorbeifuhren. Was sich da über mir auftürmte, war
Manhattan. Winzig klein machte es die Leute um mich herum. Alle starrten auf
diese von Menschenhand gemachten Klippen und die noch höher ragenden Klippen
dahinter, die weit in dieses Land Amerika hineinreichten und den Menschen den
Zugang verwehrten. Ich sah die Furcht in ihren Augen.
Augen, in die ich
sehen konnte, ohne daß ich Angst haben mußte, erkannt zu werden. Es waren keine
irischen Gesichter, und an den Mantelsäumen war keine irische Erde, sie waren
quer durch Europa geschleift worden. Hier reisten ganze Familien, drei und vier
Generationen; die Iren reisten allein. Uralte Frauen mit eingefallenen, bösen
Gesichtern, die Hände um Taschen gekrampft, die sie über einen ganzen Erdteil
mitgeschleppt hatten, Taschen voll von Bindfäden und Eierschalen und Steinen aus
den Mauern verlorener Häuser. Dahinter ihre Männer, unter Bärten versteckte
Gesichter, die Augen noch jung und kampfbereit. Sie bewachten die Kisten und
Kästen zu ihren Füßen. Und ihre Söhne und Töchter, Enkel und Enkelinnen, unter
gestickten Umschlagtüchern und schwarzen Mützen, und ganz kleine Kinder und
schwangere Mädchen, neben denen magere Jungen standen und saßen - alle
eingeschüchtert durch die näher rückenden Klippen der Stadt. Selbst die Jüngsten
spürten, daß ihre Aufgeregtheit unerwünscht war, und blieben stumm, als die
Reliance kleine Wellen nach Bedloes Island und zu der dicken steinernen
Amerikanerin hinüberschickte - schickt mir die Armen und Geschlagenen, die
Heimatlosen schickt, vom Sturm getragen -, während ihre Eltern und Großeltern
der Neuen Welt entgegenfröstelten und sich fragten, ob das, was sie sahen, ihre
Vorder- oder Rückfront war. Ich war der einzige alleinreisende Mann, der
einzige, der keine Angst vor dem hatte, was da vor uns hochwuchs. Hier konnte
man abtauchen, konnte, wenn man wollte, sterben und zu einem tollen,
temporeichen Leben wiedergeboren werden.
Ich war angekommen.
Vor
Manhattan aber drehten wir ab, fuhren fast wieder hinaus in die Nacht und nahmen
Kurs auf New Jersey. Um mich herum wurde es noch stiller, als die Insel langsam
vor uns auftauchte - die letzten paar Quadratmeter der alten grausamen Welt, die
in allen an Bord gesprochenen Sprachen genauso hieß und die nun immer näher kam:
Isola delle lacrime, Träneninsel. Ellis Island.
Hunderte von schlurfenden
Fußen, eingesperrt unter der gewölbten Halle, in der Luft das Geraune der
Millionen, die sie schon passiert hatten, die Schluchzer der Tausende, die man
aufgehalten und zurückgeschickt hatte. Ich horchte auf das Tocktock eines
berühmten Beines, aber ich hörte nichts. Alte Männer versuchten, allzulang
gekrümmte Rücken zu straffen, Mütter rubbelten rücksichtslos Farbe in die
blassen Wangen ihrer Kinder. Wilde Männer fuhren sich mit den Fingern durch
lange Bärte und bereuten, daß sie sich nicht rasiert hatten, ehe sie von Bord
gegangen waren. Jüdinnen streichelten die Schläfenlocken ihrer Söhne und
versuchten, sie unter Mützen zu verstecken. Bruchstücke der neuen Sprache wurden
ausprobiert, von Mund zu Mund gereicht.
"Ja, Sir."
"Nein,
Sir."
"Mein Vetter, er haben ein Haus."
"Ich bin ein
Farmer."
"Qu-eens."
Der Amtsarzt sah mir in die Augen. Ich wußte,
wonach er suchte. Ein hinkender, kurzatmiger Anarchist, der seinen siebten
Einwanderungsversuch unternahm, hatte mich gründlich aufgeklärt.
"Sie
sehen dein Hinkebein, aber nicht dein Hirn", hatte er gesagt. "Idioten! Sobald
sie kapiert haben, daß ich zu gefährlich für ihr Land bin, will ich ihm gern den
Rücken kehren. Bis dahin pendele ich weiter zwischen Southampton und ihrem Ellis
Island."
"Wenn du dir die erste oder zweite Klasse leisten
könntest",
sagte ich, "hättest du es nicht nötig, auf Ellis Island an
Land zu gehen."
"Wem sagst du das? Leisten kann ich's mir. Ich will aber
nicht."
Der Gesundheitsinspektor suchte nach Anzeichen von Trachom in
meinen Augen und von Wahnsinn dahinter. Viel Zeit konnte er sich nicht nehmen,
das konnte keiner. Er fand keinen Grund, mich zurückzuschicken. Links von mir
malte ein Inspektor mit einem nagelneuen Stück Kreide ein großes L auf eine
Schulter. L wie Lunge. Ich kannte die Symptome von klein auf. Der Mann mit dem
nagelneuen L hatte schon aufgegeben. Er sackte zusammen und hustete sich
halbtot, sie mußten ihn wegtragen. Ein A auf der Schulter bedeutete schlechte
Augen, ein H bedeutete Hinken. Und es gab noch mehr Buchstaben, nur daß sie für
die keine Kreide brauchten: J für zu jüdisch, C für Chinesen, SO für zu weit
südlich und östlich von Budapest, H für Herz, K für Kopfhaut, X für
gestört.
Und H für hübsch.
Die Wachposten traten zurück, und ich
ging die paar Schritte zum nächsten Schalter, ließ meine Hacken auf die Fliesen
knallen. Zwei schöne Schwestern hielten sich engumschlungen, als man sie
beiseite schob. Für Frauen ohne Eltern oder Kinder war die Gefahr zu groß, daß
sie auf den Kais von Manhattan oder New Jersey in unrechte Hände kamen. Wenn
diese beiden Glück hatten, durften sie auf der Insel bleiben, bis sich Verwandte
fanden, die sie aufnahmen; mit etwas weniger Glück wurden sie begrapscht und
durften dann passieren; wenn es mit dem Glück überhaupt nichts werden wollte,
wurden sie deportiert, das heißt zurückgeschickt, ehe sie angekommen
waren.
Ich gab dem Einwanderungsbeamten meinen Paß und meine Papiere. Er
schlug den Paß auf und sah den Zehn-Dollar-Schein, den ich hineingelegt hatte.
In Null Komma nichts war der Schein weg. Ich hatte ihn dem asthmatischen
Anarchisten abgenommen, dem tat das nicht weh. Dann kam der
Katechismus,
kamen die Fragen, in denen ich sattelfest war. (...)