Carlos María Domínguez: "Wüste Meere"
Erzählungen
Meere, Männer und
Maschinen
Der für den deutschsprachigen Markt von Cosima Schneider
unter Bearbeitung eines Ausschnittes eines in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts entstandenen Holzschnittes ("Die Große Welle / Woge" aus der
Bilderserie "Ansichten des Berges Fuji") von Katsushika Hokusai leidlich
geschmackvoll gestaltete Buchumschlag verheißt vorab ästhetische
Hochgenüsse.
Die Originalausgabe ziert hingegen eine vergleichsweise ruhige
Abbildung, dem Schreibstil des Autors deutlich besser entsprechend: Unter einem
die beiden oberen Drittel des Buchdeckels füllenden wolkenverhangenen Himmel
treibt ein rotes Kleinboot auf stillem Wasser, welches das verbleibende Drittel
bedeckt.
Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Domínguez' sieben Erzählungen
inhaltlich nie und nimmer mit der Wirkung oder Klasse des japanischen
Holzschnittes mitzuhalten imstande sind, der Verlag also gut beraten
gewesen wäre, ein weniger herausforderndes Motiv als Titelbild zu wählen. Ein
weiterer Kritikpunkt: Das Lektorat lässt zu wünschen übrig.
Während das
Bild "Die Große Welle" die sich menschlichen Maßstäben gänzlich
entziehende Schönheit der Naturgewalten ebenso wie deren Bedrohlichkeit
thematisiert, beschäftigen sich Carlos Marías Domínguez' Erzählungen
hauptsächlich mit dem inneren Wogen menschlicher Gefühle. Die Geschichten
plätschern mittelprächtig dahin, doch trotz allgegenwärtigen Wassers überkommt
einen während der Lektüre der Eindruck, gestrandet zu sein, auf dem Trockenen zu
sitzen. Dies soll freilich nicht heißen, dass sich nicht die eine oder andere
Zuchtperle innerhalb der Geschichtenmuscheln auffinden ließe.
Beispielsweise begegnet ein Icherzähler in Rosario unter
kuriosen Umständen seinem mittlerweile alkoholkranken Jugendidol ("Johnnys
Bekenntnis"), und dieses Aufeinandertreffen verläuft für beide
ernüchternd im Wortsinn, ein anderer Erzähler kann nur dank einer Schicht
Reiherkot am Río de la Plata Regen, Sturm und Hochwasser trotzen ("Der Baum
mit den Reihern"). Die übrigen Geschichten ("Mancuso", "Die Falle im
Sand", "Delta", "Brände") erzählen vom hauptsächlich eintönigen, bisweilen
jedoch nervenaufreibenden Leben an Bord wuchtiger Schiffe, von Einsamkeit,
Fernweh, Sehnsucht und missglückten Beziehungen, von zwischen die Fronten
geratenden Kähnen, gestrandeten Frachtern, gescheiterten Bergungsversuchen, von
Todesfällen, dunklen Geheimnissen in der Brust mancher Matrosen, und natürlich
wird auch Seemannsgarn gesponnen.
In der letzten Geschichte, "Eine
aufrichtige Unterhaltung", sprechen der polnische Maschinist Mirko und der
spanische Zweite Offizier auf der von Melbourne nach Pusan fahrenden "Fidschi"
tüchtig dem Grappa zu und jeder seine jeweilige Muttersprache, woraus eine für
den Leser unterhaltsame (weil in deutscher Sprache abgedruckte) Unterhaltung
voll vermeintlichen Einverständnisses resultiert, denn "... nichts ist
besser, als die eigene Sprache zu sprechen. Das ist wie das Pissen mit voller
Blase. Man lässt alles raus und entspannt sich. Man lässt alles raus und fühlt
sich leichter." Allzu entspannend soll die Nacht für die beiden Zecher
allerdings nicht enden, nachdem sie den Grund für den Ausfall der Klimaanlage
entdeckt haben ...
Carlos María Domínguez über sein Buch: "'Wüste
Meere' erzählt Geschichten über die Leerräume des Wassers; einige tauchen an
seinen Ufern auf, andere in seinen enormen Weiten, und alle konfrontieren den
Menschen mit seiner erstaunlichen Natur. Das Meer ist das schmucklose Szenario
eines moralischen Treibens, welches das Abenteuer der conditio humanis,
das Ausgeliefertsein an seine Stürme, seine Brüderlichkeit und seinen
schmerzhaften Trost zum Ausdruck bringt."
(Felix)
Carlos
María Domínguez: "Wüste Meere"
(Originaltitel "Mares baldíos")
Aus dem Spanischen übersetzt von Elisabeth Müller.
Diana, 2008. 160 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des Autors:
"Die blinde Küste"
Auf einer winterlichen Landstraße am Rio de la Plata trifft der fünfzigjährige
Arturo Balz die junge Reisende Camboya. Widerwillig nimmt er das Mädchen mit,
ohne zu ahnen, dass ihrer beider Geschichte zusammenhängt. Beide fliehen sie
vor einem Gestern, das sich ihnen erst erschließt, als sie in einer einsamen
Strandhütte am Feuer zu erzählen beginnen, während draußen der Sturm
heraufzieht. Arturo schleppt seine Vergangenheit mit sich, die Liebe zu Cecilia,
die von Montevideo nach Buenos Aires floh, von einer Diktatur in die nächste,
und eines Tages verschwand. Camboya lässt ihre ziellosen Liebschaften hinter
sich und kämpft mit dem Märtyrerschatten ihrer Tante - eben jener Cecilia,
nach deren spurlosem Verschwinden Arturo sich fast aufgegeben hatte. Im Gespräch
tasten sie sich an das Unbegriffene ihres Lebens heran, dem sie an der einsamen
Küste ungeschützt ausgesetzt sind.
Der argentinische Autor Carlos María Domínguez zeichnet in einer dichten
Sprache, die sich an den großen Prosaautoren der Moderne misst, unvergessliche,
prekäre Charaktere und Lebenswege. Sein Roman erkundet die Möglichkeit von
Liebe angesichts der Diktatur und ihrer Folgen. (Suhrkamp)
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"Der verlorene Freund" zur Rezension ...
Leseprobe:
Johnnys Bekenntnis
Für Ramón Báez, der mit
Tarzan schwamm
und mir diese Geschichte erzählt hat.
Heute ist es einfach, sich über Tarzan lustig zu machen. Über den Mann, der mit
dem Affen auf der
Schulter, an eine Liane geklammert den Krokodilen die Zähne putzte. Wir kennen
ihn aus Büchern, aus Zeitschriften und aus dem Kino, zusammen mit der beeindruckenden
Jane und dem Elefanten Tantor. Wie hätten wir ihn nicht bewundern sollen, wenn
er sich während der Matineen auf der Leinwand irgendeines Stadtteilkinos mit ausgebreiteten
Armen in die Brust warf, dann die Hände aneinander legte, den Oberkörper straffte
und sprang, um in den Fluß zu tauchen wie eine Nadel ins Seidentuch. Keiner ließ
es sich nehmen, den Ruf des im Urwald verlorenen Mannes nachzuahmen, einen Schrei,
der über seine Einsamkeit triumphierte. Nur ich kann mich nicht über Tarzan lustig
machen und ertrage kaum, was die Zeitungen über ihn schreiben. Daß dieser Schrei
alle irdischen Vorstellungen
von Gut und Böse übertraf, wußte er. Und ich weiß,
daß er ihn versucht hat. Ich höre ihn förmlich mitten im Gelächter meiner Clique,
die sich an dieser Absurdität ergötzt und mich bittet, ihn noch einmal nachzuahmen,
wie in alten Zeiten. Denn ich bin mit Tarzan geschwommen, aber von diesen Kerlen
- die gute Arbeiter sind und niemandem etwas zuleide tun, keine Frage - wird keiner
mehr den Schrei aus meinem Munde vernehmen.
Ich war neunzehn und arbeitete als Stauer im Hafen von Montevideo, als ich erfuhr,
daß er gekommen war, um auf Einladung von General Perón in Rosario de Santa Fe
die Schwimmer zu trainieren. Ein Kumpel aus Caramelo, mit dem ich die Säcke auf
die Schiffe schleppte
und Jahre zuvor auf Wasserpflanzen am Ufer des Flusses entlanggetrieben war, erzählte
mir davon. Julio war zwanzig Jahre älter als ich und ich kannte ihn seit damals,
als jeder, der sich nicht entschließen konnte, das Delta zu überqueren, ein Hosenscheißer
war. Ich sah die anderen in der Strömung des Uruguay auf den großen Blättern sitzend
dem breiten grünen Küstenstreifen Argentiniens entgegentreiben. Und ich sah sie,
mit Lärm und Gelächter in der Nachmittagsströmung wiederkommen. Sie verbrachten
den Tag auf der Insel Doña Julia, aßen Früchte von den Bäumen und kehrten voller
Geschichten, die ihnen die Sonne auf die Rücken tätowiert hatte, wieder zurück.
Natürlich spotteten sie über meine Angst, und zwar zu Recht. Denn
bis zu meinem fünften
Geburtstag weigerte ich mich strikt sie zu begleiten. Aber
von da an kannte ich kein größeres Vergnügen mehr, als mich halb eingetaucht
stromabwärts treiben zu lassen, den grünen Horizont vor Augen, der sich so
mühelos näherte, als zöge ihn jemand an einer Schnur heran. Ich wurde Schwimmer,
erstens aus Ehrgeiz und zweitens aus Treue zu jener Clique, die angeführt wurde
von dem weit überlegenen Julio, der aber nach meiner ersten Überfahrt nur noch
zwei Jahre seine unangefochtene Stellung behielt. Jahre später schwamm ich die
zwölf Meilen von Palmar, die zwanzig Meilen von Carmelo und die dreißig von
Uruguay, überzeugt, der beste Langstreckenschwimmer der Region zu sein, wegen
der Medaillen, die ich gewann und dann irgendwo wieder verlor. Ich erinnere mich
an die Leute, die an Lagerfeuern, mit Liegestühlen und Grillfleisch das Flußufer
bevölkerten und mich anspornten, wenn ich vorüberschwamm, Ziellinie Arm, Bein,
Arm, mit nasser Bademütze und angelaufener Schwimmbrille, Kopf unter Wasser,
Kopf über Wasser, als wäre jeder Schwimmstoß ein Foto. Ich hatte gelernt, im
Wasser meine Muskeln zu beobachten, die stärksten Strömungen zu suchen und die
Wadenkrämpfe mit einer Nähnadel zu beheben, die ich stets dabei hatte. Kaum
spürte ich die Milchsäure in die Wade schießen, stach ich die Nadel kräftig
hinein und dachte in den Sekunden, bis sich die Säure mit dem Wasser mischte, an
Julio und an Julios Mutter, denn der Tipp war genial, dann schwamm ich, dankbar
für das Geheimnis und die Linderung, flink wie ein Fisch weiter flußabwärts
(...)