Carlos María Domínguez: "Das Papierhaus"
"Im Frühjahr 1998 kaufte Bluma
Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte Ausgabe der Gedichte von Emily
Dickinson und wurde an der ersten Straßenecke, als sie gerade beim zweiten
Gedicht angelangt war, von einem Auto überfahren."
In Büchern ist der erste Satz von
großer Bedeutung. Es gibt Bücher, die sich nur mit ersten Sätzen auseinander
setzen. Unheimliche Kräfte können von einem ersten Satz ausgehen, weil er alles,
was kommen mag, zu verwandeln in der Lage ist.
Der erste Satz
der nun zu besprechenden Erzählung weist nicht nur auf unglaubliche Geschehnisse
hin, sondern erweckt den Gebrauchsgegenstand Buch aus seinem
Tiefschlaf.
Der Ich-Erzähler wird später als Dozent für hispanische
Literatur die Nachfolge von Bluma Lennon antreten. Doch er ist nicht die
entscheidende Figur in einem modernen Märchen, das sich ohne weiters zugetragen
haben könnte oder noch ereignen wird. Bluma Lennon hatte ein mit Zement
bestäubtes Buch geliefert bekommen, als sie bereits tot war. Es handelte sich um
einen Roman von Joseph
Conrad: "Schattenlinie". Ihr potenzieller
Nachfolger will diesem mysteriösen Buch auf die Schliche kommen und den
Absender, einen gewissen Carlos, aufsuchen. Sein Weg wird ihn nach Uruguay
führen, wo er eine erstaunliche Entdeckung macht: Ein am Strand gelegenes
verfallenes Haus aus Büchern.
Die Geschichte von Carlos erfährt der sich
stets im Hintergrund haltende Erzähler von einem seiner wenigen
Freunde.
Es wäre unmöglich, die vielen Verschachtelungen dieser Erzählung
auch nur annähernd darzustellen. Auf knapp hundert Seiten versammeln sich
verschiedenste Einzelheiten, die zusammengenommen ein Rezept ergeben, dessen
Aroma vielen Lesern behagen wird.
Die Lektüre wirft eine Menge Fragen auf,
deren Beantwortung dem Leser mehr oder weniger schwer fallen mag. Beispielsweise
geht es um die Vorstellung, ob das Lesen von Büchern an irgendeine Grenze stoßen
kann, ab der es kein Zurück gibt. Wenn ein Mann über 20.000 Bücher gelesen hat:
Muss er dann nicht durchdrehen und aus diesem kaum zu katalogisierenden
Bücherwust ein Haus bauen, das nicht überdauern darf?
Wenn Lesen zu einem
Zwang wird (und dies trifft bei Carlos zu), dann geht die Magie, welche ein Buch
ausstrahlen kann, langsam verloren. Die Erzählung von Domínguez kann man
schnell, ja fast atemlos lesen. Eines wird aber schwer fallen: Die tiefen
Wahrheiten zu vergessen, die in ihr stecken. Der Leser wird mit sich selbst
konfrontiert und wandelt auf den Spuren des Erzählers. Er mag überlegen, wie es
ihm mit Büchern geht und inwieweit Bücher sein Leben beeinflusst
haben.
Carlos fliegen die Bücher zu, und er kann sich kaum gegen sie zur Wehr
setzen. Ein Buch reiht sich an das andere; Gedanken explodieren ununterbrochen
im Gehirn, und an irgendeinem Punkt mag es dem Leser gehen wie dem Helden in
Paul
Austers "Mond über Manhattan". Er ist auf der Suche nach etwas, das
er nicht bestimmen kann. Und plötzlich tun sich in Form von Büchern Wege auf,
die sein Leben revolutionieren.
In der heutigen Zeit könnte man davon
sprechen, dass Bücher
"konsumiert" werden.
Der Text macht sich dann irgendwann
selbstständig - und vielleicht sogar bemerkbar. Wenngleich Bücher auch einen
Gebrauchswert haben, leben sie in erster Linie von der Leidenschaft der Leser.
Dass diese Leidenschaft merkwürdige Anwandlungen erzeugen kann und bisweilen
übers Ziel hinausgeschossen wird, mag eine Erfahrung vieler Leser sein.
Eines
aber darf nie vergessen werden: Bücher können Freunde sein, wenn es der Leser
zulässt. "Ein Buch ist die Axt für das gefrorene Meer in uns." Kein
Autor hat die Kraft, welche Bücher ausstrahlen können, so erkenntnisreich
beschrieben wie Franz
Kafka.
"Das Papierhaus" ist jedenfalls eine Erzählung, die jedem
Leser ans Herz wachsen wird, der den individuellen Wert eines Buches
hochschätzt.
(Jürgen Heimlich)
Carlos María
Domínguez: "Das Papierhaus"
(Originaltitel "La casa de papel")
Deutsch von Elisabeth
Müller.
Diana, 2007. 96 Seiten.
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Carlos María Domínguez wurde 1955 in Buenos Aires geboren und lebt seit 1989 in Montevideo, wo er als Journalist, Literaturkritiker und Schriftsteller arbeitet. Seine Erzählung "Das Papierhaus" wurde 2001 in Uruguay mit dem "Premio Lolita Rubial" ausgezeichnet.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Der verlorene Freund"
"Der verlorene Freund" erzählt von einer
gedankenlosen Geste mit verhängnisvollen Folgen und der notwendigen Illusion
menschlicher Nähe.
Zwei Männer kommen ins Gespräch, lernen sich kennen, freunden sich an. Eines
Tages stürzt der Eine, ein passionierter Kunstsammler, sich aus dem Fenster, der
Andere bleibt ratlos zurück. Er nimmt, um die Beweggründe des Verstorbenen zu
verstehen, Kontakt zu dessen Familie und Bekannten auf. Eine seltsame Geschichte
zeichnet sich ab, die Spur führt ihn in eine gottverlassene Bergarbeitersiedlung
voller sonderbarer Figuren und zurück zu einem dunklen Familiengeheimnis. Und
während er sich dort in den Unwägbarkeiten eines anderen Lebens zu verlieren
droht, macht er schließlich eine Entdeckung von niederschmetternder Einfachheit.
Carlos María Domínguez, der Virtuose der erzählerischen Verdichtung, hat einen
großen kleinen Roman über Verlust und Verlorenheit geschrieben und darüber, dass
wir auch die nicht kennen, die uns vertraut sind. (Suhrkamp)
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