Alfred Döblin: "Berge, Meere und Giganten"
Herausgegeben von Gabriele Sander
Utopie
im Zeitraffer
Die hier vorgelegte 'Kommentierte Neuausgabe' von Döblins
(1878-1957) monströser Utopie entspricht dem Text des bereits
1924 erschienenen Romans. Behandelt wird das Verhältnis
Mensch-Natur-Technik, wobei es wenige harmonisierende und zahlreiche
apokalyptische Vorausdeutungen bis ins 27. Jahrhundert gibt.
Während zwei Machtblöcke immer wieder Kriege
gegeneinander führen, muss sich schließlich der
"Westen" nach Grönland zurückziehen, wo das Eis
abgeschmolzen wird. Allerdings werden dadurch fossile Tiere befreit,
die in der Wärme zu kolossalen Ungeheuern heranwachsen und die
Existenz der Menschen bedrohen. Diese wiederum züchten
"Giganten", welche die Urtiere ausmerzen - dann aber ihrerseits zur
Bedrohung werden. Letztendlich entschließt sich eine Gruppe,
die "Siedler", wieder zu einem genügsamen Leben ohne Technik
zurückzukehren.
Diese "expressionistisch wortgewaltige Utopie ist ein literarisches
Manifest gegen den grenzenlosen Fortschrittsglauben" (Klappentext),
welches schon in der zeitgenössischen Kritik ein
zwiespältiges Echo auslöste. Die
Romanlektüre wird als schwierig eingestuft, was durch den Stil
und die immensen Ausschweifungen der Fantasie bedingt sein mag. Die
Mischung aus Mythologie, Geschichte und Wissenschaft wurde ebenso
kritisiert wie die Darstellung von Gewaltexzessen und
psychopathologischen Charakteren. Andere Kritiker erkennen einen
Einfluss von
Oswald Spenglers 'Untergang des Abendlandes' (1922) -
Grass
hat sehr viel später (1978) auf seinen Reisen
bestürzende Parallelen zwischen Döblins Fiktion und
den Realitäten in Afrika und Asien festgestellt -
Döblin habe dieses obsessive und experimentelle Werk wohl
unter "visionärem Überdruck" verfasst. Der
Schriftsteller Klaus
Modick sprach 2001 gar von einem "naturwissenschaftlichen
Schauermärchen."
Der Stil ist aufdringlich pathetisch, heroisch, melodramatisch,
schwülstig. In neun 'Büchern' wird diese
kitschverdächtige Universalgeschichte zelebriert. Alles ist
bombastisch, monstermäßig. Auf der Erde gibt es ein
"Überangebot von Menschenmaterial", aufgeteilt in zwei
Weltmächte: "die londoner und die
indisch-japanisch-chinesische." Hier tobt in trivialen Extremen das
expressionistische Neuzeitpathos: "Wozu sind wir da? Wozu bin ich da?
Wisst ihrs nicht? Ich weiß es. Wir lieben das Eisen; die
Kraft ist in uns, die Stärke, die keine Zeit hatte. Man hatte
uns davon abgesperrt. Jetzt haben wir sie. Jetzt fühlen wir
sie. Sie ist unser Blut unser Leben. Es ist nicht die Erde. Was soll
die Sonne auf unseren Fahnen, Mond Sterne. Nicht Sonne Erde Sterne.
Wir! Wir! Wir! Wir Menschen! Die Sterne aufbrechen! Die Sonne
aufbrechen! Wir können es!"
Im Grunde sah Döblin immerhin den Globalisierungswahn voraus:
technischer Fortschritt verlagert die Produktionsstätten:
"Erfindungen nahmen ganzen Industrien den Boden. Leerten wie ein Krieg
ein Dutzend blühender Städte aus, die sich auf die
Wanderschaft begeben mussten. Es war eine Wanderung von
Völkern, derer sich die Nachbarstaaten annehmen mussten, falls
sie sich nicht kriegerischer Überflutung aussetzen aussetzen
sollten." Die Ernährungsfrage bekommt man durch
"künstliche Lebensmittelsynthese" in den Griff, man
kontrolliert das Wachstum von Pflanzen und Tieren.
Schließlich will man beginnend mit der Enteisung
Grönlands eine "klimatische Änderung der ganzen
nördlichen Halbkugel herbeiführen." Döblin
hastet im Zeitraffertempo über die Kontinente und durch die
Jahrhunderte, wie man das aus einigen Ausschnitten der Verfilmung der
'Zeitmaschine' von H.G. Wells kennt: "Nach oben zuckte das Leben der
Inseln. Nun begann es bedrängt überquellend nach
außen zu fluten."
Döblin hat uns eine Saga über den letztendlich
selbstverschuldeten Untergang der Menschheit vererbt, einen
Parforceritt durch die Jahrhunderte des Wahns und der Hybris -
überleben kann am Ende nur eine genügsame Minderheit.
So ist dies ein Roman mit einer erschreckend modernen Botschaft. Als
übereifriger SciFi-Nostradamus überfordert
Döblin womöglich den durchschnittlichen Leser, die
Schilderung gerät oft zur abstrakten Abhandlung, seltener gibt
es anschauliche Handlung und plastische Figuren. Empfehlenswert nur
für hartgesottene Utopiebegeisterte.
(KS; 10/2006)
Alfred
Döblin: "Berge, Meere und Giganten"
dtv, 2006. 794 Seiten.
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Alfred
Döblin, geboren am 10. August 1878 als Sohn einer
jüdischen Kaufmannsfamilie, war Nervenarzt in Berlin; dort
begründete er auch die expressionistische Zeitschrift "Der
Sturm" mit. 1933 emigrierte Döblin nach Paris, 1940 floh er
nach Amerika und konvertierte zum Katholizismus. Nach dem Krieg kehrte
er als französischer Offizier nach Deutschland
zurück. Er war Herausgeber der Literaturzeitschrift "Das
goldene Tor" (1946-1951) und Mitbegründer der Mainzer Akademie
(1949). 1953 übersiedelte er wieder nach Paris. Er starb am
26. Juni 1957 in Emmendingen bei Freiburg.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl) sowie ein
zusätzlicher Buchtipp:
"Berlin
Alexanderplatz"
Die Geschichte des Transportarbeiters Franz Biberkopf, der, aus der
Strafanstalt Berlin-Tegel entlassen, als ehrlicher Mann ins Leben
zurückfinden möchte, ist der erste deutsche
Großstadtroman von literarischem Rang. Das Berlin der
zwanziger Jahre ist der Schauplatz des Geschehens. Dabei wird die
Großstadt selbst zum Gegenspieler des gutmütig
jähzornigen Franz Biberkopf, der dieser verlockenden, aber
auch unerbittlichen Welt zu trotzen versucht.
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"Wallenstein"
Mitten im Ersten Weltkrieg, als Militärarzt in Lothringen und
im Elsass, begann Döblin dieses Epos des
Dreißigjährigen
Krieges zu schreiben und damit eine neue Vision der
Geschichte zu gestalten. Die ungeheuerlichen Ereignisse dieser Zeit:
die Schlachten und Belagerungen, die flutenden Armeen und
Flüchtlingsströme, Triumph und Elend der
Fürsten und Generäle, das Ringen der Großen
um die Macht und die namenlosen Leiden der Völker, die
Gestalten Maximilians von Bayern, Kaiser Ferdinands, Wallensteins
oder Tillys - das alles ergibt ein farbenprächtiges
historisches Gemälde, und wie ein Wasserfall von Figuren und
Ereignissen flutet die Tragödie eines Zeitalters am Leser
vorbei. Mit seiner ungeheuren Sprachgewalt gehört
Döblins "Wallenstein" zu den denkwürdigsten Werken
der modernen Literatur.
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"Gedächtnisstörungen
bei der Korsakoffschen Psychose"
Die Dissertation von "Doktor Döblin" ist eine literarische
Entdeckung, die nie zuvor als Buch erhältlich war. Sie
verschafft dem Leser tiefen Einblick in das poetologische Denken eines
Autors, der den modernen Roman mit seiner Kenntnis der menschlichen
Psyche geprägt hat wie kaum ein anderer deutscher Romancier.
Dass Alfred Döblin sich intensiv mit medizinischen
Zusammenhängen beschäftigt hat, lassen viele seiner
literatur- und philosophiebezogenen Texte erahnen. In seiner
Dissertation über "Gedächtnisstörungen bei
der Korsakoffschen Psychose" von 1905 stellt er den Zusammenhang
zwischen literarischem Schreiben und psychotischen Wahnbildern,
sogenannten Konfabulationen, her. Später adressiert
Döblin die Aufforderung "Man lerne von der Psychiatrie" in der
gleichnamigen Schrift ganz direkt an Romanautoren und ihre Kritiker. In
diesem Sinne offenbart seine Dissertation eine poetologische Denkweise,
die nicht das erinnernde Gedächtnis, sondern das Vergessen als
Grundstruktur schöpferischer Prozesse annimmt. (Tropen Verlag)
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Christina
Althen (Hrsg.): "Alfred Döblin. Leben und Werk in
Erzählungen und Selbstzeugnissen"
Mit einem Essay von Günter Grass.
Alfred Döblin zählt zu den bedeutendsten Vertretern
der literarischen Moderne, und in den letzten Jahrzehnten ist seine
Wahrnehmung als wegweisendes Sprachgenie stetig gewachsen.
Döblins Sprache ist spritzig, frech, modern, die stilistische
Vielfalt und die Fülle seiner Themen bezeugen den
großen Epiker.
Diese Auswahl aus Döblins Meistererzählungen und
anrührenden Lebenserinnerungen vermittelt ein plastisches Bild
des Schriftstellers, Essayisten und überragenden Zeitzeugen.
Die Texte werden ergänzt von Fotodokumenten und Zeichnungen
des Brücke-Malers Ernst Ludwig Kirchner, Döblins
Künstlerfreund. Günter Grass hat in seiner
berühmten Rede, die in dieses Lesebuch aufgenommen wurde,
Döblin in Verehrung seinen "Lehrer" genannt.
Herausgeberin des Bandes ist die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin
und Döblin-Forscherin Christina Althen, in deren
Händen die editorische Leitung der
Döblin-Gesamtausgabe liegt.
Am 26. Juni 1957 starb der Dichter und Arzt Alfred Döblin.
Hinter ihm lag ein turbulentes Leben: Aufgewachsen in der Geborgenheit
einer Stettiner Kaufmannsfamilie, die jäh zerbricht, als der
Vater sich heimlich davonmacht. Als Arzt im Ersten Weltkrieg lernt
Döblin die Hölle der Notlazarette kennen. Im Berlin
der Zwanziger prangert er als "Linke Poot" die Trägheit des
deutschen Bürgertums an. Sein Großstadtroman "Berlin
Alexanderplatz" (1929) wird zum Welterfolg. Ein paar Jahre
später entkommt der Dichter nur um Haaresbreite den
nationalsozialistischen Verfolgern und verbringt mit seiner Familie
schwere Exilsjahre in Frankreich und den USA.
Döblin hadert nicht mit Deutschland, sondern kehrt alsbald
zurück und unterstützt im Alter tatkräftig
den literarischen Neuanfang. (Artemis & Winkler)
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