Heimito von Doderer: "Die
Dämonen
Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff"
Sein und Zeit und der Brand des Justizpalasts
Hat man die Strudlhofstiege in voller Länge durchschritten, nicht schnellstmöglich vom Anfang zum Ende hastend, sondern langsam und bedächtig, mit offenen Sinnen und hie und da auch länger verweilend, hat man sich von ihrem zarten Zauber ganz durchdringen lassen, wird man wahrscheinlich auch um "Die Dämonen" nicht umhin kommen. In der Tat hat ja Doderer "Die Strudlhofstiege" als eine Art (sehr ausführlichen) Prologs zu seinem Hauptwerk gestaltet, mehrere Personen von diesem zu jenem gleich mitgenommen; und auch zeitlich ist`s eine nahtlose Fuge: endet "Die Strudlhofstiege" im Oktober des Jahres 1925, spielen sich die Ereignisse in "Die Dämonen" zwischen Herbst 1926 und dem Hochsommer 1927 ab. Ebenfalls gleichgeblieben ist der Ort der Handlung, Wien, wenn auch gleichsam zur geografischen Verankerung von Doderers Heimatstadt ein paar Seiten im Burgenland, in Kärnten und London spielen. Von seinem Vorgängerwerk unterscheidet sich dieses nun allerdings durch einen stärkeren historischen Bezug, welcher schließlich dominant wird, wenn er gegen Ende des Romans in dem Brand des Justizpalastes vom 15. Juli 1927 (laut Doderer dem Cannae der österreichischen Freiheit, jedenfalls einem traumatisch-prägenden Ereignis der jungen Republik) gipfelt.
Die Vorgeschichte dieses historischen Tages fand im Jänner selben Jahres im Burgenland statt, als bei einer Auseinandersetzung zwischen den damals üblichen bewaffneten Verbänden von politischen Parteien und Gesinnungsgemeinschaften, konkret zwischen dem sozialdemokratischen Schutzbund und ultranationalistischen (um auf ein Wort der Gegenwart vorzugreifen) Frontkämpfern, von letzteren zwei Zivilisten, ein Invalide und ein Kind, erschossen wurden. Im Juli kam es dann zum Prozess, in dem die Täter freigesprochen wurden, was eine wütende Spontanreaktion der Wiener Arbeiterschaft zur Folge hatte, die in breiten Demonstrationszügen vor den Justizpalast zog und dieses Symbol der Ungerechtigkeit in Schutt und Asche legte. Freilich waren bei dem Brand und den stundenlangen Schusswechseln, die sich Demonstranten mit der Polizei lieferten, auch die üblichen kriminellen und schaulustigen Elemente der Stadt, nicht zuletzt Schriftsteller zugegen, welche ja schon berufsbedingt gute Gelegenheiten, Menschen in Extremsituationen studieren zu können, beim Schopf packen sollen.
Historie steht auch am Anfang des Romans, in Form eines Abkommens zwischen Österreich und England bezüglich der Freigabe von im Krieg beschlagnahmten Vermögenswerten, was es dem über weite Strecken als Ich-Erzähler amtierenden Sektionsrat von Geyrenhoff ermöglicht, auf seine in Aussicht stehende Beförderung zum Ministerialrat zu pfeifen und in eine sehr frühe Frühpension zu gehen. Ein ausreichendes Vermögen, schier unbegrenzte Zeit - dies ist nun die für den Sektionsrat i. R. ideale Ausgangssituation, um auf der Grundlage dieses ungebundenen reinen Lebens sozusagen zu seinem Wesen durchbrechen, dieses aktiv wie passiv zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich dabei um einen mystischen Zug in Doderers Werk allgemein, von der Strudlhofstiege her schon bestens bekannt - kurze Perioden, manchmal nur Augenblicke, in welchen sich die handelnden Personen in das feinstoffliche Netz des Seins eingespannt fühlen und damit zusätzlicher Wirklichkeitsdimensionen teilhaftig sind. Als auffälligster Tropos solchen Seinsempfindens fungieren bei Doderer die sehr häufigen zufälligen (sofern eben hier von Zufall die Rede sein kann) Begegnungen seiner Helden: man spaziert freien, offenen Gemüts durch die Stadt, denkt unwillkürlich an eine bestimmte Person, die einem wenig später tatsächlich über den Weg läuft, ein Fänomen, welches übrigens auch der späte Sigmund Freud nicht umhin kam zu registrieren (um sinnvolle Erklärungsmodelle wird man sich allerdings eher in Kulturen außerhalb Europas umsehen müssen). Und diese auf einer tieferen Ebene entsprechenden Begegnungen und Synchronismen gelten nicht etwa nur für Zwischenmenschliches und können, wo nicht heraufbeschworen, zumindest angelockt werden, zum Beispiel indem man sich in unbekannte Stadtteile vorwagt, woraus sich bei Doderer der Ansatz zu einer regelrechten Großstadtromantik, die moderne Stadt als eine Art Märchenwald empfunden, entwickelt.
Doch zurück zum Herrn von Geyrenhoff, der sich für die neue Lebensfase auch eine neue Wohnung wählt, welche er in dem Wiener Nobelbezirk Döbling findet. Dort baut sich ihm bald, ohne dass er solches angestrebt hätte, ein neuer Bekannten- und Freundeskreis auf; teils findet er lange nicht gesehene Bekannte wieder, teils ziehen andere nach Döbling um, und unversehens ist da eine Art Clique entstanden (vor allem aus Künstlern, Journalisten, Historikern und Beamten), die gerne Ausflüge in den Wienerwald unternimmt, häufig in Heurigenlokalen anzutreffen ist und mit ihren Automobilen die Gegend unsicher macht (wie es scheint, gab es damals noch keine gesetzlich vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbeschränkungen). Der Roman besteht nun im wesentlichen aus der Chronik dieses Kreises in der ersten Jahreshälfte 1927, denn Geyrenhoff fühlt sich bemüßigt, über die Ereignisse im Leben jedes einzelnen seiner Freunde Buch zu führen, was zwar größtenteils an sich recht gewöhnliche Dinge wie Partnersuche, Karrierestreben oder irgendwelche interessanten Diskussionen beinhaltet, doch schwingt dabei immer die oben angesprochene Fragestellung nach dem wesensgemäßen, echten Leben mit. Entsprechend hört er viel zu, manchmal horcht er geradezu aus, und bittet auch den einen oder anderen, seiner Chronik eigenes autobiografisches Material beizusteuern, dies alles in dem Glauben, dass, wofern nur genau beobachtet, in einzelnen Ausschnitten von Lebensgeschichten das Ganze, in einem kleinen Kreis von Menschen (seien's auch Döblinger) die ganze Stadt in ihrer Zeit sichtbar werde. Zu ergänzen ist noch, dass all diese Notizen tatsächlich erst im Jahre 1955 in romanhafte Form gebracht werden, doch lässt der Chronist nichts von seinem jetzigen Wissensstand in die Beschreibung der damaligen Geschehnisse einfließen, lediglich die eine Bemerkung erlaubt er sich, dass in den Geschehnissen von 1927 im Keime schon die spätere unselige Zeit enthalten sei. Und auch einer gewissen Melancholie angesichts der so offensichtlichen Vergänglichkeiten kann sich der nunmehr wirklich alte Herr von Geyrenhoff begreiflicherweise nicht ganz enthalten.
Döbling wird an seinem unteren Rand vom Donaukanal begrenzt, auf dessen anderer Seite sich die Brigittenau, ein Arbeiterbezirk, befindet. Hier lebt nun eine sehr unterschiedliche Welt, die sich Doderer bemüht, wenn schon nicht so ausführlich, so doch möglichst ausgewogen zu beschreiben (dass es nicht die seine ist, kann er freilich nicht verhehlen). Sein hier lebender Held Leonhard ist auch alles andere als ein typischer Arbeiter, vielmehr eine durchaus exzeptionelle Erscheinung, indem er sich weniger in Frauen oder die sozialdemokratische Partei als in die lateinische Sprache verliebt und sich durch deren Flügel getragen in kurzer Zeit zu einem beachtenswerten Geisteswissenschaftler entwickelt. Leonhard zeigt (soweit anhand einer Romanfigur so etwas gezeigt werden kann), dass wahre Freiheit und Würde weniger in einer finanziellen Gleichstellung von Arbeitern und Ärzten besteht, sondern in erster Linie eine persönliche Angelegenheit, wenn auch eine solche mit allgemeinen Ingredienzien wie Kreativität, Qualitätsbewusstsein, Aufrichtigkeit, Disziplin etc., ist. Schließlich runden einige Figuren der Unterwelt, Huren, Mörder, Falschspieler bzw. Bankdirektoren, Majorswitwen, Geschäftsleute das Bild der damaligen Wiener Gesellschaft ab und machen den Roman auch zu einem wertvollen Zeitdokument.
Neben dem
(echten und unechten) Sein stellt die Beschäftigung mit der Zeit die zweite
Grundkonstante in Doderers Werk dar. Die sinnvolle Annäherung an Geschichte
wird dabei ebenso ausführlich behandelt wie der geistige Schwerpunkt einzelner
Epochen oder die Stimmungen und Lebensfasen eines einzelnen Menschen - nie zuvor
habe ich etwa eine so genaue Beschreibung einer seelischen Schwerpunktverlagerung,
die ein neues Persönlichkeitszentrum schafft und damit einen neuen Lebensabschnitt
einleitet, gelesen. Wieder eine andere Sache ist psychologische Zeit, wie man
es in letzter Zeit schon hat nennen hören, womit die Eigenschaft des Gedächtnisses
gemeint ist, Ereignisse aus unterschiedlichen Zeiten in spontaner Assoziation
thematisch zu verknüpfen, aber auch das Verdrängen von Ereignissen
in die Tiefen der Psyche, wodurch das Verdrängte nur scheinbar vergangen,
in Wirklichkeit zu permanenter, wenn auch negativ wirkender (da mit einem Erinnerungstabu
behaftet) Gegenwart gefriert. Dabei handelt es sich laut Doderer nun um ein
typisches Wesensmerkmal des Revolutionärs, als jemandes, der die Allgemeinheit
verändern will, sich dafür in einen Gesinnungspanzer (des Standes,
der Klasse, des Volkes usw.) hüllt und so von seinem Ungenügen im
einzelnen oder eben auch von diversen dunklen Punkten der Vergangenheit ablenken
will. An solchen revolutionären, sich mit Vorliebe rechten und linken Ideologien
verschreibenden Charakteren dürfte die beschriebene Zeit reich gewesen
sein, womit wir denn endlich bei den Dämonen angelangt wären, die
nämlich dann in Aktion treten, wenn solche Verdrängungsprozesse pathologisch
werden, sich manisch an ein neues Ziel heften und schließlich eine Eigendynamik
gewinnen, die eine Katastrofe, einen Zusammenstoß dieser künstlichen,
zweiten Wirklichkeiten, wie Doderer diese vom Menschenhirn geschaffenen Konstrukte
gerne nennt, mit der einen allumfassenden unausweichlich macht. Dies ist nun
allerdings kein Privileg des Politischen, ähnlich leidenschaftliche Fixierungen
und Konstruktionen sind in der Sexualität nicht selten, wozu der Roman
nicht nur Beispiele aus der Gegenwart, sondern auch den hübschen Bericht
von einem Kärntner Hexenprozess aus dem Jahre 1464 anführt, welcher,
obwohl im Deutsch der damaligen Zeit verfasst, darum nicht minder packend zu
lesen ist. Auch sonst überlappen einander immer wieder die Zeiten, Mittelalter
findet sich im 20. Jahrhundert auch etwa in der Beschreibung der Struktur eines
Medienimperiums, die sehr an ein Höllengemälde à la
Hieronymus
Bosch gemahnt. Zum Thema Zeit soll auch nicht unerwähnt bleiben,
dass eine der ganz großen Stärken Doderers als Romancier in der feinen
inneren Logik besteht, mit der er die Abfolge der verschiedenen Episoden und
Berichte (es berichtet ja nicht nur der Chronist) gestaltet, all dies in einer
eleganten, weitausholenden und selbstsicheren Prosa mit Neigung zu seltenen
Wörtern.
So hoffe ich denn, dem Leser Geschmack auf den Roman, den großen Roman
eines großen Schriftstellers, um`s rundheraus zu sagen, gemacht zu haben,
möchte ihm, sofern es um ein erstes Kennenlernen geht, nichtsdestotrotz
raten, die Welt des Heimito von Doderer über die Strudlhofstiege zu betreten.
(stro; 03/2004)
Heimito
von Doderer: "Die Dämonen"
dtv 1985
1345 Seiten
ca. EUR 20,00.
Buch bestellen