Philippe Djian: "Die Frühreifen"
Sie
wohnen in einem mondänen Villenviertel auf dem Hügel,
irgendwo in einer Stadt in Frankreich. Es sind die Reichen und
Superreichen, die sich vom Rest der Bevölkerung separiert
haben und dort ein recht parasitäres Leben führen.
Unter ihnen die Familie von Richard und Laure Trendel. Richard "war
früher Schriftsteller gewesen. Eher ein guter Schriftsteller.
Doch im Laufe der Zeit hatte er es vergessen, die Sache war einfach aus
seinem Bewusstsein verschwunden - unter Schichten von Heroin begraben
-, und plötzlich tauchte sie wieder auf."
Laure war eine berühmte Schauspielerin, deren beste Zeit aber
schon lange vergangen ist. Sie ist 45 Jahre alt und hat ihr eigenes
Leben und ihre Ehe kaum im Griff. Aufputschmittel, Schlaftabletten,
Alkohol, häufiger Sex mit allen möglichen
Männern - es ist nicht nur der Lebenswandel ihres Mannes, der
sie dazu treibt.
"Richard und Laure. Bei Paaren wie ihnen war ein solcher
Schmerz zu spüren, eine solche Frustration, dass es
für Evy und seine Schwester nicht immer einfach gewesen war,
sich dem zu entziehen. Manchmal war es besser, durchs Fenster zu
entwischen und durch den Wald zu laufen, die Straße
entlangzugehen oder egal was zu tun, als das noch eine Minute
länger zu ertragen."
Die meisten Jugendlichen des Viertels gehen in eine exklusive
Privatschule, die von Vincent Delacosta geleitet wird, dem Vater von
Anais, einem etwa zwei Zentner schweren Mädchen, der sich von
den Müttern seiner Schüler nicht selten sein
pädagogisches Urteil mit Sex bezahlen lässt.
Übrigens ist kein einziger Erwachsener, der in diesem Buch
geschildert wird, wirklich aufrecht und erwachsen zu nennen. Die
Figuren haben keine Werte mehr, eine verlogene und verdorbene Moral und
sind entweder alkohol-, drogen- oder sexsüchtig.
Das Buch beginnt, indem geschildert wird, dass vor einigen Monaten Evys
Schwester Lisa unter bisher ungeklärten Umständen in
einem nahegelegenen See ertrunken ist. Evy war der einzige Zeuge dieses
Unfalls, aber über die näheren Umstände
schweigt er hartnäckig. Manche verdächtigen ihn des
Mordes an seiner Schwester, bis zum Ende des Buches wird das Geheimnis
um Lisas Tod jedoch nicht gelüftet. Tatsache ist allerdings,
dass ihr Tod die sowieso schon brüchigen Lebensstrukturen der
Erwachsenen und Jugendlichen endgültig zerstört.
Lisa, 17 Jahre alt, hatte, so erfahren wir, eine lesbische Beziehung
zur gleichaltrigen Gaby Gurlitch, einem Mädchen, das nicht nur
wie Lisa und viele andere auch mit Dany Clarence schläft,
einem in die Jahre gekommenen Hippie, der auch die Jugendlichen des
Hügels mit weichen und harten Drogen versorgt, sondern ebenso
mit anderen Männern, unter anderem mit Richard Trendel.
Anais Delacosta, die dicke Tochter des Schulleiters, hat Lisa sehr
geliebt; sie waren dicke Freundinnen, und so leidet sie ganz besonders
unter Lisas Tod. Nicht nur deshalb sucht sie die Nähe des
schweigsamen und introvertierten Evy. Der reagiert auf ihre
Annäherungsversuche unwirsch, und als sie nicht davon ablassen
will, Lisas Todesursache aus ihm herauszuquetschen, sägt Evy
die Leiter zum
Baumhaus
an, auf dem die Jugendlichen sich immer treffen, ihre Drogen
konsumieren und Sex haben.
Doch nicht Anais stürzt, sondern Evys Freund Andreas, als er
zusammen mit Michele hinaufsteigen will, um sich seine fast
tägliche Fellatio von ihr abzuholen.
Derweil träumt der 14- jährige Evy von nichts Anderem
mehr als von Gaby Gurlitch. Er schwärmt von ihr, will aber
eine "reine" Beziehung, nicht mit ihr schlafen. Gaby lässt es
sich gefallen, besorgt er ihr doch durch den Griff in die
Geldbörsen seiner Eltern und Großeltern
großzügig die benötigten
Drogen, die sie in
immensen Mengen konsumiert.
Laure, von ihrem schwulen Agenten ermutigt, wagt einen Neueinstieg als
Schauspielerin, was ihr aber nur gelingt, indem sie sich mit einem
Produzenten prostituiert. Sie verachtet sich dafür,
entblödet sich aber nicht, ihrem Sohn Evy alles zu
erzählen.
Man sieht, alle sind überfordert, obwohl sie im Reichtum
schwimmen. Sie dröhnen sich den Kopf mit Drogen,
Alkohol oder
Sex zu und werden ihren jeweiligen Rollen und Aufgaben nicht gerecht.
Philippe Djian hat mit "Die Frühreifen" ein Buch geschrieben,
das von der tragischen Geschichte einer gescheiterten Wertevermittlung
erzählt, von einer Generation, die nie wirklich erwachsen
geworden ist und deshalb ihren Kindern kein entsprechendes erziehendes,
vorbildhaftes Gegenüber sein kann.
Es ist die Geschichte von Djians eigener Generation und ihren Kindern.
Das Buch schildert mehr als einen bloßen
Generationenkonflikt. Es malt pessimistisch eine Gegenwart, aus der es
keinen Ausweg zu geben scheint.
Denn wie, so fragt man sich, werden auf solche Weise sozialisierte
Jugendliche einmal ihr eigenes Leben in die Hand nehmen, wenn sie sich
schon im Jugendalter
sich ihre ganze Bildung und ihre privilegierte
Lebenssituation wegkiffen?
Man hat eine solche Situation wie die im Buch beschriebene die
"Wohlstandsverwahrlosung" genannt, und man weiß nicht, ob sie
nicht ähnlich schlimme Folgen für die betroffenen
Individuen hat wie die andere Form der Verwahrlosung, welche durch
Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung und geringe Zukunftsaussichten
bedingt ist und im Augenblick so sehr die Debatten in der
Öffentlichkeit und auch im Feuilleton bestimmt.
Philippe Djians Buch kommt in lockerem Stil daher, kritisiert nicht und
ist doch von Anfang bis Ende Aufschrei und Protest dagegen, wie hier
eine ganze Generation verloren geht.
(Winfried Stanzick; 10/2006)
Philippe
Djian: "Die Frühreifen"
(Originaltitel "Impuretés")
Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Diogenes, 2006. 391 Seiten.
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