Peter von Matt: "Das Wilde und die Ordnung"
Zur deutschen Literatur
Lesen
als Abenteuer
"Ich liebe die Bücher, die man nicht gelesen haben muss" - so
lautet einer von Matts Kernsätzen des vorliegenden Bandes. Vor
zehn Jahren etwa postulierte er die Schönheit, die
Vollkommenheit und die Dauer als Kriterien der Lyrik ('Die
verdächtige Pracht', 1998) und zitierte aus dem Horaz: dem
seinen Stoff sorgsam wählenden Dichter "wird's an Gedanken /
und Klarheit nie, auch nie an Ordnung fehlen." Jetzt plädiert
Matt für die "fremde, wilde Wahrheit" außerhalb der
Ordnung - er geht "Gebilden der Offenheit, der Brüche, der
zufällig versammelten Zeichen" nach. Er möchte den
"guten Leser" weglocken von den "Hauptstraßen" des
Literaturkanons, wie er "durch die Gewohnheiten des Deutschunterrichts
einmal populär wurde", auf "die Seitenwege, die Trampelpfade
und das Ungebahnte" - und landet bei Goethe, Lichtenberg,
Mörike, Heine, Nestroy, Kafka
oder Freud. Eigentlich also
Autoren, die zum Kanon gehören - aber es kommt eben auf die
Textauswahl und die Betrachtungsweise an.
Matt sieht allein schon die (deutsche) Sprache nicht als Einheit,
sondern als "Wildnis von so dschungelhafter Vielfalt, dass keiner sagen
kann, er kenne sich darin bis in die letzten Reviere aus." Und solche
"dschungelhafte Vielfalt kennzeichnet aber auch die deutsche
Literatur." Auch hier gibt es keine Einheit, weil es keine Norm geben
kann (die es für die Sprache doch eigentlich gibt - zumindest
nach dem Duden). Freilich
möchte man eine
Übersicht(lichkeit) gewinnen, mit etwas vertraut sein,
über etwas verfügen. Grundsätzlich
wünscht sich Matt, dass wir der Sprache und der Literatur mit
"neugieriger Liebe" begegnen - dann bleiben sie "lebendig" in der
Weise, wie schon Faust von seinem
"geliebten Deutsch"
sprach. Matt
empfiehlt uns eine Art Abenteuertourismus in der deutschen Literatur."
Schließlich versucht er einige literarische Werke so zu
interpretieren, wie es womöglich noch niemand getan hat. Die
'Wahlverwandtschaften' sind eine Ausgeburt des Magnetismus, in 'Faust
II' entdeckt er eine Kopulationsszene, er verrät uns, was
Lichtenberg
mit Schneeballwerfen zu tun hat - und im Zusammenhang mit Conan Doyles
geistigem Diebstahl bei
Poe
doziert Matt: "Ein großer Autor
muss zu stehlen wissen. Nur die Mittelmäßigen sind
auf ihre eigenen Erfindungen angewiesen." Mit solchen Ansichten
schlägt er natürlich der gesamten
Genie-Ästhetik
aufs Haupt. Sehr aufschlussreich erweist sich
jedenfalls der Vergleich Hauff
- E.T.A.
Hoffmann; überraschend mag die Charakterisierung
Mörikes sein: "einer der unberechenbarsten deutschen Dichter.
Wo er am harmlosesten erscheint, kann es plötzlich diabolisch
blitzen." Wir erfahren
etwas
über Heines Beziehung zum Teufel
sowie die Dialektik von Dummheit und Intelligenz bei
Nestroy.
Eigentlich könnte man sagen, sind die Beiträge Matts
doch nicht so abwegig im doppelten Sinn: er hat durchaus anerkannte
Literaten ausgewählt und von denen nicht unbedingt die
unbekanntesten Werke. Etwas "abenteuerlich" sind manchmal die Aspekte,
unter denen er den einen oder anderen Text begutachtet. Matt gesteht,
dass er "vom einzelnen Satz oft mehr fasziniert ist als vom ganzen
Text" - und macht sich Gedanken darüber, ob ein guter Dichter
auch ein guter Mensch sein müsse - was etwa für
Schiller oder
Celan so gelten sollte.
Der zentrale Aufsatz dieser vorliegenden Sammlung ist wohl 'Freud und
das Lesen' mit dem Untertitel 'Die Entdeckung der Gegenwahrheiten im
Text'. Matt meint, dass nach dem autonomen Denken, welches die
Aufklärung forderte, durch Freuds Haltung des "Beobachtens"
eine neue Aufmerksamkeit für den Text eingeführt
wurde, welche sich "von den bisherigen Verfahren der Empirie und
Hermeneutik wesentlich unterscheidet." Und Matt behauptet gar, dass es
im Text nichts gibt, "was von unter- oder nebengeordneter Bedeutung
wäre. Da herrscht keine Hierarchie der sinntragenden und
sinnleeren, der wichtigen und belanglosen Wörter und
Wortverbindungen." Für den "Beobachter" ist der Text ein
"blühendes, farbenwerfendes Chaos" - das kritische Denken
filtert dann den Sinn heraus, dabei "erlöschen alle jene
Farben, Formen, Zeichen und Lichter, die nicht im Dienste des gesuchten
Sinns, der einmal gesetzten Bedeutung stehen." Abgesehen davon, dass
die Sache mit der Sinnsetzung durch den Autor und der Sinnfindung durch
den Leser und Interpreten meist nicht so direkt und eindimensional
aufeinander abgestimmt funktioniert, sollte man dieses anregende Buch
als Verständnisanregung durchaus griffbereit haben.
(KS; 02/2007)
Peter
von Matt: "Das Wilde und die Ordnung"
Carl Hanser Verlag, 2007. 293 Seiten.
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Peter
von Matt: 1937 in Luzern geboren, Studium der Germanistik, Anglistik
und Kunstgeschichte in Zürich. Promotion bei Emil Staiger
über Grillparzer. 1964-76 Gymnasiallehrer in Luzern, ab 1967
Assistent bei Emil Staiger an der Universität Zürich.
1970 Habilitation über E.T.A. Hoffmann, seit 1976 Ordinarius
für Neuere Deutsche Literatur an der Universität
Zürich. 1980 Gastprofessor an der Stanford University,
Kalifornien, 1992/93 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Matt ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung Darmstadt, der Akademie der Wissenschaften, Berlin, und der
Sächsischen Akademie der Künste. Er lebt in
Zürich.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Liebesverrat.
Die Treulosen in der Literatur"
Peter von Matt hat in seinem - gelehrten und unterhaltsamen - Buch
eines der ältesten und gleichzeitig aktuellsten Themen der
Menschheits- und Literaturgeschichte aufgegriffen: den Liebesverrat.
Von der
antiken Erotik bis zu
Boccaccios Reich der Sinnenfreuden, von
der schmachtenden Liebesdichtung bis zur bürgerlichen Ehe
verfolgt er die Spuren der maßlos Liebenden und
maßlos Enttäuschten, der Gehörnten und
Verführer aus Passion, die atemlos die Verhältnisse
wechseln. (Carl Hanser Verlag)
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"Die
Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist"
Intrigen gehören zu unserer Zivilisation, und das schon seit
Adam und Eva.
Peter von Matt hat sich dieses Phänomens
angenommen und führt uns die zahlreichen Facetten der Intrige
anhand von wunderbaren Beispielen aus der Weltliteratur vor: das
Kuckucksei und das
Trojanische Pferd, Lady Macbeth und die Marquise de
Merteuil, der durchtriebene Fuchs, Mr. Ripley und viele mehr. Es geht
um die
Täter, ihre Helfer und die Opfer und das Wesen der
Intrige. Und dabei erklärt Peter von Matt auch gleich noch das
Wesen ihres Hauptakteurs: des Menschen. (Carl Hanser Verlag)
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"Wörterleuchten.
Kleine Deutungen deutscher Gedichte"
Lyrik lesen!
»Das
Gedicht vermag so unmittelbar zu faszinieren und zu irritieren, zu
begeistern und zu verärgern wie keine andere literarische
Form«, sagt Peter von Matt. Daher hat er sich daran gemacht,
eine umfassende Auswahl der besten Gedichte zusammenzustellen: Sechzig
kleine Meisterwerke, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, von Klassikern
wie Goethe, Heine,
Hölderlin oder
Brecht ebenso wie von kaum
bekannten Dichtern. Elegant bringt Peter von Matt die Texte zum
Leuchten mit einer geschliffenen Interpretation, die nicht mehr
Lektürezeit in Anspruch nimmt als das Gedicht. So wird der
Leser in ›Wörterleuchten‹ unangestrengt
mit den jeweiligen Besonderheiten vertraut gemacht, blendend
unterhalten und nicht zuletzt zu eigenen Deutungen angeregt. (dtv)
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"Das
Kalb von der Gotthardpost: Zur Literatur und Politik der Schweiz"
Peter von Matt liebt die Schweiz, ein Land zwischen Idylle und
Globalisierung, zwischen alpiner Tradition und Hightech-Tunnel. Reich
an Bildern und Weisheit, mit Witz und kämpferischer Vehemenz
wirft er aber auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft: Auf
ihren schludrigen Umgang mit der Sprache oder die Abschottung gegen
Einwanderer. Mit deutschen Literaten wie Friedrich Schiller oder
Max
Frisch im Blick liest er Politik und Landsleuten seiner Heimat die
Leviten. Dieses Buch führt uns vor Augen, dass und warum die
Beschäftigung mit Literatur mitten ins Herz des Bewusstseins
eines jeden Staatsbürgers trifft. (Hanser)
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Weiterer Empfehlungen:
Elias Canetti: "Das Buch gegen den Tod"
Mit einem Nachwort von Peter von Matt
Der Tod ist mein Todfeind.« Elias Canetti
Sein ganzes Leben lang
wollte Elias Canetti (1905-1994) dieses Buch schreiben: Von 1942 bis zu
seinem Lebensende machte er Aufzeichnungen ausdrücklich »gegen« den Tod
und ergänzte sie durch Material aus
Philosophie, Literatur,
Ethnologie
und der Kunst- und Kulturgeschichte. Nie aber formt er daraus die
geplante Studie, nie aber schreibt er, wie Peter von Matt in seinem
hervorragenden Nachwort formuliert, den ersten Satz. Jetzt erst
erscheint, was Canetti selbst nicht zu Ende führen konnte. Sein
bewegendes Buch – überwiegend zusammengestellt aus den bisher
unveröffentlichten Notaten des Nachlasses – ist die Summe seines
Nachdenkens über und gegen den Tod. Ein bisher unsichtbares Hauptwerk
des Nobelpreisträgers, der den Tod nicht akzeptieren wollte, ist
sichtbar geworden.
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Walter Muschg: "Die
Zerstörung der
deutschen Literatur"
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zur
Rezension ...