Gisela Graichen, Horst Gründer: "Deutsche Kolonien"

Traum und Trauma


Teutsche Massa

"Zwischen Völkermord und Südseeromantik spannt sich der Bogen dieser faszinierenden und fundierten Darstellung, die ein Standardwerk werden wird" (Waschzettel). Das deutsche Kolonialreich existierte offiziell von 1884 bis nach dem Ersten Weltkrieg - die Frage bleibt: War es "Traum und Trauma" (Untertitel) zugleich?
Die Geschichte der Kreuzzüge, Eroberungen, Entdeckungen, Kolonialisierungen und Emigrationsströme mündet gnadenlos in die heutige Globalisierung. Ausgangspunkt war immer ein westeuropäisches Sendungsbewusstsein bzw. der Überlegenheitsgedanke des "weißen Mannes" - oder auch eine naive Erwartung grenzenloser Freiheit ganz woanders. Wenn man bedenkt, wie sich die größte gesamteuropäische Kolonie Nordamerika entwickelt hat, möchte man das Rad der Geschichte schamhaft zurückdrehen.

Die Länder Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland und Spanien waren die meist erfolgreicheren imperialistischen Kolonialkonkurrenten Deutschlands - dennoch zieht sich ein vermaledeiter roter Faden von dem Spruch "Und es mag am deutschen Wesen / ein mal noch die Welt genesen" (Emanuel Geibel, 1861) über die Herrenrasse-Ideologie der Nazis bis zur christlich-sozialen "deutschen Leitkultur". Und man könnte die ernsthaft-alberne Frage stellen, ob es ein Hybris-Gen gibt und ob die Deutschen besonders viel davon gevespert haben?!

Erste Versuche einer "teutschen" Kolonialpolitik gab es bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts - "weitgehend im Zeichen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik des absolutistischen Staates, der darauf bedacht war, die ständigen Finanznöte, verursacht durch Kriege, Hofhaltung, Heer und Beamtentum, nicht zuletzt über eine Förderung des Außenhandels und den Schutz des eigenen Wirtschaftsraums zu beheben." Sind das nicht suspekte Motive, die auch heutzutage noch hinter dem sogenannten "Outsourcing" (dt. "Ausgliedern") und sowieso der angeblich unaufhaltsamen Globalisierung stecken?! Allerdings erwiesen sich die Deutschen (Preußen?) lange Zeit als zu untalentiert, um von dem sogenannten Dreieckshandel der anderen europäischen Nationen zu profitieren und überseeische Kolonien selbst zu verwalten.

So bestürzend-erstaunlich es sein mag, mit welchem Pathos und welcher Selbstverständlichkeit man generell an die Okkupation von Kolonien dachte - umso überraschender mag es klingen, dass sich bürgerliche Liberale und Radikale Mitte des 19. Jahrhunderts für einen starken Nationalstaat, eine Flotte und ein Kolonialreich einsetzten! Auch wenn es Pläne gab, aus Nord-Patagonien ein "Neu-Preußen" zu machen, wanderten im 19. Jahrhundert weniger als 5 Prozent der Deutschen nach Lateinamerika aus, dagegen über 95 Prozent in die Vereinigten Staaten von Amerika. Den Forschern, Kaufleuten und Missionaren folgten die Soldaten - mit der Erklärung des Reichsschutzes für Erwerbungen des Bremer Tabakwarenhändlers Adolph Lüdwitz in Südwest-Afrika am 24. April 1884 begann offiziell der deutsche Kolonialismus. Friedrich Fabri propagierte mit seiner Schrift "Bedarf Deutschland der Kolonien?" die "Exportoffensive an Waren, Kapital und Menschen." Er wollte durch Auswanderung die soziale Frage in Deutschland lösen sowie Teile der sich emanzipierenden Arbeiterschaft deportieren. Entscheidend war jedenfalls, dass sich Bismarck "Vom Kolonialskeptiker zum pragmatischen Kolonialpolitiker" (Kapitelüberschrift) wandelte. Die europäischen Kolonisatoren betrachteten wie die Siedler in Nordamerika den afrikanischen Kontinent als terra nullius, worüber sie nach Belieben verfügen konnten.
Deutschland wurde immerhin die viertgrößte Kolonialmacht der Welt - sein Kolonialbesitz war fast sechsmal so groß wie das Deutsche Reich selbst. Im Jahr 1914 betrug der Besitz in Prozenten an der Weltlandfläche: Großbritannien 22 Prozent, Russland 11 Prozent, Frankreich 7 Prozent, Deutsches Reich 2 Prozent! Die Frage, die das vorliegende Buch aufwirft, ist u.a., ob die Enteignungen und Misshandlungen der Afrikaner durch die Kolonialherren als kompensiert gelten können durch die Errichtung einer Infrastruktur (Straßenbau, Eisenbahn)?! Da der Alkoholhandel zu Beginn der deutschen Kolonialära in Togo und Kamerun nahezu vier Fünftel des deutschen Warenangebots ausmachte, sorgte der Alkoholismus mit für die Zerstörung afrikanischer Kultur!

Im Januar 1904 kommt es zum Herero-Nama-Aufstand, bei dem etwa die Hälfte des Herero-Stammes umgebracht, in die Würste getrieben oder in Konzentrationslagern zermürbt wird. Der Herero-Krieg ist bis heute in Namibia ein Trauma geblieben - wenn auch beim Maji-Maji-Aufstand 1905/06 in Deutsch-Ostafrika mehr Afrikaner ums Leben kamen. Ein sehr wichtiges Kapitel stellt die Frage: "Die Kolonialkriege - geplante Völkermorde?" - und da heißt es: "Der gesamte europäische Expansionismus gleicht einer Serie von barbarischen Exzessen, so dass er geradezu als Beispiel für eine Geschichte und Typologie des Genozids und Ethnozids zu stehen scheint (...) Mit der größten Selbstverständlichkeit wurde im Namen der abendländischen Kultur unterdrückt, gequält und getötet." Auch wenn in der Folge dessen Reformen angedacht wurden, basierte die Kolonialisierung im Wesentlichen auf drei "Lösungen" für die Einheimischen: Verdrängung, Versklavung, Vernichtung.

Das um die Wende zum 19. Jahrhundert ausbrechende "Tahiti-Fieber" brachte z.B. die Idee des "Göttinger Hainbundes" zu einer "Poeteninsel" hervor - und bescherte Deutschland schließlich im Jahre 1885 das "Bismarck-Archipel" in der Südsee. Hier gelang es diversen missionarischen Gruppierungen, deutschen Einfluss geltend zu machen. Kinder aus Mischehen auf Samoa konnten den Status als "Kulturdeutscher" erwerben, wenn sie Deutsch sprachen und europäische Bildung nachwiesen. Einerseits galten die Samoaner als "Germanen der Südsee" - andererseits wurden sie in "Hagenbecks Tierpark" ausgestellt.
Nach der Farbsymbolik des bereits Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommenen biologischen Rassismus kamen zu den "Schwarzen" Afrikas und den "Braunen" der Südsee noch die "Gelben" in China dazu. Hier operierte man eher kulturmissionarisch, flankiert vom Industriepotenzial Krupps. Das vorliegende Buch geht auch kurz auf deutsche Ambitionen im Nahen Osten ein. In weiteren Kapiteln wird die Zeit nach dem eigentlichen Kolonialismus behandelt: Vom Ersten Weltkrieg bis in die "Nachkriegszeit".

Ein sehr brisantes Zwischenkapitel beschäftigt sich mit dem damals zurechtdefinierten "Auftrag des weißen Mannes", den weniger entwickelten Völkern die Segnungen europäisch-westlicher Zivilisation zu bringen. Man sieht, wie kompliziert oder wie simpel es ist, mit den Begriffen "Entwicklung" und "Zivilisation" Weltpolitik zu manipulieren. Nimmt man flankierend dazu noch den christlichen Missionseifer und das imperiale Interesse des Großkapitals, so wird evident, dass Kolonialisierung weniger mit Moral und Kultur - sondern mehr mit Macht, Ausbeutung und Rassismus zu tun hatte. Nicht nur für die deutschen, sondern für alle Kolonialideologen galt die "Erziehung zur Arbeit" durch Züchtigung als Maxime! Der teutsche Massa regierte mit Zwangsarbeit und Prügelstrafe. Da verbietet sich jegliche Romantisierung, Abwiegelung oder "Objektivierung".

Mit dem Versailler Vertrag von 1919 wurde auch das offizielle Ende Deutschlands als Kolonialmacht besiegelt. Allerdings fassten deutsche Unternehmer und Pflanzer mit Unterstützung der Reichsregierung teilweise wieder Fuß in Afrika. Während sich bei einer Befragung von 200 Persönlichkeiten im Jahre 1927 etwa Thomas Mann gegen deutsche Kolonien aussprach, äußerte der damalige stellvertretende Präsident der "Deutschen Kolonialgesellschaft" (und spätere BRD-Kanzler!) Konrad Adenauer Folgendes: "Das Deutsche Reich muss unbedingt den Erwerb von Kolonien anstreben. Im Reiche selbst ist zu wenig Raum für die große Bevölkerung."

Ein Gutteil der deutschen Kolonialliteratur erschien nach 1914 und zeichnete den Mythos einer vom deutschen Wesen kontrollierten Welt. In diese Zeit gehört auch Hans Grimms Buch "Volk ohne Raum" - in dem dieser Autor u.a. die "Notwendigkeit von Kolonien" predigt. Dieser virulente Kolonialrevisionismus diente den Nazis als ideologische Basis für ihre Forderung nach "Lebensraum" im Osten. In den Jahren 1938/40 reifte ein "Mittelafrika-Plan" - im Februar 1943 wurde das "Kolonialpolitische Amt" geschlossen. (Hitler hatte genügend Probleme mit Russland).

Mit Hinweisen auf koloniale Klischees, die weiterhin in den Köpfen der Deutschen spuk(t)en, und solch scheinbar harmlosen Erscheinungsformen wie den "Sarotti-Mohren" und den "Nickneger" (zum Spenden Sammeln) runden die Autoren ein erstaunliches und kolossales Buch ab - welches im Grunde das grausame Vorspiel deutscher Herrenmentalität dokumentiert und analysiert - und hoffentlich endgültig dazu beiträgt, sich von jedweden rassischen Überlegenheitsdünkeln zu befreien!

(KS; 12/2005)


Gisela Graichen, Horst Gründer: "Deutsche Kolonien"
Ullstein, 2005. 479 Seiten.
ISBN 3550076371.
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Gisela Graichen studierte Publizistik, Rechts- und Staatswissenschaften und ist Diplom-Volkswirtin. Als Fernsehautorin entwickelte sie für das ZDF preisgekrönte Serien wie "Schliemanns Erben" und "Humboldts Erben". Sie wurde mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz und, für "Schliemanns Erben", mit dem "Bayerischen Fernsehpreis" ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihr "Goldfieber" und "Heilwissen versunkener Kulturen".
Horst Gründer lehrte als Professor Neuere und Neueste sowie Außereuropäische Geschichte an der Universität Münster. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen und sozialen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, insbesondere zur Kolonialgeschichte und Geschichte der außereuropäischen Welt.

Ein weiteres Buch von Gisela Graichen:

"Heilwissen versunkener Kulturen. Im Bann der grünen Götter"

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Gisela Graichen und ein Team renommierter Autoren und Wissenschaftler sind diesen Fragen nachgegangen und belegen mit spektakulären Funden, erstmals entschlüsselten Codizes und wiederentdeckten Heilpflanzen die große Bedeutung uralten Wissens für unsere Gegenwart. (Econ)
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