Joseph Rovan: „Geschichte der Deutschen – Von ihren Ursprüngen bis heute“
Ein faszinierendes Buch - und so ist man versucht, in hymnische Lobpreisungen auszubrechen, und doch verlangt eine seriöse Besprechung, wie überhaupt das durch eine blutige Geschichte belastete Thema, eine ruhige sachliche Betrachtung, die sich nicht zu Begeisterungsstürmen hinreißen lässt, obgleich solcherart Emotionalität der ausnehmenden Qualität dieses Gesamtkunstwerkes nur jene Gerechtigkeit angedeihen ließe, die es zweifellos verdient.
Der 1918 in München geborene Joseph Rovan ist Universitätsprofessor für deutsche und französische Geschichte, lebt und unterrichtet in Frankreich. Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte er in Deutschland (in München, Wien und Berlin), dem Land seiner Väter, sodann lebte er in Frankreich, das dem rassisch verfolgten „Bürger Europas“ 1934 zur neuen Heimat wurde. Während des zweiten Weltkriegs (1939-1945) kämpfte Joseph Rovan in der Résistance gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, da er sich nun „seinen“ französischen Landsleuten verpflichtet fühlte, kam 1944 als Deportierter in das Konzentrationslager Dachau, überlebte dort als Mitglied der sogenannten „Lageraristokratie“ (er führte die Lagerkartei) und engagierte sich nach dem Krieg für den Aufbau eines demokratisch orientierten Deutschlands (Volksbildung in der französischen Besatzungszone).
Für gewöhnlich ist es nicht meine Art, einer Rezension den Lebenslauf des Autors voranzustellen. Doch diesmal scheint es mir wichtig, auf die Unverfänglichkeit der Person des Schriftstellers hinzuweisen, denn Thema der Besprechung sind zweitausend Jahre deutsche Geschichte, und jedermann weiß, mit welcher Brisanz die Thematisierung deutscher Geschichte regelmäßig verflochten ist. Joseph Rovan hegt Liebe für das Volk seiner Väter, und seine mitreißende Sympathie für das Deutschtum spricht unverhohlen aus jeder Seite dieser monumentalen Gesamtschau deutscher Geschichte. Umso wichtiger ist es darauf hinzuweisen, wie erhaben Rovan über jede Form von Chauvinismus ist. Rovan ist Patriot im besten Wortsinn, das heißt, keineswegs blind für Kritikwürdiges, doch voll demütiger Ehrerbietung vor dem Großen und Schönen, dessen die deutsche Geschichte so reich ist. Und in der Tat, es gibt keine würdigere Abhandlung deutscher Geschichte als diese von Rovan, brillant, spannend, von unübertrefflicher Wortkraft getragen und doch einfach verständlich, selbst in der Behandlung schwieriger Philosophie, wie bspw. jener von Karl Marx, dessen messianisches Weltbild mit all seinen historischen Konsequenzen meines Wissen noch nirgendwo so einsichtig und lebendig zur Darstellung gebracht wurde wie in diesem Buch von Joseph Rovan.
Die Geschichte Deutschlands beginnt mit dem konfliktträchtigen Nebeneinander von germanischen Stämmen und dem römischen Imperium. Das heute so reiche Deutschland war zu jener Zeit ein bitterarmes Land, bewohnt von kriegerischen Stämmen, die kaum noch sesshaft geworden keine Stadtkultur aufwiesen und gerade einmal eine primitive Agrarkultur entwickelt hatten. Die Männer befassten sich ihr Leben lang in der Übung von Kampftechniken und fanden auch für gewöhnlich im Krieg ihren beinahe obligaten „Heldentod“ (Walhall = Die Halle der Gefallenen). Gelegentliche Versuche Roms, dieses unwirtliche Germanien zu erobern, waren tatsächlich nicht unbedingt von Misserfolgen gekrönt, doch fehlte in Rom einfach der politische Wille zur Einverleibung. Germanien war kalt, düster und arm, von schier unendlichen Wäldern bedeckt, ohne entwickelte Landwirtschaft, ohne städtische Kultur; es gab also nichts, was man hätte ausbeuten können, und bedachte man noch die sprichwörtliche Kriegslust der Germanen, so sprach einfach eine jede Kosten-Nutzen-Rechnung gegen das Abenteuer eines Eroberungskrieges. Rom verpasste somit die Gelegenheit der Befriedung des kriegerischen Nordens, erlag schließlich seiner eigenen Dekadenz, und so traten die Germanen die Erbschaft des römischen Imperiums als Heiliges Römisches Reich deutscher Nation an. Der römische Kaiser sollte fortan ein deutscher Kaiser sein, wenn auch das gleichermaßen reiche wie hochkulturelle Italien weiterhin eine besondere Stellung in diesem Reich einnahm und anfänglich jeder deutsche Kaiser bemüht war, seine Herrschaft über die ewige Stadt Rom zu sichern. Italien war der Reichsteil, wo sich Künstler und Philosophen die Türklinke in die Hand gaben, hingegen Deutschland noch lange ein unterentwickeltes Barbarenland blieb, wo sich nur langsam städtische Kulturen herausbildeten; viel schlimmer, bereits vorhandene, noch von den Römern gegründete Städte, verfielen unter der Germanenherrschaft. Erst Mitte des 14. Jahrhunderts (Päpstliche Bulle von 1348) gründete Kaiser Karl der IV. in seiner Residenzstadt Prag die erste Universität auf deutschem Reichsgebiet (Karls-Universität).
Die Geschichte Deutschlands war fortan eine Geschichte der Nöte und Kriege. In viele kleine miteinander rivalisierende Fürstentümer, Landgrafschaften und autonome Städte aufgesplittert blieb Deutschland nach außen hin schwach und wurde zum Kriegsschauplatz für mächtigere Nationen, die bereits zentralisierte Großstaaten gebildet hatten. Religiöse und politische Konflikte führten zu blutigen Kriegen (1618-1648 Dreißigjähriger Krieg), die dauerhafte Fehde zwischen Wien und Paris überzog Deutschland mit immer wiederkehrenden Kriegswirren, und so fiel Deutschland regelmäßig in seiner Entwicklung zurück. Die Aufspaltung Deutschlands in einen protestantischen Norden und in einen rekatholisierten Süden (die Bevölkerung Österreichs war bspw. schon zu 90% zum lutherischen Bekenntnis übergetreten gewesen) schien die Spaltung des Landes endgültig zu besiegeln.
Nach den napoleonischen Kriegen entfaltete sich in Deutschland eine an den Heldenmythen (Nibelungenlied) der Vergangenheit orientierte Nationalbewegung, deren Ziel die Reichseinheit war und deren romantisch-schwärmerischer Charakter (bspw. Richard Wagners Opern, Friedrich Nietzsches Vitalismus) einer irrationalen Haltung Vorschub leistete, die sich ob ihres mythischen Sendungsbewusstseins zur Weltherrschaft berufen fühlte. Wir wissen heute, wie verhängnisvoll diese Entwicklung noch werden sollte, deren auf das große Individuum fixierter Geist im 20. Jahrhundert schließlich den Aufstieg eines irrationalen Tyrannen ermöglichte und dessen weltfremdes Gehaben erst in den Ruinen des zweiten Weltkriegs wieder zu sich kommen sollte. Die Hoffnung auf eine alle Deutschen umfassende Reichseinheit zerbrach am Konflikt zwischen den beiden Reichsmetropolen Wien und Berlin. Im sogenannten Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich siegte am 3. Juli 1866 bei Königgrätz das preußische Bürgerheer wider jedes Erwarten über das österreichische Kriegerheer, doch war es die gewiefte Politik des preußischen Ministerpräsidenten Bismarck, besiegte Kriegsgegner nicht zu demütigen, sondern sie sich zu Freunden und Verbündeten zu machen. Und so entstand die enge Waffenbrüderschaft zwischen Deutschland und Österreich, welche beide Reiche auf Gedeih und Verderb aneinander kettete und 1914 mit der Kriegserklärung Österreichs an Serbien eine kriegerische Kettenreaktion auslöste, die in den ersten Weltkrieg mündete. Zuvor aber noch erhob sich Preußen endgültig zur führenden Macht Europas. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 (Österreich-Ungarn blieb neutral) siegten die Preußen bei Sedan über das französische Heer, besetzten Paris und riefen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles im Januar 1871 den preußischen König zum Kaiser aus. Das Deutsche Kaiserreich konstituierte sich als monarchischer Bundesstaat aus 22 Einzelstaaten und den 3 Freien Städten Hamburg, Bremen und Lübeck. Für die Deutsch-Österreicher bedeutete dies den endgültigen Rauswurf aus dem deutschen Reich, was schmerzlich zur Kenntnis genommen wurde und der Denunzierung der Habsburgermonarchie als Völkerkerker Vorschub leistete.
Wie sehr die neue Reichsverfassung einer gedeihlichen Entwicklung entgegenkam, lässt sich in Zahlen fassen. Hatte das deutsche Reichsgebiet (ohne Österreich) 1800 noch 20 Millionen Menschen gezählt, so waren es im Jahre 1910 schon 67 Millionen. Zugleich nahm die Wirtschaft einen phantastischen Aufschwung, und das Deutsche Reich stieg auf zur bedeutendsten Militärmacht der Welt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Deutsche Kaiserreich bereits auf so gut wie allen Gebieten führend (ob jetzt beim Militär, in der Wissenschaft oder auf wirtschaftlichem Gebiet), und nur noch die mächtige englische Flotte schien das Reich von der ersehnten Weltherrschaft zu trennen. Materielle Zuversicht und Kulturoptimismus waren für die Epoche kennzeichnend, doch kam zugleich ein Antisemitismus auf, der eher rassistisch als religiös motiviert war, und eine Politik der Zwangsgermanisierung in den einst polnischen Provinzen wie in dem teils von Franzosen besiedelten Elsaß-Lothringen beschwor immer schärfere Reaktionen herauf. Man stellte sich schließlich auf einen als unvermeidlich erachteten Krieg um die Weltherrschaft ein, führte und verlor diesen Krieg (1914-1918). Der Diktatfrieden von Versailles demütigte das deutsche Volk, welches in einem von beiden Kriegsparteien gleichermaßen betriebenen Ringen unterlegen war, das eigentlich keinen sachlichen Grund für mutwilliges Demütigen abgeben sollte. Noch schlimmer traf es Österreich, dessen Vielvölkerstaat durch die Friedensschlüsse von Saint-Germain und Trianon aufgelöst wurde, deren besondere Härte nach Meinung des Autors darin bestand, dass man einem Land eine eigene staatliche Existenz aufnötigte, das nichts lieber getan hätte, als das gemeinsame Schicksal der deutschen Nation zu teilen. Joseph Rovan bezeichnet die Friedensschlüsse von Versailles, Saint-Germain und Trianon nicht als Friedensschlüsse, die sich um Aussöhnung bemühen und den Gegner von gestern in Bismarckscher Manier schonen, weil er der Verbündete von morgen sein könnte, sondern er bezeichnet diese Friedensschlüsse als demütigende Verdammungsurteile, in denen der Völkerhass bereits keimte. Die Vereinigten Staaten unter dem idealistischen Präsident Wilson erkannten in diesen Verdammungsurteilen ihre Kriegsziele nicht wieder. Sie verweigerten die Unterschrift und zogen sich aus der europäischen Politik grollend zurück.
Das Wissen um die sozialökonomischen Umstände, welche Hitlers Aufstieg zum Führer des Deutschen Reichs ermöglichten, ist heute allgemein. Dass diese Entwicklung von einer geistigen Strömung getragen wurde, die ihre Wurzeln in der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts hatte und deren geistige Ausrichtung irrational war, wurde schon zuvor erwähnt. Erneuert überzog das Deutsche Reich Europa mit Kriegswirren (1939-1945), wobei der Franzose Joseph Rovan einige sehr interessante Einsichten darlegt. So schreibt Rovan: „... Am 10. Mai 1940 begann der Angriff im Westen. ... Der Vorstoß durch die Ardennen im Juni 1940 überraschte eine Armeeführung, der dieser Krieg gegen den Bannerträger des Antibolschewismus nicht behagte. ... Diese unerwartete Entwicklung verschlug den Zeitgenossen den Atem. Was aber wäre geschehen, wenn Frankreich wirklich Krieg geführt hätte? Ein neuer Aderlass mit zwei Millionen Toten hätte de facto das physische Ende der Nation bedeutet.“ Eine interessante Erkenntnis in diesem so an Erkenntnissen überreichen Buch, welche die Blitzkriegerfolge der deutschen Wehrmacht in einem anderen Lichte zeigen. Frankreich, das den Feind weiter im Osten wähnte, wollte diesen Krieg nicht führen und konnte ihn sich nach den unermesslichen Opfern des ersten Weltkriegs als 40 Millionenvolk auch nicht mehr leisten.
Rovans Geschichte der Deutschen schließt ab mit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 und seiner neuen Rolle als vereintes Deutschland in einem zu einigenden Europa, dem hinkünftig Kriege zwischen den Völkern erspart bleiben mögen. Einem konservativen Lamento gleicht die Zeitdiagnostik des tatsächlich gar nicht so konservativen, doch zeitskeptischen Rovan, wenn er schreibt: „Das Fernsehen, die Pille, der allgemeine Wohlstand, die Erosion von Glaube und Sitte im traditionellen Verständnis haben bei den Westdeutschen zu Individualismus, Hedonismus und in mancher Hinsicht auch zum „Autismus“ geführt. Sie haben sich in ihrem Egozentrismus eingerichtet und schreien Protest, sobald ihre erworbenen Rechte und Besitzstände angetastet werden könnten. ... die Uniformierung der Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Leitbild des Managers, der ungeheure Druck, den die Freizeitindustrie auf das Zeitbudget, das Denken und die ganze Lebensführung ausübt, alles das sind Symptome des gesellschaftlichen Wandels, der Kultur und Alltagsleben gründlich umgestaltet. Manche Kritiker sprechen von Amerikanisierung, aber sie machen es sich zu leicht.“ Rovan ist ein tiefgründiger Denker, der keinem simplen Pauschalurteil aufsitzt, welcher jedoch in der Europäischen Union eine Chance für die erstmalige Verwirklichung einer gemeinsamen Politik tätiger Solidarität sieht, und er bricht eine Lanze für die Fraktionen der Grünen, die sich zwar oft lächerlich und bisweilen auch verhasst machen, doch lächerlich und verhasst schienen in den Augen der griechischen und römischen Würdenträger und Intellektuellen ebenso die christlichen Agitatoren der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Heute gehe es darum, bei der Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse in allen Ländern der Welt Hilfestellung zu leisten, und dabei sei die Begeisterung bisweilen verschrobener Avantgarde-Gruppen, die zum Kreuzzug für die Rettung der Erde aufrufen, ein nicht zu unterschätzender Beitrag. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ – dieser alte Spruch mündete einst in Krieg und Verderbnis, doch kommt ihm heute laut Ravon eine erneuerte Bedeutung zu, wenn es gerade Deutschland als mächtigem europäischen Staat obliegt, die doppelte Aufgabe der Rettung Europas und der Rettung der Erde beherzt anzugehen. Denn politische Vernunft und politischer Wille sind für dieses existenzielle Projekt vor allem in Deutschland zur Genüge vorhanden, das heute wieder, in alter deutscher Tradition eines Luther, Marx und Bismarck (aus der Sicht des Historikers Joseph Rovan handelt es sich bei diesen Männern um die „großen Deutschen“, in deren Person profunder Scharfsinn mit ausgeprägtem, zugleich kritischem und konstruktivem Pragmatismus verbunden ist) das Zeug zum Reich der Geister hätte. Als größte Wirtschaftsmacht Europas müsse Deutschland seine Verantwortung für Europa und die Welt wahrnehmen und die Dinge stünden günstig, dass es – nach Überwindung einer depressiven Nachkriegsphase – zur Übernahme seiner führenden Rolle im Zivilisationsprozess der Völkergemeinschaft bereit ist.
Doch die Geschichte, jederzeit und überall, kann sich überschlagen und ins Scheitern absinken. Das ist der Preis unserer Freiheit. – Mit diesen besinnlichen Worten beschließt Joseph Rovan sein großes Opus, welches in jeder Hinsicht erhabene Ausnahmeliteratur darstellt.
(Torquato Tasso; 22. Juni 2002)
Joseph Rovan: „Geschichte der
Deutschen – Von ihren Ursprüngen bis heute“
DTV München, 1998.
Broschiert. 859 Seiten.
ISBN 3-4233-0638-6
ca. EUR 17,50
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Zur deutschen Geschichte von der Stauferzeit bis zu König Wenzel dem Faulen