Achim von Arnim, Clemens Brentano (Hrsg.): "Des Knaben Wunderhorn"
Die wohl berühmteste
Sammlung deutscher Volkslieder entstand, wie viele andere Werke der
deutschen
Romantik, aus einem Gemeinschaftsunternehmen. Ihre beiden Väter,
die Dichter Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842), denen
die Literaturgeschichte die sogenannte Heidelbergromantik verdankt,
führten wahrscheinlich im Frühling 1802 auf ihrer gemeinsamen Rheinfahrt
die ersten dahingehenden Überlegungen. Diese entsprachen einem allgemeinen
Interesse an den poetischen Wurzeln in der Volksliteratur, dem Bemühen,
die bisherigen, stark von der Aufklärung bestimmten deutschen Gedichtanthologien
mit einem romantischen Gegenstück zu kontrastieren, und hatten in ihrer
Zielsetzung einer gesamtdeutschen Auswahl auch eine starke politische Note,
konnten solcherart als nationale Gegenreaktion auf die
Eroberungszüge
Napoleon Bonapartes, welcher große Teile der deutschen Länder
besetzt hielt, verstanden werden.
Ehe man sich 1805 schließlich ernsthaft an die Vorbereitungen dieses Projektes
machte, musste noch manche Einzelidee wieder verworfen werden, etwa, die Melodie
des Volkslieds, sofern noch bekannt, den Texten beizufügen. Auch von dem
Plan, möglichst viele Lieder älteren Datums zu sammeln, wurde abgegangen;
noch etwa 40 Lieder aus dem 16. Jahrhundert oder dem Spätmittelalter sollten
sich schlussendlich in der Sammlung finden. Aufrechterhalten wurde hingegen eine
Aufteilung in Themenbereiche (Trinklieder,
Liebeslieder, Kinderlieder, Kriegslieder usw.) und eine harmonische Mischung von
nord- und süddeutschem Liedgut, wofür sich auch der Umstand günstig
erwies, dass Arnim Protestant, Brentano Katholik war.
Um das Material für die Sammlung zu bekommen, wurden zahlreiche Freunde und
Bekannte, im Weiteren (durch einen Aufruf im Nachwort des ersten Bandes) die gesamte
an der Anthologie interessierte Öffentlichkeit um Hilfe, nämlich um
Zusendung älterer, wenig bekannter schöner Volkslieder, die sich in
ihrer Bibliothek vorfänden, gebeten. Dieses Material wurde dann von den beiden
Herausgebern gesichtet, ausgewählt oder verworfen, und auch das Eine oder Andere korrigiert. Diese Korrekturen bestanden nun aber nicht nur im Ersetzen
manchen veralteten Wortes durch ein neueres und in einer gewissen Annäherung
von Dialektgedichten an die hochdeutsche Sprache, sondern auch in radikalen Eingriffen
in Form, Länge und Inhalt der Lieder. Die Auffassung von Arnim und Brentano
(und wahrscheinlich auch von manchem ihrer Zusender) hierbei war die, dass das
Wesentliche an den Gedichten die mögliche Inspiration für den Leser
sei (und die eigene Inspiration durch das Wunderhorn vertrauenswürdig). Dass
diese romantischen Eingriffe verschwiegen wurden und die spärlichen Quellenangaben
häufig fiktiver Natur waren, wurde denn auch mancherorts, zum Beispiel von
Johann Heinrich Voss, als literaturwissenschaftliches Verbrechen gebrandmarkt.
Die Mehrheit der Leser und Rezensenten hingegen, allen voran
Johann Wolfgang von
Goethe (dem das Buch allerdings, wie gesagt werden muss, klugerweise gewidmet
war), nahm die Sammlung wohlwollend bis enthusiastisch auf. Man lobte die Bewahrungstat
als solche, die feine Auswahl, die Vielfalt von Themen und Stimmungen, wobei es
Clemens Brentano, der auch mit
eigenen Dichtungen zur Crème seiner Zeit gehörte, sehr gefreut haben
wird, dass es häufig von ihm bearbeitete Stellen, Nachdichtungen bzw. vollständige
Neudichtungen von ihm waren, die als besonders typische und schöne Beispiele
für den schlichten, kraftvollen, empfindsamen Volkston angeführt
wurden.
Heute findet
sich manch allgemein
bekanntes Gedicht in "Des Knaben Wunderhorn". Bei seinem
Erscheinen konnte es den Anspruch nicht verwirklichen, von weiten Bevölkerungsteilen
gelesen zu werden, da es schließlich nicht so wohlfeil zu haben war, wie
von den Herausgebern gewünscht. So diente es zunächst eher als Lektüre
für die Oberschicht und Künstlerkollegen, wirkte solchermaßen
aber bald ins Volk zurück. Besonders sein naiver, ziemlich ungekünstelter
Grundton übte starken Einfluss auf Dichter wie
Heinrich Heine und
Joseph von Eichendorff aus. Und auch der Ton der Musik erklang bald wieder aus dem Wunderhorn;
viele Lieder wurden von
Schumann,
Brahms,
Mahler und anderen Größen
(wieder)vertont und erfüllten auf diese Art auch die Absicht von Arnim und
Brentano: das poetische Volksgut um einen kostbaren Schatz zu bereichern und -
was den kreativen Teil anlangt - es wesentlich mitzugestalten.
(fritz; 02/2003)
Achim von Arnim, Clemens Brentano (Hrsg.):
"Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder"
Artemis & Winkler, 2001. 927 Seiten.
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