"Er hat ja gar nichts an!" ruft ein Kind aus der Masse, während es auf den in seinem Volk badenden nackten Kaiser zeigt. Es ist der Herrscher aus dem Hans-Christian-Andersen-Märchen, der zwei schelmischen Betrügern aufgesessen ist. Sie hatten ihm gar wunderbare Kleider angeboten, die nur jene nicht sehen könnten, welche entweder nicht für ihr Amt taugten oder dumm wären. Die schlauen Betrüger fertigten und kassierten für Kleider aus Luft, die selbstverständlich niemand am kaiserlichen Hof wahrnehmen konnte. Jeder aber wahrte den Schein, wollte man doch nicht der Unwürdigkeit oder gar Dummheit bezichtigt werden. So kam es, dass der Herrscher aus Angst vor Blamage völlig nackt in die Öffentlichkeit trat. Erst ein Kind, das auf dem Parkett der Eitelkeiten nichts zu verlieren hatte, führte ihm und seinem Hofstaat die erlösende Wahrheit vor Augen.
Es handelt sich um einen sehr bekannten Erzählstoff, von dem verschiedene Überlieferungen existieren. Ausgehend vom Projekt "Poetologie der Körperschaften" am Zentrum für Literaturforschung Berlin haben die AutorInnen dieses Buches verschiedene Varianten des Stoffes und prominente Interpretationen gesammelt. In einem zweiten Teil gehen sie mit bebilderten Texten zu verschiedenen Stichwörtern der politischen Bedeutung dieser Thematik auf den Grund. Die Positionen des seine Macht konzentrierenden Herrschers, seines Gegenparts in Gestalt des Volkes und der sich in diesem klaren System frei bewegenden, scheinbar unbeteiligten Personen - der Kinder und Narren - werden akribisch durchleuchtet. Eine scharfsinnige kulturwissenschaftliche Lektüre.
(ama;08/02)
Thomas
Frank/Albrecht Koschorke/ Susanne Lüdemann/ Ethel Matala de Mazza/ Andreas Kraß:
"Des Kaisers neue
Kleider. Über das Imaginäre
politischer Herrschaft"
Fischer
Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2002
220 Seiten
ca. EUR 13,90.
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