Pablo De Santis: "Voltaires Kalligraph"
"Die Feder ist mächtiger als das Schwert ..."
"Unsere Gegner haben die
Enzyklopädie
und den festen Willen, alles zu erklären. Wir haben die Kalligraphie
und die Pflicht, die Welt in ein Rätsel zu verwandeln", das sind
Worte, die der Autor einem Abt des Dominikanerordens im Frankreich zur
Mitte des 18. Jahrhunderts in den Mund legt. Es ist eine Zeit, in der
sich das Ancien Régime aus Adel und Klerus im Angesicht der
hereinbrechenden Aufklärung noch einmal mit aller Kraft aufbäumt, um die
alten Machtverhältnisse gegen neue, rationalistisch geprägte Ideen mit
Folter, Gift und Schafott zu verteidigen. In diese unruhige
Umbruchsphase hineingeboren, sucht der junge Dalessius nach der
Verwirklichung seines Traumes. Er will Kalligraph werden, einer jener
Kunstschreiber, die mit gespitzter Feder und einem Arsenal
unterschiedlichster Tinten bewaffnet, prachtvolle Bücher entstehen
lassen. Sein Problem: er trachtete nach Vergangenem, denn der
Berufsstand des Kalligraphen war bereits "so tot, dass wir uns als
Archäologen
unserer eigenen Zunft verstanden", wie Dalessius es selbst
formulierte.
Ergo bleibt dem Zwanzigjährigen nichts Anderes übrig, als sein Talent an
Justitia zu verkaufen; Dalessius wird Gerichtsschreiber; wenngleich ein
ungewöhnlicher.
Einmal wurde einem Todgeweihten, dessen Urteilsspruch Dalessius zu
Papier bringen musste, das Verdikt samt all seinen Schnörkeln und
Siegeln kurz vor dem Weg zum Henker gezeigt. Der Mann war von der Kunst
des verkannten Kalligraphen so angetan, der aus seinen Verbrechen etwas
derart Schönes entstehen lassen hatte, dass er aus sich hervorstieß, er
würde weitere zehn Männer umbringen, bekäme er dafür nur wieder solch
ein Kunstwerk zu sehen. Von diesem und anderen kuriosen Fällen wenig
angetan, beschloss Marschall de Dalessius, Dalessius' Onkel, seinen
Neffen weit weg zu schicken, auf Schloss Ferney, wohin ein anderes
Enfant terrible seiner Zeit, der scharfzüngige Philosoph Voltaire, sich
zurückgezogen hatte. Voltaire, mittlerweile ein alter Mann, findet
Gefallen an der Art des jungen Dalessius und schickt ihn als seinen
persönlichen Kurier nach Toulouse. Voltaire, des Klerus' schärfster
Kritiker, vermutet dort eine Verschwörung fanatischer Mönche.
Dalessius reist inkognito mit der "nächtlichen Post", einem
Unternehmen im Besitz seines Onkels, das die Leichen Gefallener oder
Verunglückter in ihre Heimatorte überführt. In der holprigen Kutsche
entdeckt er einen Glassarg, in dem eine seltsam anmutige Frau liegt, die
irgendwie untot wirkt; in der Tat. Wenig später sollte er die
Auferstandene in einem
Freudenhaus
"lebendig" wiedersehen, aber nur für kurze Zeit, denn Schergen des
Dominikanerordens schneiden ihr die Kehle durch; wenngleich das auch
deren Ende bedeutet; zumal die geheimnisvolle Unbekannte kein Mensch,
sondern eine perfekt nachempfundene Maschine war - mit
Selbstzerstörungsvorrichtung. Konstruiert wurde die explosive femme
fatale vom genialen Ingenieur von Knepper nach dem Abbild seiner Tochter
Clarissa, die er wie eine Gefangene von der Welt abschirmt. Als
Dalessius in Paris Clarissa, das lebende Vorbild der "Untoten", trifft,
nimmt eine unerfüllte Beziehung zwischen den beiden ihren Anfang. Von
Knepper will den Kalligraphen nicht nur von seiner Tochter fernhalten,
er steht gezwungenermaßen auch im Dienst des Dominikanerabtes Mazy,
welcher ihn beauftragte, eine detailgetreue Maschine nach dem Abbild des
im Sterben liegenden Bischofs anzufertigen. Mithilfe des sprachfähigen
Roboters soll die Sache der Kirche gegen jene der Aufklärer und
Häretiker verteidigt werden, ohne dass Außenstehende davon erführen.
Dalessius, vom Abt enttarnt, flieht zurück zu Voltaire, der ihn aber mit
neuen Instruktionen ausgerüstet erneut nach Paris schickt. Voltaires
Kalligraph gerät dabei immer mehr in das klerikale Komplott hinein.
Schauriger Höhepunkt ist Dalessius' Zusammentreffen mit dem
Meister-Kalligraphen Silas Darel, seinem einstigen Idol. Darel sitzt
leichenblass in einer Verlies ähnlichen Klause und schreibt mit dem Blut
seiner Feinde. Der junge Kalligraph tötet den alten. Wie? Nun, die Feder
ist bekanntlich mächtiger als das Schwert. Dies bestärken auch ein von
Voltaire zur Vervielfältigung gegebenes kryptisches Pamphlet sowie 42
Worte, durch die der Roboter-Bischof letztendlich enttarnt wird.
Mehr als 17 Jahre danach hütet Dalessius das konservierte Herz des
längst verstorbenen
Voltaire
und sinniert: "Herzen verausgaben sich im Leben. Danach kann ihnen
nichts mehr Schaden zufügen." Eine wunderbare Metapher für den
hart erkämpften Sieg der Aufklärung.
Wie schon in "Die Übersetzung" bzw. "Die Fakultät" versteht es der
argentinische Schriftsteller, Elemente verschiedener Genres perfekt zu
etwas literarisch völlig Neuartigem zu vermengen, das weder Krimi,
Horror, noch Historie, sondern ein Kunstwerk für sich ist. Besonders
faszinierend die Doppelfigur Clarissas, einmal als unerreichbar Schöne,
dann als mechanischer Golem. Sie zieht nicht nur Dalessius und den Leser
in ihren Bann, sondern treibt den Bildhauer Mattioli in den Freitod. Mit
einem nach ihrem Abbild gemeißelten Statuenkopf um den Hals gebunden,
macht der moderne Pygmalion seinem Leben in der Seine ein Ende. Ein
bizarr-romantischer Todesfall á la de Santis.
Pablo de Santis legte mit "Voltaires Kalligraph" ein weiteres
Meisterwerk an skurrilem Humor, Wortwitz wie pointierter Satire hin. Als
roter Faden durch alle drei bisherigen Romane bleibt de Santis'
Besessenheit für Bücher, die in düsteren Bibliotheken, blutgetränkten
Seiten und mordenden Archivaren Niederschlag findet. Wer Pablo de Santis
einmal gelesen hat, wird seinen Stil unter tausend Werken sofort
wiedererkennen.
(lostlobo)
Pablo De Santis:
"Voltaires Kalligraph"
(Originaltitel "El calígrafo de Voltaire")
Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke.
Unionsverlag.
Buch bei amazon.de bestellen
Pablo De Santis wurde 1963
in Buenos
Aires geboren. Er arbeitete lange als Drehbuchautor fürs
Fernsehen, schrieb - in guter argentinischer Tradition - Comic-Szenarios
und wurde mit Jugendbüchern bekannt. Mit den beiden Romanen "Die
Fakultät" und "Die Übersetzung" schaffte er den internationalen
Durchbruch.
Weitere Büche von Pablo De Santis:
"Die sechste Laterne"
Als der junge Italiener Silvio Balestri 1914
nach New
York auswandert, wird er von einem einzigen Gedanken beherrscht:
Er
will einen zweiten
Turm
zu Babel bauen. Jahrelang arbeitet er Nacht für Nacht
an den Plänen. Als seine Frau einfach verschwindet, bemerkt er dies
kaum.
Während Balestri das innerste Geheimnis der Baukunst ergründet, heuert
ihn ein
Architekturbüro für die Lösung eines scheinbar ganz profanen
Geheimnisses an:
Die New Yorker Architekturbüros stehen in einem gnadenlosen Wettkampf um
den höchsten
und modernsten Wolkenkratzer der Welt. Jede neue Idee wird sogleich der
Konkurrenz in die Hände gespielt. Balestri soll das Leck finden. Die
Aufgabe führt
ihn in ein unentwirrbares Geflecht aus Intrigen und schließlich zu dem
Geheimbund "Die sechste Laterne". (Unionsverlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Das
Rätsel von Paris"
Am Vorabend der Weltausstellung von 1889 geben sich die Zwölf
Detektive in
Paris ein Stelldichein: Die berühmtesten Vertreter der
Detektivzunft möchten
der Welt die neusten Ermittlungsmethoden und ihre spektakulärsten
Kriminalfälle
präsentieren. Aus der unbeschwerten Zusammenkunft wird Ernst, als
einer der
"Zwölf" unter mysteriösen Umständen vom gerade errichteten
Eiffelturm zu Tode stürzt. Nachdem wenig später auf dem
Ausstellungsgelände
in einem Krematoriumsofen eine verkohlte Leiche entdeckt wird,
zweifelt niemand
mehr an einem Serienverbrechen. Nun gilt es für die Meisterdetektive,
ihr Können
unter Beweis zu stellen und das Rätsel von Paris zu lösen. Mit viel
Fantasie,
Witz und Spannung verhilft Pablo De Santis den großen
Detektivgestalten der
Weltliteratur zu einem neuen Auftritt und setzt der Detektivgeschichte
ein
literarisches Denkmal. (Unionsverlag)
zu
einer Leseprobe ...
Buch
bei amazon.de bestellen
"Die Fakultät"
Homero Brocca ist ein genialer Schriftsteller. Niemand hat ihn je
gesehen, nirgends gibt es Bücher von ihm. Seine Texte existieren nur
in unendlichen Varianten. Als der junge Esteban Miró seine erste
wissenschaftliche Stelle im labyrinthischen alten Fakultätsgebäude
antritt, in dem nur noch obskure Institute ihr Dasein fristen, ahnt
er noch nicht, dass er in einen gnadenlosen Kampf um den seltsamen
Autor hineingezogen wird. Die wissenschaftlichen Gralshüter von
Broccas möglicherweise gar nicht existenten Werken schrecken vor
nichts zurück. Das Verhältnis zwischen Literatur und Leben, Fiktion
und Realität wird immer unentwirrbarer.
Buch bei amazon.de
bestellen
"Die
Übersetzung"
Puerto Esfinge - der Hafen der
Sphinx
- ist ein verwunschener Ort an der argentinischen Atlantikküste.
Genau der richtige Platz für einen Kongress über Geheimsprachen,
über
Kryptologie,
über
ausgestorbene
Sprachen. Eigentlich fährt Miguel De Blast nur hin, um seine
Jugendliebe Ana wieder zu treffen, die er an seinen Rivalen Naum
verloren hat. Naum ist jetzt ein Star im Literaturbetrieb und alle
fiebern seinem Auftritt entgegen. Aber bevor der Meister
eintrifft, beginnen die Rätsel: Erst werden Seehunde tot
aufgefunden, dann mehrere Kongressteilnehmer. Die örtliche Polizei
ist ratlos. Miguel De Blast gerät auf die Spur eines uralten
Fluchs und einer magischen, vergessenen Sprache.
Buch bei amazon.de
bestellen