Irina Denežkina: "Komm"

"Nach meinen Erlebnissen war das Meer übergeschäumt, doch jemand erdachte das Festland, und es wurde besser, ganz von selbst."

(Zemfira)


"Was nimmst du? Kaffee?"
Ljapa stand mitten im Zimmer, mit freiem Oberkörper, verwirrt und verschwitzt. Sein Slip guckte aus der Hose hervor. Ich wollte sagen: "Dich", doch ich befürchtete, dass seine Verwirrtheit davon noch anwachsen würde. Erstarrt zur Salzsäule. Und was hätte ich dann gemacht?
"Kaffee? Oder Tee?"
"Kaffee, Kaffee ..."
So beginnt die erste, die titelgebende Geschichte des Buches.
Zehn Kurzgeschichten, die das Leben, Fühlen und Denken Jugendlicher sehr intensiv widerspiegeln: "Komm", "Meine wunderbare Ann", "Wasja", "Walerotschka", "Ljocha-Rottweiler", "Song for Lovers", "Frau Tod im Chatroom", "Ein 'dystanziertes' Gefühl", "Postskriptum", "Du und ich".

Einerseits noch Kinder, doch bereits in den Körpern Erwachsener und bereit, voll ins Leben einzutauchen: Ungeschminkt berichtet Irina Denežkina von Sehnsüchten, sexuellen Erfahrungen, Alkoholexzessen, Partys und dem alltäglichen Leben dieser Kids. Neben dem Highlife, das in vollen Zügen ausgekostet wird, spürt der Leser aber auch immer die Einsamkeit der Protagonisten, das Unverständnis seitens der Erwachsenen, das ihnen brutal entgegenschlägt. Überall lauern Gefahren, und auch die Jugendlichen untereinander haben einen ziemlich rüden Umgangston und kommunizieren teilweise durch brutale Gewalt.

Gruselig ist die Geschichte von Wasja, der den Kampf mit den grünen Würgern aufnimmt, von allen verspottet wird, Prügel bezieht von Kameraden und Eltern und eigentlich als wahrer Held gefeiert werden müsste.
Im Kontrast dazu "Walerotschka" - eine Geschichte über die Zeit der Ferienlager: herrliche unbeschwerte Tage, die immer wieder geprägt werden von Kämpfen, vom Gefühlswirrwarr, von der Annäherungen zwischen Jungen und Mädchen und vor allem von einer ungemeinen Lust auf das Leben.
Die Kurzgeschichte "Komm" erzählt auf faszinierende Weise eine für die Jugend typische Liebesgeschichte voller Schüchternheit und Zurückhaltung, voller Verwirrung, Ablehnung, Unklarheit, Unsicherheit - einfach herrlich nachzulesen und sich zu freuen, dass diese komplizierte, verrückte und beinahe lebensgefährliche Zeit der Jugend vorbei ist. Vielleicht schwingt ein wenig Wehmut mit, ob der unglaublichen Spontaneität, die mit dem Altern sukzessive abnimmt, und dem intensiven Gefühlserleben, das von "himmelhoch jauchzend" bis "zu Tode betrübt" reicht.

Jedenfalls erleichtert diese Lektüre das Zusammenleben mit Jugendlichen an der Grenze zum Erwachsenwerden sehr, da persönliche Erinnerungen wach werden und die Kompliziertheit dieser Zeit einiges an unangenehmem Verhalten rechtfertigt.
Ein herrliches Buch, um wieder mit der eigenen Jugend in Kontakt zu kommen, einiges von der verlorenen Spontaneität und dem unwiderstehlichen Tatendrang wiederzugewinnen und mehr Verständnis gegenüber den Kindern in unserer Umgebung aufzubauen.

Irina Denežkina, geboren 1981 in Jekaterinenburg, einer großen Industriestadt im Ural, ist die Durchstarterin der St. Petersburger Literaturszene.

(margarete; 09/2003)


Irina Denežkina: "Komm" Denezkina
(Originaltitel "Daj Mne!")
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Franziska Seppeler.

S. Fischer, 2003. 255 Seiten.
ISBN 3-10-043100-6.
ca. EUR 17,90.
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