Karl Dedecius: "Ein Europäer aus Lodz"
Erinnerungen
Übersetzer sind das Kleingedruckte fremdsprachiger Literatur. Durch ihre erfolgreiche Arbeit entscheiden sie, welche literarischen Werke eines Sprachraums in einem anderen bekannt werden, sie selbst aber werden kaum genannt und bleiben weitgehend unbekannt. |
dann tragen meine gedanken |
Karl Dedecius ist mehr
als ein literarischer Übersetzer; für deutschsprachige
Verlage und Leser ist er auch Entdecker der polnischen Lyrik des
zwanzigsten Jahrhunderts. Ohne ihn wäre der deutsche Buchmarkt
heute um viele hervorragende Übersetzungen ärmer, auch um die
Werke von Nobelpreisträgern wie
Wislawa Szymborska und
Czeslaw Milosz, von
Karol Wojtyla,
dem späteren Papst, und von Hunderten anderen Lyrikern,
insbesondere jenen, deren kurzes Leben im Zweiten Weltkrieg beendet
wurde.
In seiner Autobiografie, die kurz vor seinem fünfundachtzigsten
Geburtstag erschien, erzählt Karl Dedecius angenehm kurzweilig aus
einem langen Leben als Deutscher aus Polen und aus der Literatur,
seiner polnischen Parallelwelt.
Für das Kind deutscher Eltern im polnischen Lodz ist das
örtliche deutsche Gymnasium zu teuer; der literarischen Welt
nähert er sich als begeisterter Leser über die polnische
Sprache. Nach dem polnischsprachigen Schulabschluss wollte er in
Warschau Theaterwissenschaft studieren, doch für den Maturanten
des Jahres 1939 führte der Lebensweg von der Schule fast direkt
nach Stalingrad. Schon im sowjetischen Kriegsgefangenenlanger fand ihn
die Literatur allerdings wieder, faszinierte ihn, wozu Sprache
fähig ist, beginnt er, an Gedichten des romantischen Lyrikers
Michail Lermontow Russisch zu lernen und
Alexander Puschkin zu übersetzen.
Erst seit 1949, nach der Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft, lebt
Dedecius als Deutscher in Deutschland, erlebt eine "Rückkehr in
ein fremdes Land", später flüchtet er aus seiner neuen Heimat
Weimar in einen noch neuere, in die BRD und wird dort
Versicherungsangestellter. Doch die Abende, Nächte, Wochenenden
und Urlaube gehören der Literatur: Ab 1959 reist er
regelmäßig nach Polen, lässt aber auch Kontakte zu
Exilpolen nicht abreißen. Erst zu einem Zeitpunkt, an dem andere
58-Jährige bereits in Pension gehen, wird die Literatur zum Beruf;
er leitet von 1979 bis 1997 das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt.
Kapitel über Polens Poeten, eingebettet in die Lebensgeschichte
mit zahlreichen Erinnerungsbrücken zu früheren und
späteren Begebenheiten und Begegnungen, sind das Herzstück
der Autobiografie. Dedecius versteht es, auf wenigen Seiten, manchmal
in nur einem Absatz, das Leben eines Dichters zu porträtieren und
dessen individuellen Zugang zur Literatur zu schildern. Den
aphoristischen Stanislaw Jerzy Lec, den avantgardistischen
Ästhetiker Julian Przybos, die spontane Krakauerin Wislawa
Szymborska den nostalgischen Emigranten Czeslaw Milosz und viele Andere
stellt er in persönlichen Szenen, treffenden Zeilen aus Werken und
Briefen vermischt mit Erinnerungen und Notizen vor.
So einfühlsam Karl Dedecius die polnischen Autoren und ihre Werke
beschreibt, so sparsam ist er manchmal mit der Darstellung des eigenen
Schaffens. Ein Anhang mit einem Gesamtverzeichnis der
Übersetzungen hätte die Autobiografie gut ergänzt und
den Leser vor Neid und Staunen erblassen lassen: Die Deutsche
Bibliothek (http://www.ddb.de/) zählt 262 von Dedecius übersetzte oder herausgegebene Bücher!
"Ein Europäer aus Lodz" ist spannend und informativ zu lesen;
einige Abschnitte sind eines Nachschlagewerks über polnische Lyrik
des zwanzigsten Jahrhunderts würdig. Das Buch vermittelt den nicht
geraden, aber unbeirrten Lebensweg einer Person, die nicht nur glaubt,
die zutiefst überzeugt ist, dass Literatur dem Frieden zwischen
den Völkern dient.
(Wolfgang Moser; 05/2006)
Karl Dedecius: "Ein Europäer aus
Lodz"
Suhrkamp, 2006. 320 Seiten.
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Karl Dedecius, geboren 1921, ist Träger
zahlreicher deutscher und polnischer Auszeichnungen, 1990 wurde ihm der "Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels" verliehen.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Mein Russland in Gedichten"
Dieses außergewöhnliche Buch kann auf eine bewegte Entstehungsgeschichte von
sechzig Jahren zurückblicken - und eine zerfledderte Broschüre mit Gedichten
Lermontows markiert den Anfang: Für Karl Dedecius, der die Jahre von 1943 bis
1950 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, wurde das Übersetzen
russischer Gedichte zur Überlebensstrategie. Weil alle persönlichen
Aufzeichnungen der Gefangenen konfisziert wurden, schuf er sich ein Tagebuch aus
fremden Gedichten, und das Fremde wurde ihm zum Medium der eigenen Biografie. So
entstand ein persönliches Buch und doch auch ein allgemeingültiges. Denn
versammelt sind hier "junge" Dichter, im wörtlichen wie übertragenen
Sinne - subversive Stimmen, die von Sehnsucht und Revolte, von politischem
Umsturz und Neuerung sprechen, Stimmen voller Hoffnung, aber auch voller Wut,
Lebensekel und Desillusionierung. Ihren oft stürmischen Biografien widmet sich
der Band in kenntnisreichen Nachbemerkungen. Übersetzt von Karl Dedecius. (dtv)
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