Andrea De Carlo: "Wenn der Wind dreht"
Kein
Netzempfang - kein Leben?!
Alessio kontrolliert wieder einmal sein Handy und
schüttelt den Kopf. Arturo betrachtet
die Einrichtung und scheint fasziniert. Luisas Brillengläser
sind beschlagen;
sie nimmt die Brille ab und versucht sie mit einem Zipfel ihres
feuchten
Pullovers trockenzureiben. Margherita sagt: "Ihr müsst schon
sehr
entschuldigen, aber es ist so, dass wir ..." Sie bricht ab und bringt
kein
Wort mehr heraus.
Enrico
richtet das Wort an die Leute am Tisch, wobei man ihm kaum anmerkt, was
er
gerade durchgemacht hat: "Wenn es euch nicht zu große
Umstände macht, würden
wir gerne von eurem Telefon aus einen Abschleppwagen oder ein Taxi im
Ort
rufen."
Die Typen um den Tisch sehen ihn an, ohne zu antworten, und ihre wache
Blicke drücken
Staunen oder Misstrauen oder sprachliches Unverständnis aus,
genau lässt sich
das nicht sagen. [...]
Der Inder bewegt die Lippen und sagt: "Wir haben kein Telefon."
(Seite 93)
Der Verkauf eines abgelegenen Anwesens ist ein Geschäft, das
der trendige
Immobilenmakler Alessio Cingaro bald und profitabel
abzuschließen begehrt. In
einem luxuriös ausgestatteten Minivan,
selbstverständlich mit
Satellitennavigationssystem, führt er seine Kunden an einem
Freitagnachmittag
von Mailand quer durch Oberitalien in die Wälder Umbriens.
Seine potenziellen Käufer
sind vier beruflich erfolgreiche und langjährige Freunde auf
der Suche nach
einem ruhigen Ort, an dem sie inmitten der grünen Natur ihren
Stress abbauen können.
Doch schon die Fahrt verläuft unruhig: es vergeht keine
Sekunde, in der nicht
irgendein Mobiltelefon läutet, nicht zumindest einer eine SMS
eintippt oder die
Mobilbox abhört. Bei Einbruch der Dunkelheit wird die
Straße immer enger; plötzlich
sitzt der Wagen in einem Graben fest, und die Handys haben keinen
Netzempfang
mehr. Es regnet.
Diese Nacht und das gesamte Wochenende verbringen die fünf
Mailänder in "Giro di
Vento", einer
kleinen Insel der Seligen umgeben von dichten
Wäldern. Dort, in
diesem Weiler, scheint die Zeit stillzustehen, das Leben in einer
alternativen
Wohngemeinschaft verläuft wie vor hunderten Jahren ohne Strom,
Auto und
Telefon. Ab diesem Zeitpunkt wird De Carlos Roman zu einer
amüsanten
Entdeckungsreise durch die großstädtische Psyche.
Prinzipien und Werte, die
vor der Abfahrt aus Mailand unangezweifelt galten, sind
plötzlich leere Worte.
Ohne ständige Unterbrechungen durch Telefonanrufe
könnte der urbane
Freundeskreis, der sich schon so gut zu kennen glaubte, gesellige
Gespräche
endlich einmal zu Ende führen. Doch ihre kommunikativen
Fähigkeiten
funktionieren nicht mehr; für ihre Welt sind der
Möbelfabrikant Arturo, die
Verlegerin Luisa, der Architekt Enrico und die Fernsehmoderatorin
Margherita
nicht mehr erreichbar. Aber auch die Lebenswelten der
Aussteigergemeinschaft
sind nach diesem Wochenende unwiderruflich verändert.
Von all dem, was passiert, sei nicht zuviel verraten - Andrea De Carlo,
früher
Regieassistent von
Federico
Fellini, lässt sich eine ganze
Menge komischer und
auch nachdenklich stimmender Szenen einfallen, die er in ironischen
Worten, oft
in distanzierender Sprache beschreibt.
Der Roman lebt nicht nur von den Gegensätzen Stadt/Land,
Profit/Aussteigertum, vom
Aufeinanderprallen konträrer Lebensentwürfe, sondern
vor allem davon, wie sich
die Protagonisten an diesem Wochenende aus Karikaturen ihrer
beruflicher
Karrieren menschlich weiterentwickeln, wenn auch nicht unbedingt zu
sympathischen Menschen.
(Wolfgang Moser; 02/2007)
Andrea
De Carlo: "Wenn der Wind dreht"
(Originaltitel "Giro di Vento")
Aus dem Italienischen von Monika Lustig.
Diogenes, 2007. 426 Seiten.
Buch
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Andrea
De Carlo, am 11. Dezember 1952 in Mailand geboren, gehört
heute zu den beliebtesten und
erfolgreichsten Schriftstellern Italiens. Bevor er 1981 seinen ersten
Roman
"Creamtrain" schrieb, arbeitete er auch als Fotograf, Maler und
Musiker.
Lien zu Andrea De Carlos Netzseite:
https://www.andreadecarlo.com.