Jeffery Deaver: "Nachts, wenn du nicht schlafen kannst"

Michael Hrubek ist nach vielen Jahren als Insasse etlicher psychiatrischer Abteilungen in den Vereinigten Staaten von Amerika recht gewandt im Umgang mit den behandelnden Ärzten und auch geübt darin, sich aus diesen Häusern zu absentieren - sogar, wenn er unter dem Einfluss schwerer Psychopharmaka steht. 


Seit Hrubeks 16. Lebensjahr weiß seine Krankengeschichte von gelegentlichen Gewaltausbrüchen des paranoid-schizophrenen jungen Mannes, dessen Delusionen (Wahnvorstellungen) sich vorwiegend um die Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges und die Ermordung Abraham Lincolns drehen, zu berichten.

Zu Beginn dieses Romans befindet sich der Protagonist an einem sturmgepeitschten Herbstabend in einem Leichensack, weil er seine augenblickliche Unterkunft, eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, in "Monte-Christo"-Manier zu verlassen beabsichtigt, wobei er sich erstaunlich geschickt anstellt und die Fahrer des Leichenwagens mit seiner "Auferstehung" in Angst und Schrecken versetzt.
Seine Einweisung in die Anstalt hatte Hrubek der Aussage der Kronzeugin Lis Atcheson, die ihn vor Gericht als Schuldigen in zwei Mordfällen identifiziert hatte, zu verdanken.
Nun ist Michael in dieser stürmischen Nacht unterwegs, um Lis in ihrem kürzlich geerbten Haus aufzusuchen, wo sie sich mit ihrer Schwester Portia und ihrem Mann Owen aufhält. Die Abwicklung der Erbschaft nach dem Tod der Mutter der beiden Frauen wird gerade diskutiert, als sie die Nachricht von Michaels Ausbruch erreicht. Während Lis und Portia noch das Haus gegen den herannahenden Sturm sichern, macht sich Owen auf den Weg, um die in Gestalt des Entflohenen zusätzlich drohende Gefahr tunlichst vor dem Haus abzufangen.

Michael Hrubek erweist sich als überraschend erfindungsreich und es gelingt ihm nicht nur, einigen Pflegern zu entkommen, die ihn kurzfristig gestellt hatten, sondern auch die Polizei des gesamten Bundesstaates, nämlich jene Bediensteten, die gerade nicht mit Vorkehrungen zur Befestigung gegen den aufziehenden Sturm beschäftigt sind, in die Irre zu führen und auch immer kompliziertere falsche Fährten zu legen, die sogar trainierte Suchhunde verwirren. Hrubeks Weg, auf dem ihm Richard Kohler, ein über die Maßen ehrgeiziger Psychiater mit abgründigen Interessen, folgt, säumen etliche Leichen. Getrieben von Wahnvorstellungen und Rachedurst scheint der beinahe 200 Kilogramm schwere Mann eine blutige Spur des Todes durch den Staat zu ziehen.

Vielerlei Lügen und Täuschungen spinnt der Handlungsfaden, und der Leser wird zunehmend von zunächst unzweifelhaft erscheinenden Annahmen hinsichtlich der weiteren Ereignisse aufs Glatteis geführt, so dass mancher früher oder später die Welt der Erzählung ähnlich verwirrt wahrnimmt wie der Protagonist.

Die Art der Darstellung des Krankheitsbildes ist heutzutage, (der Roman entstand anno 1994 - Anm.), gewiss zu hinterfragen, aber die Schilderung aus der Sicht des Kranken über weite Teile der Geschichte kann nach meinem Dafürhalten als einigermaßen gelungen bezeichnet werden, wodurch "Nachts, wenn du nicht schlafen kannst" mitunter interessanter wirkt als einige der wesentlich bekannteren Lincoln-Rhyme-Romane.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2004)


Jeffery Deaver: "Nachts, wenn du nicht schlafen kannst"
(Originaltitel "Praying for Sleep")
Droemer Knaur.
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