Nicolás Gómez Dávila, Martin Mosebach: "Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten"
Ausgewählte Sprengsätze
"Ausgewählte
Sprengsätze", das ist der Untertitel, den der
Herausgeber Martin Mosebach diesem neuen Band aus Eichborns "Anderer
Bibliothek" gegeben hat. Und Sprengstoff enthalten viele dieser
Sätze in der Tat. Sowohl Sprengstoff, um ein Feuerwerk der
Begeisterung beim Leser zu zünden, als auch Sprengstoff, um
Explosionen des Protests oder des Widerspruchs auszulösen, je
nachdem, welchem Weltbild oder welchen Idealen dieser Leser
anhängt. "Der Zusammenprall mit einem klugen Buch
lässt uns tausend Sternchen sehen." Eine Behauptung
Nicolás Gómez Dávilas, die er in einem
seiner Sprengsätze formuliert hat. Was hat er damit gemeint?
Dass der Zusammenprall uns aus der Bahn wirft, aus unseren
eingefahrenen Gleisen herausschmeißt, dass wir also von einem
Sternengefunkel der Verwirrung heimgesucht werden? Oder dass die Sterne
gleich geistigen Sterntalern auf uns herabfallen, um unseren Verstand
zu erleuchten, unseren Geist zu befruchten?
Nun, für die hier vorliegende Aphorismensammlung, die nur
einen Auszug aus dem umfangreichen Gesamtwerk darstellt,
möchte ich beides gelten lassen. Es ist ein Buch für
1001 Stunde, für 1001 Nacht und für 1001 Tag. Man
möchte es immer wieder aufschlagen und sich darin vertiefen.
Die Ideenfülle scheint schier unerschöpflich, der
Köcher an giftigen Pfeilen, über den
Dávila verfügt ... das reinste Füllhorn.
Und seine Pfeile treffen meistens ins Schwarze oder dahin, wo es weh
tut. Stimmt man ihm einerseits uneingeschränkt zu, so
fühlt man sich im nächsten Zitat sogleich zum
Widerspruch herausgefordert. Und so schreibt denn auch der Herausgeber
in seinem Einführungstext: "Viele, die heute
Gómez Dávila begeistert zitieren, haben nicht
alle Glossen gelesen, sie wären sonst mit Gewissheit auf das
eine für sie bestimmte Wort gestoßen, das jede
Gemeinsamkeit mit dem Autor gnadenlos aufkündigt."
Diese Aussage kann man bedenkenlos unterstreichen, es wird sich wohl
kaum ein Leser, kaum eine Leserin finden, der oder die sich nicht
selbst irgendwann, irgendwo, in Dávilas unbarmherzigem
Spiegel, den er uns vorhält, wiederfindet. Nichts und niemand
scheint ihm heilig, unverschämt provozierend sind seine
Thesen. Wie ihm der Schnabel gewachsen ist, pickt er die Themen auf, um
sie respektlos auf seine Pointen zu spießen. Bisweilen sind
Dávilas Aphorismen auch von fragwürdiger,
polemischer Natur: "Nachdem die Ideen in einen
nordamerikanischen Geist eingezogen sind, bleibt ein
Coca-Cola-Geschmack an ihnen haften." Ein einsames,
verlorenes Osterei unter all diesen Sprenggranaten habe ich ausmachen
können: "Unser eigenes Kreuz drückt uns
weniger als jenes, das zu tragen wir dem, den wir lieben, nicht helfen
können."
Viele der Glossen, als Scholien werden sie im Buch bezeichnet, laden
die Leser ein, fordern sie geradezu auf, länger bei ihnen zu
verweilen, um ihren ganzen Gehalt schöpfen zu können.
Bei einigen der Scholien springt dieser zwar sofort ins Auge, doch
vieles Hintergründige will erst durch eigenes Nachdenken
erschlossen werden. Ich könnte mich stundenlang mit dem Buch
befassen, um es gleich am nächsten Tag wiederum in die Hand zu
nehmen, ein Lese- und Denkbrevier allerbester Qualität. Das
Polarisierende, das Martin Mosebach herausstellt, vermag ich allerdings
nicht unbedingt zu erkennen. Auch nicht, dass der Leser ein bestimmtes
Temperament besitzen muss, dass er eigens für die
Dávila-Lektüre geschaffen sein muss. Ich kann mir
ganz im Gegenteil überhaupt nicht vorstellen, dass es Leser
geben sollte, die sich nicht von der funkensprühenden
Geistigkeit dieses Autors in Bann schlagen lassen. Was mich betrifft,
so muss ich gestehen, dass Gómez Dávila sogar
meinen bisherigen Lieblings-Aphoristiker Lichtenberg
vom Thron gestoßen und seinen Platz eingenommen hat. Ein
bemerkenswertes Zitat kann ich nicht umhin, noch zu erwähnen: "Alles,
was
eine mäßige Dosis Absurdität
enthält, versöhnt uns mit dem Leben." Wie
wahr!
In seiner gelungenen Einführung gibt uns Martin Mosebach einen
Einblick in das Leben und den literarischen Werdegang des
Gómez Dávila, beleuchtet die
ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte seines schriftstellerischen
Werkes und zeigt Hintergründe auf. Am Schluss des Bandes
werden dem Leser noch einmal die wichtigsten biografischen Daten zum
Leben dieses unbequemen Zeitgenossen präsentiert. Ich meine,
Dávilas "Guillotine der Wahrheiten"
stellt ein absolutes Glanzlicht in der von Hans Magnus Enzensberger
begründeten "Anderen
Bibliothek" des Eichborn Verlags dar. Der Leser
schlage nur eine beliebige Seite des Buches auf, um dann
amüsiert oder mitunter auch zornig festzustellen, wie
mindestens eine seiner bisher sorgsam gehegten Überzeugungen
vom Autor genüsslich geschlachtet wird. Also: Unbedingt dieses
Buch anschaffen und lesen!
(Werner Fletcher; 11/2006)
Nicolás
Gómez Dávila, Martin Mosebach: "Das
Leben ist die Guillotine der Wahrheiten"
Aus dem Spanischen
von Thomas Knefeli,
Günter Maschke, Michaela Meßner und Günther
Rudolf Sigl.
Eichborn - Andere Bibliothek (Band Nr. 263), 2006. 320 Seiten.
Buch bei
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Nicolás
Gómez Dávila (18.5.1913-17.5.1994) ist neben Gabriel
García
Márquez der bedeutendste Autor
Kolumbiens im 20. Jahrhundert.
Martin Mosebach wurde am 31. Juli 1951 in Frankfurt geboren. 1979
schloss er sein Jurastudium mit dem II. Staatsexamen ab. Seit 1980 lebt
und arbeitet er in Frankfurt a.M. Martin Mosebach wurde 1980 mit dem
"Förderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung"
ausgezeichnet. 1999 folgte die Auszeichnung mit dem "Heimito von
Doderer"-Preis.
2003 erhielt er den "Spycher-Literaturpreis" in Leuk / Schweiz und 2004
den "Blauen Salon Preis" vom Literaturhaus Frankfurt für seine
Erzählungen, Romane, Drehbücher und
Hörspiele.
Ein Buchtipp:
Nicolás Gómez Dávila: "Notas.
Unzeitgemäße Gedanken"
Mit einem Vorwort von Martin Mosebach. Mit einem Nachwort von Franco
Volpi.
Zum ersten Mal erscheint hier in deutscher Sprache das frühe
Hauptwerk von Nicolás Gómez Dávila:
"Notas".
Der Bruder des Autors ließ 1954 in Bogotá dieses
Werk als Privatdruck in einer Auflage von einhundert Exemplaren
drucken, und erst im Jahre 2004 erschien die erste offizielle spanische
Buchausgabe in Kolumbien. Nachdem die späteren Bücher
von Gómez Dávila im deutschen Sprachraum bereits
Aufsehen erregten, wird dieses Hauptwerk überraschen: es
konzentriert sich in vulkanischen Splittern auf die Sinnlichkeit des
Menschen. Eine stärkende Lektüre. (Matthes &
Seitz)
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Weitere Bücher von Martin
Mosebach
(Auswahl):
"Das Beben"
Es beginnt mit einer Liebesgeschichte im modernen Europa und endet mit
einer Flucht in eine andere Welt: Als der Erzähler merkt, dass
seine verführerische Geliebte Manon noch immer ein
Verhältnis mit einem berühmten
Maler hat, nimmt er
einen Auftrag an, der ihn nach Indien
führt, um den Palast eines Königs in ein modernes
Hotel umzubauen. Die Begegnung mit dieser traumhaften Welt hilft dem
Unglücklichen auf neue Gedanken zu kommen - bis ihm Manon in
den fernen Palast folgt und ihre Geschichte neu zu beginnen scheint ...
(Hanser)
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"Der
Nebelfürst"
Der ahnungslos entschlossene Held dieser Geschichte, ein gewisser
Lerner, taumelt um die Jahrhundertwende (19./20.) in ein aberwitziges
Unterfangen. Angestiftet und manipuliert von einer üppigen
Hochstaplerin, der verwegenen Frau Neuhaus, reist er auf einem
schrottreifen Dampfer
in die
Arktis, um eine herrenlose Insel zu annektieren.
Das liest sich, als wäre dieser Lerner ein entfernter Cousin
von Felix Krull, und nicht weniger virtuos und komisch als der alte
Meister entwickelt Martin Mosebach den Hintergrund seines Romans, ein
wilhelminisches Gesellschaftspanorama. In den Hauptrollen sehen wir den
anrüchigen Kaufmann, den schnurrbärtigen
Herzog-Regenten, die kleine Afrikanerin und den schäbigen
Chefredakteur. Gut erfunden, also gelogen, könnte man meinen.
Aber nein! Unter dem Stichwort "Bäreninsel" schrieb einst
Mayers Konversationslexikon: "Im Auftrag eines Hamburger Syndikats nahm
1898 der Deutsche Theodor Lerner 85 qkm in Besitz, und 1899 hatte hier
der Deutsche Seefischereiverein eine Station."
Eine wahre Geschichte also. Was wie ein höchst
unwahrscheinliches Capriccio anmutet, ist ein absurdes Kapitel aus der
deutschen
Kolonialgeschichte. Der Traum von der Ausbeutung einer
gottverlassenen Insel im Süden Spitzbergens führte zu
diplomatischen Demarchen, und während Lerner auf den
Eisschollen umherstolperte, wurden zwischen Berlin und
Sankt
Petersburg Depeschen gewechselt.
In einem halben Hundert kurzer Kapitel fächert Mosebach die
Machenschaften seines Heldenpaares prismatisch auf und führt
sie bravourös zu ihrem lachhaften Ende.
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"Der Mond und das Mädchen"
zur
Rezension ...
"Mogador" zur Rezension ...
"Krass" zur Rezension ...
"Schöne Literatur. Essays"
Sprachlich virtuos und mit einer umfassenden, beeindruckenden
Kennerschaft verfolgt Martin Mosebach Literatur und Kunst, aber auch
Politik und Religion - in Aufsätzen, die immer
unzeitgemäß sind, überraschend und gegen
den Strom. Eine große Verteidigung des Romans, der Kunst und
des Denkens gegen alle Moden des Zeitgeistes. (Hanser)
Leseprobe:
Schriftstellers Deutsch
Antwort auf eine Umfrage
Leicht ist es nicht, als deutscher Schriftsteller über die
deutsche Sprache Auskunft zu geben. Die Sprache, mit der man
aufwächst, ist das schlechthin Selbstverständliche
und beinahe schon Unwahrnehmbare. Keinen Gedanken hat man seit den
frühesten Tagen, an die man sich erinnern kann, fassen, kein
Gefühl hat man kennen können, ohne sie in das Gewand
der Muttersprache zu kleiden, und die Laute dieser Sprache haben in
ihrer Eigentümlichkeit den Gegenständen und
Empfindungen ihre spezifische Farbe gegeben, die sie in einem ganzen
Leben, auch wenn es polyglott verlaufen sollte, nie wieder verlieren
werden. Die Sprache macht es möglich, sich im Chaos der
Realität zurechtzufinden; mit dem Mittel der Abstraktion
ordnet sie die Vielfalt der Phänomene und zwingt sie in das
System der Grammatik. Mit dem je besonderen Charakter ihrer Ordnung
benennt sie die Realität jedoch nicht nur einfach, sondern
färbt sie zugleich. Die Gegenstände verwandeln sich
durch ihre Benennung. Jede Sprache hebt einen anderen realen Aspekt der
Dinge hervor. Einem Deutschen wird immer bewußt sein,
daß die Sonne
eine Frau ist und sich auf Wonne reimt. Ein Klang wie dunkles
Glockenläuten tönt aus der Sonne. Ein ruhiges,
üppiges, geradezu fließendes Strahlen ist der Sonne
eigen. Ihre Farbe ist altgolden, prunkvoll wie eine
Krönungskutsche rollt sie über das Firmament. Die
Sonne ist eine Mutter, ihre Wärme gleicht einem Federbett, das
sie über die frierenden Menschenkinder deckt. Die Sonne kann
niemals das Gefährliche und Sengende haben, das der
kriegerische und männliche Sol ausstrahlt, der Sonnengott, der
im Mythos oft genug Pfeile auf die Menschen abschießt. Indem
die Sprache den Himmelslichtern Geschlechter zuweist, erschafft sie ein
bestimmtes Bild von Mann und Frau, von dem sich niemand, der diese
Sprache spricht, ausnehmen kann.
So ist der Schriftsteller, der die Sprache als Material benutzen will,
aus dem er seine Werke knetet und meißelt und malt, schon
bevor er mit der Arbeit beginnt, von der Sprache seinerseits
zurechtgeknetet und geschaffen worden. Er ist Geschöpf dessen,
woraus er die eigenen Geschöpfe bilden will, also in
vollständig anderer Lage als alle anderen Künstler:
er ist nicht der Herr seines Materials, sondern er kommentiert, er
interpretiert die vorgegebene Sprache, er versucht ihre Grenzen zu
weiten, sich durch ihre Hindernisse hindurchzuwinden, sie in ein
überraschendes Licht zu setzen, sie zu verdunkeln, sie zu
verknappen, ihre Wirkung zu steigern, ihren Klang zu inszenieren - und
er wird ihr bei allem Erfindungsreichtum seiner Anstrengungen dennoch
niemals als Sieger gegenüberstehen. Zwischen dem
größten Sprachkunstwerk und einem Artikel in der
vulgärsten Boulevardzeitung ist oft, was die Struktur der
Sprache betrifft, kaum ein wahrnehmbarer Unterschied. Kein Dichter
konnte das Wort "Sonne" erfinden. In jedem Gedicht, dem
lächerlichsten Reim oder dem entrücktesten
Zauberspruch, in dessen Zeilen das Wort "Sonne" steht, wird diese Sonne
aus eigenem Recht und aus eigener Kraft hervorleuchten und dem Gedicht
Licht und Wärme spenden, als sei dies Wort die Sonne selbst,
die ohne Unterschied über den Guten und über den
Bösen scheint.
Ist die deutsche Sprache eine schöne Sprache? Schöne
Sprachen haben, nach deutsch-musikalischen
Maßstäben, viele Vokale, vor allem As und Os, stark
rollende Silben, volltönende Klänge. In der deutschen
Hochsprache sind viele einst starke, betonte Silben zu schwachen,
beinahe tonlosen verflacht. Endsilben werden geradezu verschluckt, die
Sätze scheinen zu versickern. Wer nicht künstlich
hochartikuliert spricht, neigt im Deutschen oft dazu, Klangloses zu
nuscheln. "Wie klingt Deutsch in Ihren Ohren?" fragte ich einmal eine
intelligente alte Bäuerin am Golf von Neapel. "Brutto -
häßlich!" antwortete sie und wollte sich
ausschütten vor Lachen. Und tatsächlich kamen mir die
ersten deutschen Worte, die ich nach langem Aufenthalt im Haus dieser
Frau hörte, erloschen und erstickt in ihrer Sprachmelodie vor,
oder besser, in ihrem Mangel an jeglicher Melodie. Die deutsche Sprache
ist von Gelehrten, von Theologen und Juristen vor allem, geschaffen
worden. Sie ist keine Sprech-, sondern eine Lesesprache. Ihre
ästhetischen Reize sind verborgen, weniger kindlich
offensichtlich als bei den O- und A-Sprachen. Ihre Klangreize
müssen aus der unmelodiösen, tonlosen Sprechweise der
gebildeten Deutschen gleichsam ausgegraben werden. "Einsam", "Allein" -
das sind wahrhaft keine klang- und melodielosen Wörter, und
von solchen Wörtern gibt es Tausende. Sie fallen wie Tropfen
in ein tiefes Gewölbe, schlagen im Dunkel sehr tief mit einem
silbernen Ton auf und erzeugen im Innern des Hörers einen sich
immer weiter verbreitenden Hall. Die deutsche Sprache ist vollgeladen
worden mit Begriffen, die
aus
dem
Lateinischen und Griechischen übersetzt worden
sind, diese Begriffe sind brauchbar und völlig unentbehrlich,
aber die älteren Wörter sind die schöneren,
und in ihnen liegt auch noch etwas von der Musik einer Zeit, in der das
Sprechen mit dem Singen enger verwandt war.
Das ältere, farbigere Deutsch lebt noch in den
Dialekten.
Seit
dem neunzehnten Jahrhundert hat es viele und zum Teil sehr bedeutende
Dialekt-Dichter gegeben, die eine überwältigend
komische und poetische Literatur hervorgebracht haben, dafür
aber einen großen Verzicht leisten mußten:
außerhalb ihrer Dialektregion verstanden und gelesen zu
werden. Der Dialekt, vor allem der Dialekt meiner Geburtsstadt Frankfurt
am Main, ist für mich der eigentliche
Körper der Sprache, ihr Blut, ihre Muskulatur, über
die sich die glatte Haut der Hochsprache spannt. Wie in der Malerei der
Vergangenheit, als man die Modelle zunächst
nackt zeichnete
und dann erst mit Farbe anzog, lohnt sich auch bei der Sprache zu
entdecken, welch lieblicher Leib in ihr verborgen ist.
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