Daniela Danz: "Türmer"
Robinsonade
in luftiger Höhe
Vom Kellergeschoss in den Turm und von dort wieder herunter in den
Schützengraben, das ist der Weg des Türmers, wie ihn
der Leser im ersten Teil des Romans "Türmer" miterleben kann.
Auf den ersten Blick schon sticht der scheinbare Gegensatz hervor, auf
der einen Seite die Düsternis und Abgeschlossenheit des
Kellers, das Eingebunkert-Sein, vom Schützengraben erst gar
nicht zu reden; auf der anderen Seite das Hohe, das Lichte, das
Erhabene des Turms. Doch sehr schnell wird deutlich, dass das Leben auf
dem Turm einem wie auch immer verstandenen Freiheitsbegriff nicht
nachzukommen vermag. Es ist im Gegenteil eine luftige Robinsonade auf
einer winzigen Insel, schwebend zwischen Himmel und Erde. "Der Turm ist
ein Käfig", schreibt denn auch Jan Facher, der Sohn und
Beiwächter des Türmers, aus dessen Perspektive die
Geschichte erzählt wird. Nur fünfunddreißig
Meter über der Stadt, zweihundertvierundsechzig Treppenstufen,
und doch ist die Familie des Türmers zur Isolation, zu einem
Eremitenleben inmitten der Stadt verdammt. Dazu fristet man dort oben
auch noch ein mehr oder weniger sinnloses Dasein, denn ein
Türmer hat nichts Anderes zu tun, als rund um die Uhr von
seiner hohen Warte aus über die Stadt zu wachen, eine nicht
mehr zeitgemäße Aufgabe im beginnenden zwanzigsten
Jahrhundert, ein Relikt aus mittelalterlicher Vergangenheit.
Kalt ist es in der Türmerwohnung. Jan Facher scheint aber mehr
unter der Kälte seiner Einsamkeit, der Kälte von
eingefrorenen Beziehungen zu leiden, als unter der Kälte von
Wind und Wetter, der man im Turm ausgesetzt ist. Er schafft sich, um
dieser frostigen Einsamkeit zu begegnen, eine imaginäre
Freundin, Echo nennt er sie. Echo, weil er mit jemandem kommunizieren
will, selbst wenn es nur ein Echo ist, das ihm antwortet. Echo aber
auch, um in sich selbst hinein zu horchen, in sein eigenes Unbewusstes,
das vielleicht Antwort geben kann auf die Fragen, die sich ihm stellen,
denn die Zeit zum Fragen und Philosophieren, die ist ihm auf dem Turm
gegeben. Jans imaginäre Freundin ist also in erster Linie ein
von innen kommendes Echo. "Ihre Stimme ist meine", bekennt Jan Facher
gegen Ende seiner Aufzeichnungen.
Die anfängliche Hoffnung Jans, durch das ständige
Beisammensein mit seinem Vater auf engstem Raum, auch eine emotionale
Nähe zu ihm zu finden, trägt keine Frucht. Er muss
bald einsehen, dass letzten Endes ein jeder auf sich allein gestellt
ist. Die gleiche Erfahrung macht er, was seine Freunde betrifft, die
ihn schon einmal in der Türmerwohnung besuchen, deren Besuche
aber immer seltener werden, bis sie schließlich in den Krieg
ziehen und gar nicht mehr kommen. Und seine Mutter? Von ihr
erfährt Jan während seines Türmerdaseins,
dass sie ihn damals, bei seiner Geburt, gar nicht gewollt hat, dass sie
sogar versuchte, sich ihrer Leibesfrucht zu entledigen.
Immer wieder begegnet uns im Roman das Motiv des Eingeschlossenseins,
in den verschiedensten Bildern tritt es uns entgegen wie beispielsweise
"in dem geduldigen Netz einer Spinne hängen bleiben und sich
müde zappeln", oder wenn vom "Walfischbauch des Dachbodens"
die Rede ist. Und drohend wirft der kommende
Weltkrieg seinen Schatten
voraus, unter anderem in Form einer Sonnenfinsternis.
"Von der Thüringer Pforte zog ein Schatten über das
Land, schnell, als würde einer mit der Hand ganze
Dörfer auswischen. Die Wirklichkeit wurde in einen Spalt vor
der heranrückenden Front der Dunkelheit gesogen, alles
Verlässliche fiel aus unseren Gedanken. Aber es kam mit der
Schattenfront die Gewissheit näher, dass sie auch
über uns ziehen würde, dass wir uns nicht mehr
bewegen müssten und alles so geschehen würde, wie es
soll."
Daniela Danz entwirft also ein düsteres, klaustrophobisch
stimmendes Gemälde vom Leben (nicht nur des Türmers).
Der Leser vermeint, die atmosphärische Dichte im Turm
regelrecht zu spüren, sie überträgt sich auf
ihn allein durch die Magie des Wortes, und Daniela Danz ist dieser
Magie ohne Zweifel mächtig. Ihre Sprache ist voller Poesie,
von gleichsam lyrischer Verdichtung. In kurzen, selten mehr als zwei
Seiten umfassenden Kapiteln, mit jeweils einem kurzen Stichwort als
Kapitelüberschrift, werden Stimmungen eingefangen vom Leben in
einem Zwischenreich, vom Leben zwischen Himmel und Erde, bis auch Jan
Facher und sein Vater in den Krieg ziehen müssen, um die
sinnlos gewordene Tätigkeit eines Türmers gegen die
Sinnlosigkeit des Schützengrabens einzutauschen.
Der Themenkomplex Krieg und Gewalt nimmt denn auch einen relativ
breiten Raum ein im ersten Teil des Romans. Er stellt auch eine
Verbindung her zum zweiten, etwas kürzeren Teil, der mit
"Michael Thurner" überschrieben ist und wo es um den Krieg
Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geht, der aus dem Zerfall des
Vielvölkerstaates Jugoslawien hervorgegangen ist. Auch Michael
Thurner wohnt hoch über der Stadt in einem Belgrader Hotel.
Auch er ist in gewisser Weise ein Türmer ("Zum Sehen geboren,
zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die
Welt"), auch hier spielt die Beziehung zwischen Vater und Sohn eine
Rolle. Auch Michael Thurner hat seine Probleme mit der Sinnfindung, er
beschreibt zum Beispiel seine Visite in Belgrad als einen Aufenthalt,
der eigentlich keinen Grund hatte.
Der zweite Romanteil vermag die atmosphärische Spannung des
ersten Teiles nicht zu halten und ist meiner Ansicht nach deutlich
schwächer geraten. Dennoch ist der Autorin mit ihrem
"Türmer" ein literarisches Juwel gelungen, gehaltvoll und
geschliffen, ein kleines Meisterwerk moderner Erzählkunst.
(Werner Fletcher; 08/2006)
Daniela
Danz: "Türmer"
Wallstein, 2006. 154 Seiten.
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Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Tübingen, Prag, Berlin und Halle. Sie arbeitet als Kunsthistorikerin und Autorin. Zuletzt erhielt sie das "Hermann-Lenz-Stipendium" (2006).