György Dalos: "Jugendstil"
Brüderliche Vereinigung von Kommunismus und Jugendstil
György Dalos erzählt in seinem Roman "Jugendstil" von den
Verstrickungen eines jungen Menschen in der Liebe und der Politik im
post-stalinistischen Ungarn. Dabei tanzt er sicher auf dem Seil
zwischen Ironie und Melancholie.
"Jugendstil" hat György Dalos seinen Roman genannt. Wenn man
dieses Wort hört, so verbindet man es unwillkürlich mit
dessen kennzeichnenden Teilen oder Elementen: dekorativ geschwungenen
Linien sowie flächenhaften floralen Ornamenten. Man denkt an
typisch geschwungene Möbel, die Hackeschen Höfe in Berlin,
Métroeingänge in Paris, Gaudís Bauwerke
in Barcelona und nicht zuletzt an die "Wiener Secession" um
Gustav Klimt.
Und eben da - in Wien - lebt der Protagonist und Ich-Erzähler
dieses Romans, der Exilungar jüdischer Abstammung Robert Singer,
Kunsthistoriker und stellvertretender Direktor des Instituts für
Jugendstil. Eigentlich könnte er sich glücklich
schätzen, er hat erreicht, was den meisten seiner ehemaligen
Landsleute verwehrt blieb: als freier und wohlhabender Wissenschaftler
in der Hauptstadt des Jugendstils zu arbeiten.
Aber es schwingt ein sublimer Ton mit, wenn er über sein als
tradiert empfundenes Leben sinniert: "Mit meiner Flucht erreichte ich
zwar nicht alles, aber zumindest das, was möglich war ... In
Budapest bin ich berühmt ... In Wien hingegen bin ich jahrelang
nicht im Fernsehen, die Kameras richten sich auf den Direktor, ...
während ich als Stellvertreter bescheiden im Schatten stehe."
Aus seiner Kleinbürgerlichkeit hat er sich nie ganz lösen können.
Amnesie versus Konfrontation
Und bei näherer Betrachtungsweise ist er im Leben schon des
Öfteren geflohen, ist Gefahren eher aus dem Weg gegangen, als sich
zu positionieren.
Während seiner Geschäftsreisen in seine alte Heimat Budapest
genießt er es, den erfolgreichen, wohlhabenden Geschäftsmann
herauszukehren, "denn für einen aus der Fremde kommenden Ungarn
ist es weniger gefährlich zu prahlen, als sich zu beschweren".
So versucht Singer auch gar nicht tiefgehend darüber nachzudenken,
wen er vor sich hat, als er von einem ungepflegt aussehenden Mann
zufällig angesprochen wird, der sich als ehemaliger Schulkamerad
ausgibt. Singer kann sich partout nicht an ihn erinnern. Er lädt
ihn zum Essen ein und drückt ihm - wie immer in derartigen
Situationen - seine Visitenkarte in die Hand.
Doch dieses Mal spürt er, dass seine Vergesslichkeit "mit einer
beängstigten Einsicht in die Vergangenheit" gepaart ist. Als der
"Unbekannte" seinen Namen nennt - Feri K. - wird ihm klar, dass er mit
seinem Gegenüber und dessen verpfuschtem Leben mehr zu tun hat,
als ihm lieb sein kann.
Robert Singer betritt unwillkürlich ein "magisches Portal".
Er beginnt eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit seiner Jugend, in den Herbst 1961.
"Im Chor war ich Teil eines Plurals mit lupenreiner Gesinnung"
Robert Singer lebt mit seiner Großmutter, einer
verängstigten, alten Frau, die ständig hinter ihrer
Spitzengardine lauert und auf ihn wartet, in ärmlichen,
kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater ist tot, die
Mutter in einer Nervenanstalt. Sein größtes Ziel ist es,
dieser Enge zu entfliehen.
Seine Existenzform bezeichnet er im Nachhinein selbst als Karrierismus.
Was er sich damals jedoch niemals eingestanden hätte, denn dieses
"überzeugungslose Strebertum" zählte zu den unverzeihlichen
Sünden. Ein anderer, sozialistischer "Jugendstil" war
maßgebend. Geschickt verwendet Dalos den Titel des
Romans als Homonym: ein Wort, das für verschiedene Begriffe steht.
"Gegenüber der verdammten Vergangenheit, der janusköpfigen
Gegenwart verstanden wir uns als Garanten der Zukunft. Daran glaubten
wir wie an die erste Liebe." Und diese verzaubert Robert in Gestalt von
Ilona.
Bis, ja bis zu diesem denkwürdigen Tag im November 1961, der Feier
zu Ehren der siegreichen Oktoberrevolution im neu eröffneten
"Gagarinklub": eine Tanzveranstaltung "als Form des Klassenkampfes",
die alles andere als ruhmreich ausgeht.
Am Ende bleibt nur die Erinnerung an die letzten Worte von Feri K.:
"Merkwürdig - hätte ich dich als Juden und Kommunisten nicht
gehasst, könnten wir als Menschen sogar Freunde sein."
Der mehrfach preisgekrönte Autor, der zu den bekanntesten Stimmen
der ungarischen Literatur zählt und zur demokratischen Opposition
in Ungarn gehörte, beschreibt mit wunderbar melancholischem Humor
eine angepasste jüdische Jugend im post-stalinistischen
Nachkriegsungarn.
In hinreißend klarem und schnörkellosem Stil schreibt er
über die Verstrickungen eines jungen Menschen in Liebe und Politik.
Sein Schriftstellerkollege
György
Konrád bezeichnet Dalos' Prosa zu Recht als "lange Anekdote über die Weltgeschichte der kleinen Leute".
Dalos schreibt einfach über das Komplizierte. Dabei setzt er
geschickt die Elemente des Jugendstils ein, der sich stets auf das
Wesentliche - sparsame grafische Mittel und schattenlose Gestalten mit
eindrucksvoller Kontur - beschränkt, verliert jedoch niemals an
Eleganz.
(Heike Geilen; 08/2007)
György
Dalos: "Jugendstil"
Rotbuch Verlag, 2007. 173 Seiten.
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