Glenn H. Mullin: "Der 'verrückte' Weise auf Tibets Königsthron"
Gesänge, Verse und Visionen eines "verrückten" Dalai Lama
Mystische Verse und Visionen des Zweiten
Dalai Lama
Yezhin Norbu, "das wunscherfüllende Juwel" - unter diesem Namen kennen die Tibeter
jenen Mann, der bei uns im Westen als der derzeitige Dalai Lama bekannt ist.
Von ihm stammt das Originalmanuskript der "Mystischen Verse und Visionen" des
Zweiten Dalai Lama, das er dem kanadischen Autor Glenn H. Mullin (geb. 1949
in Quebec/Kanada) aus seinem Privatbesitz zur Verfügung stellte.
Mullin, ein international anerkannter Tibetologe und Meditationslehrer, der
in den USA, Kanada, Europa und Asien an Universitäten gelehrt und zahlreiche
Bücher veröffentlicht hat, zeigt in seinem Buch detailliert und anschaulich
die Persönlichkeit, das Wirken und die Zeit des Zweiten Dalai Lama. Dessen poetische
Werke zählen zu den Höhepunkten tibetischer Literatur.
Wie sich schon dem Klappentext entnehmen lässt, signierte der Zweite Dalai Lama
(1475- 1542) üblicherweise seine Schriften mit "der verrückte Bettler Gendün
Gyatso". Verrückt wurde er durch seine tiefe Erkenntnis vom Wesen der Wirklichkeit,
die er eindrucksvoll und begeisternd in die Sprache der Poesie fasste. Und ein
Bettler war er, weil er nicht anhaftete an weltlichen Dingen - ein freimütiger
Herrscher, gebildet und tolerant gegenüber den verschiedenen buddhistischen
Schulen in seinem Lande.
Das Vorwort zum nun auch auf Deutsch vorliegenden Werk stammt vom derzeitigen
Dalai Lama selbst und zeugt von seiner tiefen Achtung und Inspiration durch
seinen spirituell außergewöhnlichen Vorgänger.
Mullin unterteilt sein Buch in drei Abschnitte, im ersten behandelt er allgemeine
Themen wie den Landescharakter von Tibet, die Tradition der Dalai-Lama-Inkarnationen,
sowie die zentralen Lehren des indotibetischen Buddhismus, wodurch er einen
Kontext für die später folgenden Gesänge und Gedichte des Zweiten Dalai Lama
schafft, der den Zugang zu seinen Gedanken und Stilmitteln erleichtert.
Im zweiten Teil zeigt er den Lebenslauf des Zweiten Dalai Lama und vermittelt
einen lebhaften Eindruck, wie Tibet für einen Lama im späten 15. und frühen
16. Jahrhundert aussah. Wie er selbst schreibt, liegt seine Absicht darin, den
Autor als Menschen, buddhistischen Mönch und Lehrer zu zeigen und Einblicke
in die Welt zu geben, in der er lebte und schrieb.
Der dritte Teil besteht aus den Übersetzungen der Gesänge und Gedichte der Sammlung
von namgur (mystischen Werken), wobei kurze Kommentare den Leser in Inhalt,
Kontext und die spezifische Eigenart des jeweiligen Textes einführen.
Mullins Schilderung der Entstehung der Grundlagen des Buddhismus in Tibet erfolgt
geschichtlich überaus fundiert und deckt sich mit anderen bekannten Quellen.
Vier Reiche beeinflussten Tibet nachhaltig: die asiatischen Großmächte Persien
im Westen, Indien im Süden, die Mongolei im Norden und China im Osten. Seit
der Mitte des 7. Jahrhunderts war Tibet die meiste Zeit über ein kultureller
Satellit Indiens und ein Bollwerk der Lehren Buddhas. Buddha wurde bekanntlich
vor etwa 2.500 Jahren in Lumbini geboren, das im heutigen Nepal, an der Grenze
zu Indien liegt. Er soll im Kathmandu-Tal gelehrt haben, nur wenige hundert
Kilometer von Tibet entfernt. Da es zu jener Zeit keine schriftlichen Aufzeichnungen
gab, kam es erst im 4. Jahrhundert zu einem der ersten bekannten Kontakte, damals
soll ein indischer Mönch den Hof des Königs Lha Totori von Yarlung besucht und
einen Korb voller buddhistischer Gerätschaften zurückgelassen haben, unter anderem
einige Schriften und Bilder.
Doch erst in der Mitte des 7. Jahrhunderts wurde der Buddhismus in Tibet offiziell
eingeführt, und durch die Entwicklung einer neuen Schrift, einer ausführlichen
Grammatik und die Übersetzung zahlreicher indischer Werke ins Tibetische entstanden
die Grundlagen des Buddhismus in Tibet.
Heute spricht man von "Schulen" oder "Sekten" des tibetischen Buddhismus und
nennt alle Traditionen oder "Linien", die vor der Mitte des 11. Jahrhunderts
eingeführt wurden, allgemein Nyingma oder "Alte Schule". Das Kennzeichen dieser
Traditionen ist, dass sie auf dem Wortschatz basieren, der im 7. und 8. Jahrhundert
geschaffen wurde, und sich auf Schriften berufen, die während jener Zeit übersetzt
wurden. Die meisten dieser Linien betrachten Padmasambhava als ihren Begründer,
von den Tibetern selbst Guru Rinpoche genannt, dessen exzentrischer tantrischer
Lebensstil noch heute die Fantasie vieler Tibeter reizt.
Im 11. Jahrhundert kam es zu einer gründlichen Revision der Sanskrit-Übersetzungen
sowie der buddhistischen Terminologie. Alle Schulrichtungen, die nach dieser
Zeit entstanden werden Sarma oder "Neue Schulen" genannt, viele entstanden im
11. und 12. Jahrhundert und es lassen sich drei wesentliche Hauptrichtungen
unterscheiden.
Den nächsten großen Entwicklungsschub in der Religionsgeschichte des Landes
leitete im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert die Ankunft von Lama Tsongkhapa
ein, dessen Mönchsname Lobsang Drakpa lautete. Er studierte in fast fünfzig
tibetischen Klöstern und bündelte die wichtigsten Überlieferungslinien der Neuen
Schule. Später gründete er das Kloster Ganden bei Lhasa, um sie unter einem
Dach zu bewahren und weiterzugeben. Die Schule, die sich auf ihn beruft und
die größte in ganz Zentralasien wurde, ist als Gelug bekannt, teilt im wesentlichen
die philosophischen Auffassungen der Kadam-Schule und fügt verschiedene
tantrische
Überlieferungen aus anderen Traditionen hinzu. Deshalb wird der Gelug-Orden
manchmal als Kadam Sarma oder Neue Kadam bezeichnet.
Alle Dalai Lamas gehören per Ordination der Kadam-Schule an, die meisten haben
in ihrem spirituellen Leben eine Kombination von Nyingma- und Gelugpa-Traditionen
praktiziert.
Mullin widmet ein Kapitel seines Werkes der Geschichte des Ersten Dalai Lama,
der 1391 in der Provinz Tsang im südwestlichen Tibet als Sohn nomadisierender
Hirten geboren wurde und dessen geistige Größe bereits zu Lebzeiten unumstritten
war. Im Anschluss folgt ein informatives Kapitel über die vierzehn Dalai Lamas,
in dem auch Zitate aus einem mit Seiner Heiligkeit dem gegenwärtigen Dalai Lama
geführten Interview einfließen, in dem jener einen "Gesamtplan" erwähnt, als
er von den Verbindungslinien zwischen den ersten fünf Dalai Lamas spricht. Nach
seinen Worten etablierte der Erste eine geistige Basis in Tsang in Südwesttibet;
der Zweite dehnte sie nach Zentral- und Südtibet aus; der Dritte erweiterte
den Einflussbereich bis zu den Provinzen Kham und Amdo in Osttibet
und in die Mongolei
hinein; der Vierte festigte den Bund zwischen Lhasa und der Mongolei mit dem
Amt des Dalai Lama als Bindeglied. Als dann der Fünfte auftrat, lagen alle Mosaikteile
an ihrem Platz, und die Rolle des religiösen und weltlichen Herrschers fiel
ihm mühelos zu.
Auch von zwei weiteren Gesamtplänen ist zu lesen, sowie Anmerkungen zu den anderen
Dalai Lamas und einer ausführlichen Erläuterung zum Begriff des Dalai Lama an
sich.
Sehr wichtig erscheint der Beitrag zur Legende von Avalokiteshvara, dem Bodhisattva
des Mitgefühls, dessen Emanationen die Dalai Lamas sein sollen, da das meiste,
was westliche Wissenschafter zu dieser Legendenbildung behaupten, falsch ist,
weil sie sich nicht die Zeit nehmen, die tibetischen Originalquellen zu konsultieren.
Eindrucksvoll recherchiert und erklärt Mullin in einem eigenen Kapitel auf hohem
Niveau die tibetische Tradition der mystischen Lehrgedichte. Mystische Hymnen
und Gesänge zählen zu den ältesten, beständigsten und universellsten künstlerischen
Ausdrucksformen für spirituelle Erfahrungen.
Danach geht er auf das Übersetzen tibetischer Dichtung ein, beschreibt seinen
eigenen "Ideenrhythmus" und seine individuellen Erfahrungen, um dann abschließend
sehr tiefgehend Grundbegriffe der buddhistischen Lehre zu erläutern.
Im zweiten Teil beschreibt Mullin das Leben des Zweiten Dalai Lama, nennt die
Biografien und seine eigenen Quellen und erzählt von Herkunft und Familie des
Zweiten Dalai Lama, seiner Geburt im Feuer-Affe-Jahr 1475, bei der der Neugeborene
alle Anzeichen einer hohen Inkarnation aufwies. Seine Eltern gaben ihm den Namen
Sanggye Pel, Schöpfer erleuchteter Wesen. Umfangreich auch die Beschreibung
der frühen Kindheit und die Anerkennung als Reinkarnation des Ersten Dalai Lama,
die Jahre als junger Mönch im Kloster Tashi Lhünpo und sein Ausschluss aus dem
Kloster, für diese Ausweisung liefert ein Biograf drei verschiedene Erklärungen
- eine äußere, eine innere und eine geheime - dafür, wie und warum sich dies
zutrug. In einem Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Studentenzeit im
Kloster Drepung und zeichnet die Wanderjahre des Lama nach. Er beschreibt die
Erfüllung einer Prophezeiung und die Beilegung des Konflikts mit Tashi Lhünpo,
die Meditationen des Meisters, seinen Werdegang als neuer Abt in Drepung, die
Wiedereinführung des Großen Gebetsfestes und dessen Bedeutung für die Tibeter,
den Bau einer Maitreya-Statue und seine späten Jahre.
Gegen Ende des zweiten Teils beschreibt Mullin, wie die Schüler auf den Tod
des Zweiten Dalai Lama vorbereitet werden und welche Vorbereitungen bezüglich
der zukünftigen Inkarnation getroffen werden. Überirdisch erscheinen die Umstände
des Todes und bereiten so die ideale Ausgangsbasis zur Lektüre des dritten Teils,
der Mystischen Verse und Visionen in Übersetzungen und Kommentaren, einer Auswahl
wahrer Schätze der spirituellen Weisheit eines großen Meisters.
Dieses Buch berührt Suchende und Tibetfreunde gleichermaßen, die zeitlose Schönheit
und Allgemeingültigkeit der zitierten Texte spricht für sich und bedarf keiner
weiteren Worte.
(Gabriele Klinger; 09/2004)
Glenn H. Mullin: "Der 'verrückte'
Weise auf Tibets Königsthron"
O. W. Barth, 2004. 272 Seiten.
ISBN
3-502-61119-X.
ca. EUR 20,50.
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