Dai Sijie: "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin"
Bildung und ihre
Folgen ...
1967 startete Mao Zedong eine
Kampagne, die das kommunistische
China zutiefst verändern sollte: Die
Universitäten wurden geschlossen, und die jungen
Intellektuellen einschließlich der Gymnasiasten wurden zur
Umerziehung durch die revolutionären Bauern aufs Land
geschickt. Luo und der Ich-Erzähler, gerade einmal achtzehn bzw.
siebzehn Jahre alt, sind zwei dieser jungen Menschen. Sie werden 1971
in ein abgelegenes Bergdorf gebracht. Ihre Eltern sind Ärzte
und gehören damit selbst zur Zielgruppe der Kulturrevolution.
Dai Sijie beschreibt das
politische Umfeld nur am Rande. Die Intention des Autors ist es nicht,
Verstöße gegen die Menschenrechte aufzuarbeiten. Die
Kulturrevolution mit ihren menschenverachtenden Auswirkungen dient als
Handlungsrahmen für die Abenteuer der beiden, mit allen
Wassern gewaschenen, jugendlichen Akteure.
Was vermisst man besonders in
einem einsamen Bergdorf, abseits der bekannten Zivilisation? Kaum zu
glauben, aber Luo und der Ich-Erzähler vermissen die
Meisterwerke der westlichen Literatur. Jedes Jahr erscheinen weltweit
Zehntausende neuer Bücher, aber in China sind diese Werke
verboten und daher nirgends zu haben. So dreht sich in Dai Sijies Roman
alles um einen geheimnisvollen Koffer voller Bücher, den
jemand ins Dorf geschmuggelt hat. Diese Liebeserklärung an die
Literatur
ist die Kernaussage des Romans.
Auch die Romantik kommt nicht zu kurz. Die kleine chinesische
Schneiderin ist der Traum der jüngeren Dorfbewohner, und ihr
Vater behütet sie entsprechend. Liebesszenen sind punktuell in
die Geschichte eingewoben und sorgen für die notwendige Prise
Erotik. Auch die kleine chinesische Schneiderin ist sehr an
Bildung
interessiert, mit unerwarteten Folgen ...
In diesem Roman wird die Zeit
der Kulturrevolution auf humorvolle, teilweise satirische Weise
aufgearbeitet. Die Geschichte zeigt ungewohnte Perspektiven auf und
besticht durch besonderen Charme. Sie wird getragen von der Lockerheit
der beiden jugendlichen Protagonisten. In der Schlusspointe werden der
Humor und die Schlitzohrigkeit des Autors erkennbar.
Dai Sijie, geboren 1954 in der
Provinz Fujian in China, wurde von 1971 bis 1974 im Zuge der
kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf verschickt. Nach Maos Tod
studierte er Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. "Balzac
und die kleine chinesische Schneiderin" ist sein erster Roman. Er wurde
ein großer internationaler Erfolg und
in
einer französisch-chinesischen Produktion verfilmt.
(Klemens Taplan; 08/2003)
Dai Sijie: "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin"
Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni.