Alonso Cueto: "Die blaue Stunde"
Adrián
Ormache, der Hauptfigur
dieses Romans könnte es nicht besser gehen. Er gehört
als Inhaber einer sehr erfolgreichen Anwaltskanzlei in Lima zur
Oberschicht eines Peru, das seine eigenen "bleiernen Jahre" hinter sich
gelassen zu haben scheint. Er wohnt in einem der besten Viertel von
Lima, hat mit Claudia eine wunderschöne Frau, die ihn versteht
und in allem unterstützt und mit ihr zusammen zwei
Töchter. Alicia, die ältere Tochter, studiert Jura an
der Katholischen Universität und tritt selbstsicher in die
Fußstapfen ihres Vaters. Ihre Schwester Lucia ist
empfindsamer und kann sich sehr für Musik begeistern. Zu
seinem Bruder Ruben hat Adrián selten Kontakt, die beiden
sind gar zu unterschiedlich.
Erfolgreich, mit einer glücklichen Ehe und zwei gelungenen
Töchtern gesegnet, öffentlich anerkannt und
geschätzt, in einem Land, in dem es nach langer Zeit der
Dunkelheit wieder aufwärts geht - das Leben könnte
für Adrián nicht schöner sein.
Und doch wird er quasi über Nacht in einen biografischen
Strudel hineingestürzt, der ihn tief in die jüngste
Geschichte seines Landes mit dem erbarmungslosen Krieg zwischen den
Terroristen des
"Leuchtenden Pfads" (Sendero Luminoso)
und der peruanischen Armee und Sicherheitspolizei führt, der
an Grausamkeit und Unmenschlichkeit über eine sehr lange Zeit
beispiellos war und kaum eine Familie in Peru unberührt
ließ.
Als Adriáns Mutter stirbt, nimmt ihn das mehr mit als er
vermutet hätte. Doch mitten in seiner ungewöhnlich
heftigen und Züge von Depression annehmenden Trauer
erfährt er nach der Beerdigung seiner Mutter von der Rolle
seines schon längere Zeit verstorbenen Vaters im
erbarmungslosen Krieg gegen den Sendero. Als er
Dokumente seiner Mutter durchsieht, entdeckt er einen alten Brief an
sie:
"Senora Beatriz Ormache:
Ihr Ehemann, der Offizier Ormache, ist ein sehr böser Mann,
der großes Unglück über meine Familie
gebracht hat. Meine Nichte wurde in Huanta gefoltert und vergewaltigt.
Meine Nichte war gut, nie hat sie etwas mit Terrorismus zu tun gehabt,
aber ein paar Soldaten sind gekommen und haben sie mitgenommen und Ihr
Ehemann Ormache hat sie vergewaltigt, Senora, Missbrauch hat er ihr
angetan. Deshalb, Senora, wird Fluch über Ihre Kinder und
über Sie kommen, Senora. Für alle Zeit verflucht.
Dieser Fluch wird viele Jahre dauern, er wird auf Ihnen und auf Ihren
Kindern und den Kindern Ihrer Kinder liegen, So wird es sein, Vilma
Agurto."
Dieser Brief verändert mit einem Schlag Adriáns
Leben. Er begegnet Chacho, der zusammen mit seinem Vater in der Kaserne
des Militärs in Huenta diente und bestätigt, dass
Adriáns Vater in besonders brutaler Weise an
Folterungen
beteiligt war und sehr oft, nachdem er sich an einer weiblichen
Gefangenen vergnügt hatte, diese seiner Mannschaft zur
Verfügung stellte, bevor sie getötet wurde. Auch sein
Bruder Ruben bestätigt ihm das Verhalten des Vaters. Und er
erfährt von einem Mädchen namens Miriam, das sein
Vater geliebt hat, das er bei sich behalten, mit dem er gelebt hat und
das eines Tages mit einer List aus der Kaserne geflohen ist. Es stellt
sich auch heraus, dass Adriáns Mutter bis zu ihrem Tod an
die Familie Miriams eine Art Schweigegeld gezahlt hat, das diese nun,
nach deren Tod, von ihm verlangt. Würde diese Geschichte
über seinen Vater publik, wäre Adrián
erledigt. Auch deshalb macht er sich auf eine abenteuerliche Suche nach
dieser Frau, erinnert sich, dass es wohl sie gewesen ist, mit deren
Suche ihn sein Vater damals kryptisch auf dem Sterbebett beauftragt
hatte und verliert langsam den Boden unter den Füßen
seiner so gesicherten und glücklichen Existenz.
Seine Frau Claudia, der er sich mehr und mehr zu entfremden droht, was
kein Wunder ist, versucht zu verstehen, was in ihrem Mann vorgeht, und
es ist kaum zu glauben, dass die Ehe am Ende des Romans noch besteht.
Nach langer Suche - Adrián hat dabei große
Probleme, seiner Arbeit in der Kanzlei nachzukommen, wobei ihm seine
Assistentin Jenny eine unschätzbare Hilfe ist - findet er
Miriam. Sie versichert ihm sofort, dass er keine Angst zu haben
brauche, dass sie irgendetwas der Öffentlichkeit preisgebe und
will zunächst nichts mit ihm zu tun haben, schickt ihn weg.
Doch Adrián bleibt stur, er will mehr wissen. Die beiden
kommen sich immer näher, beginnen sogar eine Beziehung. Miriam
erzählt ihm die lange, bedrückende Geschichte seines
Vaters, ihre Geschichte mit ihm.
Und er schreibt sie auf für dieses Buch.
"Die blaue Stunde" ist ein beeindruckendes Buch der Geschichte einer
Schuld, die vom Vater auf den Sohn übergeht und diesen am
Leben hindert, ihm das Licht nimmt und ihn ins Dunkel stürzt.
Aber er muss sich dieser Geschichte stellen, es führt kein Weg
daran vorbei.
Er hört von Miriam von ihrer abenteuerlichen Flucht, jener
"blauen Stunde" kurz vor Morgengrauen, als die Soldaten sie beinahe
gefasst hätten, und lange lässt sie Adrián
in dem Glauben, ihr Sohn Miguel sei sein Halbbruder. Dabei setzt er
sein Familienleben fort wie gewohnt - aber:
"In jener Zeit fühlte ich, dass ein anderer Mann
Besitz von meinem Körper ergriffen hatte. Auf einmal kam es
mir als das Natürlichste der Welt vor, mich so zu
fühlen, halb zornig, halb entzückt, eine Mischung,
die mich von allen Stühlen vertrieb, auf denen ich
saß. Ich dachte nur an Miriam, ich sah ihre Augen, die mich
anschauten, und hörte ihre Stimme, wie findest du Miguel, und
spürte ihre vollen Lippen auf meinem Mund."
"Die blaue Stunde" ist ein bewegendes und sprachlich anspruchvolles
Buch, dem der Rezensent gerade in Deutschland große
Verbreitung wünscht. Denn die von Alonso Cueto vorgelegte
Geschichte aus Peru ist eine Form der Bearbeitung von schrecklicher
Vergangenheit und der damit verbundenen Schuld, die
über die
Generationen hinweg wirkt, wie man sie in Deutschland etwa seit den
1970er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Literatur zunehmend
findet. Es ist sehr interessant zu erfahren, wie die Menschen in Peru
mit einer politischen Vergangenheit umgehen, deren Schrecken und Terror
das Land bis Mitte der 1980er Jahre in großes Chaos
stürzten, und deren Aufarbeitung nach der Verhaftung
Guzmans, des Führers des Sendero, erst
langsam beginnt.
(Winfried Stanzick; 09/2007)
Alonso
Cueto: "Die blaue Stunde"
(Originaltitel "La hora azul")
Aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Berlin Verlag, 2007. 319 Seiten.
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Alonso Cueto wurde 1954 in Lima, Peru, geboren. 1983 debütierte er mit dem Erzählband "La batalla del pasado", den die Kritik als eines der bedeutendsten Bücher der modernen peruanischen Literatur feierte. Seitdem wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Wiracocha (1985), dem Anna-Seghers-Preis (2000) und einem Stipendium der Guggenheim Foundation (2002). Für "Die blaue Stunde" erhielt er 2005 den renommierten spanischen Premio Herralde. Alonso Cueto zählt zu den wichtigsten Autoren der Gegenwartsliteratur Lateinamerikas.