Aleister Crowley: "Liber Aleph vel CXI"

Das Buch von Weisheit und Narrheit in Form einer Epistel von 666 dem großen wilden Tier an seinen Sohn 777


"Tue, was du willst, soll das Gesetz sein."

Eines sei gleich zu Anfang klipp und klar gesagt: Es handelt sich bei "Liber Aleph vel CXI" um kein "Zauberbuch", keine "esoterische Bibel", keinen philosophischen Leitfaden. Wer spirituelles Geleit sucht, wird dergleichen darin nicht finden.

Aleister Crowley - eine Suche nach innerer Harmonie
Aleister Crowley wurde am 12. Oktober 1875 (im Tierkreiszeichen Waage also) geboren. Seine streng religiöse, puritanische Erziehung prägte ihn ebenso nachhaltig und unauslöschlich, wie sie wohl schon früh sein Widerstreben herausforderte und die Grundlagen für spätere Exzesse legte. Einige Bekanntheit erreichte der erwachsene Crowley im Rahmen seiner von der Boulevard-Pressemeute sogenannten "Gruppensex-Orden", welche u. a. für die damalige Zeit empörende erotische Fantasien unter dem Deckmantel der Religionsausübung in die Realität umsetzten. Mit gutem Gespür für theatralische Wirkung bediente sich der experimentierfreudige Drogenkonsument Crowley, Meister der Übertreibung und phasenweisen Selbstüberschätzung, einer pseudoreligiösen Symbolik und praktizierte eine Art von Sexualmagie (bzw. gab dies vor). Aus heutiger Sicht besteht Grund zur Annahme, Crowley verfügte einfach nicht über die Zielstrebigkeit oder auch Fähigkeit, die Haftbande der Kindheit abzuwerfen, sodann die Grundlagen einer tragfähigen Lehre, die diese Bezeichnung verdient, zu entwerfen und diese auch zu leben. Er scheint kein einfacher Zeitgenosse gewesen zu sein; vieles deutet darauf hin, dass er ein wahrer Streithansel und Hitzkopf war, der mitsamt seinem Schlachtruf vom "Gesetz des Starken" an manch zwischenmenschlicher Untiefe Schiffbruch erlitt. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Damenwelt verrückt nach dem unorthodoxen Aussteiger, der in effektvollen Kostümen posierte und seine Ausstrahlung wie auch sein Aussehen geschickt in bare Münze zu verwandeln verstand, war. Aleister Crowley starb in geistiger Umnachtung am 1. Dezember 1947.

Liber Aleph vel CXI - "Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen."
Der alles in allem recht willkürlich, wenngleich schriftstellerisch nicht ungeschickt aus Versatzstücken alteingesessener Welterklärungsmodelle und Religionen zusammengestoppelte Verhaltenskodex, den "Liber Aleph vel CXI" nach Ansicht der Crowley-Anhänger (auch) darstellen mag, ist gemeinhin allerhöchstens in sprachlicher Hinsicht lesenswert, oder womöglich für Personen von Interesse, die einen Blick in die ins Krankhafte verschachtelte Selbstrechtfertigung eines permanent zwischen Selbstüberschätzung und Eigenknechtung schwankenden Gemüts, das ein schriftgewordenes Ventil für seine verdrängte Herrschsucht fand, werfen möchten.

Das sichere Gefühl, als Verkünder eines neuen Zeitalters auserwählt zu sein (oder auch lediglich der angestrengte Versuch, die Mitmenschen dies glauben zu machen - diese Möglichkeit sollte bei allem Respekt zumindest gleichberechtigt in Erwägung gezogen werden), bestimmte Aleister Crowleys Dasein. Der begabte Selbstdarsteller inszenierte sich als "das große Tier" der Johannes-Offenbarung und bezeichnete sich folglich als "666 - das große wilde Tier". "Liber Aleph vel CXI", verfasst in Form von Briefen, gerichtet an seinen "Sohn 777", bringt in Abschnitten von jeweils einer Seite Crowleys Gedanken zu einzelnen Themenkomplexen (bspw. "de magno opere", "de castitate", "de tauro") zum Ausdruck. Fraglich ist meines Erachtens jedoch, inwieweit der allem Anschein nach keineswegs fest im Sattel seines bewussten Willens sitzende Verfasser sich tatsächlich inhaltlich an den spirituellen Sohn gewandt hat - erscheinen doch weite Passagen wie ein Versuch, die eigene Person/Rolle in der Welt zu verorten und im Ordenskonzept zu (be)festigen. Ebenso beachtenswert mag Crowleys deutlich herauszulesende Befürchtung sein, von einem mächtigeren Nachfolger überflügelt zu werden - denn stellenweise überhöht sich "das große Tier" in zweifelhafter Weise, plustert sich geradezu auf, das eigene Wissen und die erworbene Machtstellung für alle Zeiten glorienscheinüberstrahlt zur Schau stellen wollend - ein Verhalten, das einem wahren Meister der Zunft nicht geziemt und auch einem Verkünder des neuen Zeitalters schlecht zu Gesicht steht. Als Beispiel: "Es ist dir vielleicht von Nutzen, o mein Sohn, wenn ich dir die geheime Geschichte derer erzähle, die mir in diesem Grade des Magus vorangegangen sind, soweit die Erinnerung an sie der Menschheit verblieben ist. Denn was würde es dir nützen, wollte ich die Taten derer berichten, die ich vielleicht tatsächlich kenne, aber du nicht?", "Was gleicht denn meiner Liebe zu dir, welche dir diesen Schatz meiner Weisheit schenkt? Vernachlässige sie nicht, mein Sohn, denn sie ist die allerhöchste Teufelsaustreibung und der allerhöchste Zauber."
Crowley, der bisweilen in geradezu martialische Diktion verfiel, sprach bspw. von der in Klassen eingeteilten Menschheit und der Erlangung der Herrschaft über das Universum.

Es wäre der Glaubwürdigkeit, somit der Stimmigkeit des Wesens Crowleys dienlich gewesen, hätte er dergleichen (mitunter hohle) Phrasen in seinem Opus vermieden. So allerdings ist "Liber Aleph vel CXI" - wie eingangs bemerkt - vielleicht als Fallstudie eines Suchenden und aus stilistischen Überlegungen (leidlich formuliertes Dilettieren in Geistesbelangen) allemal lesenswert, nicht jedoch aus spiritueller Sicht, denn über die aus den Quellen der Weltreligionen angelesenen Ansätze erhebt sich Crowleys Regelwerk, bestehend aus insgesamt beliebigen Botschaften, mitnichten - zu wenig entsprach der Mensch Crowley den Ansprüchen seiner "eigenen Lehre", zu sehr steckte er im Sumpf der individuellen Kleinheit fest. (Wäre er freilich Münchhausen gewesen, er hätte sich am eigenen Zopf aus dem Morast zu ziehen vermocht.)
Aleister Crowley (der sich übrigens als Reinkarnation des Eliphas Lévi sah) kokettierte mit der Lust, Zugang zu Geheimwissen zu finden, bleibt in "Liber Aleph vel CXI" allerdings Beweise für ein Gelingen dieses seines Unterfangens schuldig. Über die Gründe des sich Entziehens kann bei Bedarf oder Gelegenheit spekuliert werden. Das selbsternannte "große Tier" bewegte sich sprachlich in spirituellen Bereichen, die ihm aufgrund seiner charakterlichen Disposition mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht zugänglich waren.
Crowley nahm offenkundig sprachliche Anleihen beim Schreibstil von Geheimbünden oder auch jenem der Alchemisten, wobei jede Verschleierung in einem Verhaltenskodex, der sich tatsächlich an den "spirituellen Sohn" richtet, bei wohlmeinender Beurteilung als Fleißaufgabe und überflüssige Liebesmühe zu bezeichnen ist und man darin vielleicht nur einen Sinn erkennen könnte, sofern Crowley sich der Illusion hingegeben hätte, tatsächlich über außergewöhnliche Kenntnisse zu verfügen und Geheimniskrämerei erfordernde Erfahrungen gemacht zu haben, die er selbst seinem Nachfolger nicht hätte mitteilen wollen. Um sieben Ecken zu denken scheint immerhin nach dem Geschmack des "großen Tiers" gewesen zu sein, es darf also auch hier spekuliert werden.

Die vorstehenden Ausführungen sollen freilich keineswegs in eine gedankliche Sackgasse führen, wonach etwa in Crowleys Schriften nicht die Spur der einen oder anderen erwähnenswerten Aussage alltäglicher Natur vorhanden wäre! Daher zum Abschluss noch einige (freilich aus dem Zusammenhang gerissene) Zitate:
"Wisse denn, o mein Sohn, dass alle Gesetze, alle Systeme, alle Sitten, alle Ideale und alle Normen, die darauf hinarbeiten, Gleichförmigkeit zu schaffen, verflucht sind, weil sie in direktem Gegensatz zum Willen der Natur stehen, der verändert und durch Mannigfaltigkeit entwickelt",
"So ist darum das menschliche Gesetz eine Feststellung des Willens und der Natur des Menschen, sonst ist es eine Unwahrheit, die dem zuwiderläuft, und wird nichtig und wirkungslos",
"Nähre nicht die Schwäche eines Mannes, wickle ihn nicht in Watte und verhätschle ihn nicht, und wäre er ein Dichter oder ein Künstler, nur weil er deiner Fantasie wert ist. Denn wenn du das tust, wird er an Schwäche zunehmen, sodass selbst ein Werk, um dessentwillen du ihn liebst, auch an Kraft verlieren wird",
"Verstehe du, o mein Sohn, wenn ich mich nun von dir in diesem Brief verabschiede, dass der Gipfel der Weisheit die Öffnung des Weges ist, der zur Krone und zur Essenz von allem führt, zur Seele des Horuskindes, des Herrn des Äons. Dies ist der Weg des reinen Narren."

(sesh; 12/2003)


Aleister Crowley: "Liber Aleph vel CXI"
Übersetzt von Martha Küntzel und Martina Kempff.
Ansata, 2004. 271 Seiten.
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So leicht und fertig ich im Springen war, so war es auch mein Pferd. Weder Gräben noch Zäune hielten mich jemals ab, überall den geradesten Weg zu reiten. Einst setzte ich darauf hinter einem Hasen her, der querfeldein über die Heerstraße lief. Eine Kutsche mit zwei schönen Damen fuhr diesen Weg gerade zwischen mir und dem Hasen vorbei. Mein Gaul setzte so schnell und ohne Anstoß mitten durch die Kutsche hindurch, wovon die Fenster aufgezogen waren, daß ich kaum Zeit hatte, meinen Hut abzuziehen und die Damen wegen dieser Freiheit untertänigst um Verzeihung zu bitten.

Ein andres Mal wollte ich über einen Morast setzen, der mir anfänglich nicht so breit vorkam, als ich ihn fand, da ich mitten im Sprunge war. Schwebend in der Luft wendete ich daher wieder um, wo ich hergekommen war, um einen größern Anlauf zu nehmen. Gleichwohl sprang ich auch zum zweiten Male noch zu kurz und fiel nicht weit vom andern Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Knie schloß, wieder herausgezogen hätte.

(Aus dem vierten Kapitel - "Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen im Kriege gegen die Türken" - von Gottfried August Bürger.)

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Weiterer Buchtipp:

Fernando Pessoa: "Boca do Inferno. Aleister Crowleys Verschwinden in Portugal"
September 1930. In Lissabon treffen sich zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Der für sein kapriziöses Leben berüchtigte englische Okkultist, Magier, Visionär und Dichter Aleister Crowley, und der Dichter Fernando Pessoa. Die hitzige Freundschaft endet mit dem plötzlichen Verschwinden Crowleys.
Ein mysteriöser Abschiedsbrief taucht auf, der die Vermutung schürt, Crowley könne sich in Cascais bei der Boca do Inferno umgebracht haben. Ein Leichnam wird nicht gefunden, die Polizei schaltet sich ein, und das Ereignis wird in der internationalen Presse verhandelt. Selbstmord, Mord - oder eine der Possen Crowleys?
Steffen Dix wird die Geschichte zum ersten Mal in Dokumenten mit erzählenden Überleitungen darstellen und viele Rätsel lösen, die ins Innerste von Pessoas Werk führen.
Fernando Pessoa (1888-1935), der wohl bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem "Buch der Unruhe" bekannt geworden. Er gehört zu den großen literarischen Erneuerern, ist nicht nur der Begründer der modernen Dichtung seines Landes, sondern eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung überhaupt. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme. Er gab seinem vielfältig gespaltenen Ich die Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und eben Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie "Person, Maske, Fiktion, Niemand" bedeutet. (S. Fischer)
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