Edgardo Cozarinsky: "Die Braut aus Odessa"

Erzählungen


Exquisite kleine Heptalogie

Edgardo Cozarinsky, 1939 in Buenos Aires als Sohn russischer Emigranten geboren, emigrierte 1974 wegen der dramatischen politischen Situation nach dem Tod Juan Peróns seinerseits und lebt seitdem in Paris. Als Autor und Filmemacher hat er sich zunächst durch seine Beschäftigung mit Borges, Tschechow und Nabokov einen Namen gemacht. Seine Bücher wurden bereits in viele europäische Sprachen übersetzt, mit "Die Braut aus Odessa" erscheint er nun erstmals auch auf deutsch.

Emigranten zwischen Europa und Amerika stehen im Zentrum der sieben Erzählungen, deren erste dem Buch den Titel gibt und gleichzeitig seinen zeitlichen Rahmen (1890 bis zur Gegenwart) absteckt.
Da packt eine Schickse die Gelegenheit am Schopf und wird zur Jüdin, um nach Argentinien auswandern zu können, wo (Jahrzehnte später) eine andere Russin mittels der Lektüre gewaltiger Mengen an russischer Literatur die Beziehung zu ihrem Herkunftsland aufrechthält, ein Wiener Literat hat, als er gegen Lebensende in die Heimat zurückkehrt, keine Ahnung mehr von zeitgenössischer österreichischer Literatur und träumt während einer späten Preisverleihung von einem einstigen (und, was er aber nicht weiß, längst toten) argentinischen Geliebten, ein anderer Heimkehrer, ein Barpianist, der nicht in der Fremde alt werden will, erwischt mit 1939 ein ziemlich ungünstiges Datum für seine Fahrt nach Berlin, einen zum Opernmäzen gewordenen ehemaligen Waffenhändler ereilt in Genf späte Rache, ein junger Mann sucht im heutigen Lissabon nach Spuren seiner 1940 auf der Flucht befindlichen Großeltern ...

Abgesehen von einem mehr oder weniger starken Bezug zu Buenos Aires verbindet diese Emigranten auf den ersten Blick nicht allzuviel. Doch bald merkt der Leser, dass es sich um alles andere als eine wahllose Zusammenstellung der Geschichten handelt, sondern unter der Oberfläche höchst individueller Lebensläufe und Umstände die selben Motive in variierender, sich ergänzender oder kontrapunktischer Art erklingen: Heimat in Sprache, Kultur und Partnerbeziehung, diverse Gefühle des Fremdseins, Flucht, Aufbruch, Verlust, unverhofftes Wiedersehen, Hoffnung, Resignation, Erinnerung (um nur einige zu nennen).
Besonders sorgfältig wird der existentielle Aspekt behandelt, Cozarinsky interessiert sich für sogenannte Schicksalsentscheidungen, die das Leben der Handelnden nachhaltig und unwiderruflich geprägt haben, in welchen Augenblicken er seine Protagonisten gleichsam in Nahaufnahme zeigt, dabei jedoch restlose Erklärungen vermeidend und stattdessen häufig Wörter wie "vielleicht" und "vermutlich" verwendend.
Überhaupt ist die sprachliche Behandlung des Stoffes zu loben; ob es nun die immer wieder kunstvoll eingebauten Versatzstücke (Briefe, Dokumente, Zeitungsausschnitte, Passagierlisten) sind, die persönliche Vertrautheit des Autors mit dem Emigrantenthema, oder er sich zum Teil biografischer Daten von Vorfahren, Bekannten und Unbekannten bedient, das literarische Ergebnis ist eines großer Authentizität und Dichte.
Schließlich wird auch deutlich, dass wir alle etwas von zeitlebens irgendeine Art von Heimat suchenden und vermissenden Emigranten in uns haben, und von Reisenden auf dem Wegstück zwischen Zeugung und Tod. Auch hier ist der Bogen denkbar straff gespannt, so stellt sich ein Icherzähler vor, dass es im nächtlichen Meer eines Sterbenden treibende Inseln gibt, Bewusstseinsfragmente, Erinnerungen, Stimmen und Bilder des erlöschenden Lebens, Übergangsgepäck, an das sich der Reisende für kurze, ungewisse Zeit, die unsere Instrumente nicht zu messen vermögen, klammert, während einem anderen Icherzähler nach exzessiver Beschäftigung mit fremder Vergangenheit die Erfahrung reiner Gegenwart zuteil wird: Ich blieb an einem Tisch in einem Café sitzen und betrachtete das langsame Erlöschen des Tageslichtes und das städtische Spektakel mit wechselnden Schauspielern, ohne zu lesen, ohne Notizen zu machen. Ich habe meinen Atem wahrgenommen, meine reine Anwesenheit an diesem anonymen Ort, versunken in eine vage, mir unbekannte Sinnlichkeit, ganz in dem glücklichen Bewusstsein am Leben zu sein.

(fritz; 11/2005)


Edgardo Cozarinsky: "Die Braut aus Odessa"
Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg.
Gebundene Ausgabe:
Wagenbach, 2005. 160 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Diana, 2007.
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Zwei weitere Bücher des Autors:

"Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich ..."
Eine bewegende Geschichte aus Buenos Aires, der Welt des jiddischen Theaters und des argentinischen Tangos.
Der alte Samuel Warschauer, früher einmal Bandoneon-Spieler, stirbt, bevor er dem angehenden Journalisten Fragen zum jiddischen Theater in Argentinien beantworten kann. Aber er hinterlässt ihm einen Schuhkarton mit Theaterprogrammen und Briefen, die Neugier und Phantasie des jungen Mannes beflügeln.
Auf seiner Spurensuche fällt ihm das jiddische Theaterstück Der moldawische Zuhälter von Teófilo Auerbach in die Hände, das 1927 in Buenos Aires uraufgeführt wurde. Es handelt von russischen Mädchen, die in Argentinien ihr Glück suchten und in den Händen des Verbrecherrings "Zwi Migdal" landeten. Erzählt Teófilo hier von wahren Begebenheiten? War vielleicht sogar seine eigene Frau eines dieser Mädchen?
Und wie ist die Geschichte Samuel Warschauers mit all dem verwoben? Der junge Mann beginnt, die Namen und bruchstückhaften Dokumente mit Leben zu füllen ... (Wagenbach)
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