Paulo Coelho: "Sei wie ein Fluss, der still die Nacht durchströmt"
Neue Geschichten und Gedanken 1998-2005
Paulo
Coelho ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt.
Seine
Werke wurden in unzählige Sprachen übersetzt, und die
Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen. Wenn es ein
solch erfolgreicher Schriftsteller aufgrund eigener, sehr
persönlicher Erfahrungen (vgl. sein Tagebuch "Auf dem
Jakobsweg") in seinen Büchern auch noch darauf anlegt, seinen
Leser eine spirituelle, vom Glauben an Gott geprägte
Lebenshaltung nahezu legen, dann ist der Widerspruch nicht weit. Coelho
hat von der Literaturkritik oft Prügel bezogen. Das
herrschende Feuilleton mag ihn einfach nicht, und das hängt,
so behaupte ich, nicht wesentlich mit seiner Art zu schreiben zusammen,
sondern mit seinen spirituell-religiösen Themen, von denen
sich die Nomenklatura der westlichen Intellektuellen nach wie vor
entrüstet distanziert. Man kann sehr wohl abstrakt
über die seltsame
Wiederkehr des Religiösen in den
nachindustriellen Gesellschaften debattieren, steht persönlich
aber dem Phänomen des "Geredes über Engel" (Peter L. Berger)
ziemlich fassungslos gegenüber. Wer über Jahrzehnte
das Dogma hochgehalten hat, dass die Religion in entwickelten
Gesellschaften früher oder später in die
Marginalität verschwinden würde, der sieht sich jetzt
mit Entwicklungen konfrontiert, die er nicht mehr begreifen kann.
So stark die Kritik an Coelho aus dieser Ecke nach wie vor ist, so
zahlreich sind die Leser, die nicht zuletzt von seinen Büchern
ermutigt werden, ihren eigenen Weg zu gehen, der Sehnsucht in sich
selbst einen Raum zu geben, der Idee nachzugehen, dass Arbeit und
Konsum, Urlaub und "Partymachen" nicht alles im Leben (gewesen) sein
können. Darüber nachzudenken, ob das denn alles
gewesen ist, wenn die Kräfte nachlassen und der Tod schon dann
und wann an die Fensterläden klopft.
Coelho vermittelt in sämtlichen seiner Bücher seine
Überzeugung, dass alle Religionen der Welt, sei es nun das
Christentum, der Islam, das Judentum oder die östlichen
Lehren, immer den einen Weg zum Heil meinen, immer von dem einen Gott
sprechen. Dennoch verschweigt er besonders in "Sei wie ein Fluss, der
still die Nacht durchströmt" an keiner Stelle, woher er
persönlich kommt, welcher Glaube ihn geprägt hat und
trägt. Es sind die Katholische Kirche und der christliche
Glaube an die Erlösung der Menschen durch Gottes Sohn Jesus
Christus, die ihn bei all seinem Tun und Lassen leiten. Eine
schöne Geschichte aus dem Buch mag das illustrieren:
"Juan ging jeden Sonntag zum Gottesdienst. Aber nach einiger Zeit kam
es ihm so vor, als sagte der Pastor immer dasselbe, und er blieb dem
Gottesdienst fern. Zwei Monate später, in einer kalten
Winternacht, besuchte ihn der Pastor. Er ist sicher gekommen, um mich
zu überreden, wieder zur Kirche zu kommen, dachte Juan. Er
fand, er könne ihm nicht den wahren Grund für sein
Fernbleiben sagen, nämlich die immer gleichen
Predigten.
Während er sich eine Ausrede zurechtlegte, stellte er zwei
Stühle vor den Kamin und redete über das Wetter. Der
Pastor sagte kein Wort. Juan, der eine Zeitlang vergebens versucht
hatte, ein Gespräch in Gang zu bringen, schwieg ebenfalls.
Beide blickten fast eine halbe Stunde lang schweigend ins Feuer. Dann
erhob sich der Pastor und holte mit einem Zweig ein Stückchen
Glut aus dem Feuer. Die Glut, die nicht mehr genug Hitze bekam, begann
zu verlöschen. Juan beeilte sich, sie in die Mitte der
Feuerstelle zurückzuschieben. 'Gute Nacht', sagte der Pastor
und erhob sich, um zu gehen.
'Gute Nacht und vielen Dank', antwortete Juan. 'Das Stückchen
Glut, das fern vom Feuer ist, erlischt am Ende, so hell es auch anfangs
geglüht haben mag. Der Mensch, der sich von seinesgleichen
entfernt, kann seine Wärme und seine Flamme nicht erhalten,
mag er auch noch so intelligent sein. Ich werde nächsten
Sonntag wieder in die Kirche kommen.'"
Das Buch umfasst insgesamt 103 Geschichten, Anekdoten sowie
persönliche Erinnerungen und Erfahrungen. Die Texte entstanden
zwischen 1998 und 2005 und wurden zu einem Teil in Zeitungen und
Zeitschriften überall auf der Welt veröffentlicht.
Hiermit liegen sie erstmals gesammelt vor. Auch wenn ihre thematische
Gliederung unklar bleibt, ist ihre Absicht deutlich: Coelho will
Zeugnis geben von dem, was ihn umtreibt, er will von der Hoffnung
sprechen, die in ihm ist, er will, egal was auf der Welt passiert - und
er ist ein sehr genau dokumentierender Weltzeitgenosse - Menschen davon
überzeugen und einladen, offen für die Liebe zu
bleiben. Unter diesem Titel erzählt er eine Geschichte, die
ihm ein Leser geschickt hat:
"Eine Rose träumte Tag und Nacht davon, dass
Bienen ihr
Gesellschaft leisteten, aber keine einzige ließ sich auf
ihren Blütenblättern nieder. Die Blume aber
träumte weiter: In ihren langen Nächten stellte sie
sich einen Himmel voller Bienen vor, die zu ihr kamen und sie
zärtlich küssten. So konnte sie es bis zum
nächsten Tag aushalten, bis sie sich im Sonnenlicht wieder
öffnete. Eines Nachts fragte der Mond, der von den Einsamkeit
der Rose wusste:
'Bist du es nicht müde immer weiter zu warten?'
'Vielleicht. Aber ich muss weiterkämpfen.'
'Warum?'
'Weil ich verwelke, wenn ich mich nicht öffne.'
In den Augenblicken, in denen die Einsamkeit alle Schönheit zu
erdrücken scheint, ist die einzige Möglichkeit
standzuhalten, weiter offen zu sein."
Ja.
(Winfried Stanzick; 07/2006)
Paulo
Coelho: "Sei wie ein Fluss, der still die Nacht durchströmt"
(Originaltitel "Ser como um rio que fluye")
Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Diogenes, 2006. 269 Seiten.
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Hörbuch:
Diogenes, 2006. 2 CDs. Ungekürzt gelesen von Gert Heidenreich.
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