Philippe Claudel: "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung"


Philippe Claudel ist, nachdem ihm im Jahr 2005 mit dem Roman "Die grauen Seelen" der literarische Durchbruch gelang, mit seinem Roman "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung" nicht weniger geglückt als ein kleines Kunstwerk. In der Art und im Umfang erinnert es zeitweise an die Romane von Eric-Emmanuel Schmitt, jedenfalls transportiert es ähnlich viel Lebenskraft und Hoffnungsstärke.

Das Buch beginnt mit der Schilderung einer Szene auf einem Schiff. Es ist eines der zahllosen Flüchtlingsschiffe aus Vietnam und Indochina, die in den 1970er-Jahren nach Jahrzehnten fürchterlicher Kriege und unbeschreiblicher Verwüstungen und Zerstörungen Tausende und Abertausende von sogenannten "boat-people" in den asiatischen Meeren aufgriffen und ihnen in den Ländern Westeuropas und in den USA eine neuen Heimat zu geben suchten.

Monsieur Linh ist einer von ihnen. Er ist ein alter Mann, der bei einem fürchterlichen Napalm-Angriff nicht nur sein Dorf und seine Heimat, sondern seine ganze Familie verloren hat. Nur seine kleine Enkeltochter Sang-diu ist ihm geblieben. Sie hat er gerettet und hält sie nun an der Reling des Schiffes, das sie nach Frankreich bringen wird, stehend im Arm.

Dort lebt er zusammen mit anderen Flüchtlingsfamilien zunächst in einem kleinen Heim, wird mehr schlecht als recht versorgt und wagt sich nach einiger Zeit hinaus, wo er auf einer Parkbank einen Franzosen kennenlernt.

Monsieur Bark, ein ebenfalls schon in die Jahre gekommener, traurig aussehender Mann, setzt sich neben ihn, beginnt ein Gespräch über das Wetter und stellt sich mit seinem Namen vor. Linh, der fremden Sprache nicht mächtig, antwortet den Traditionen seines Landes entsprechend, indem er dem Anderen einen guten Tag wünscht. "Tao-lai." Monsieur Bark hält das für dessen Namen und redet ihn fortan damit an, was Linh zu dem Gedanken veranlasst, dass das aber ein höfliches Land sei, in dem man sich andauernd einen guten Tag wünscht.

Sie kommen einander näher. Monsieur Bark fragt auch nach seiner Enkeltochter: "Ein hübsches kleines Püppchen haben Sie da. Wie heißt sie denn?"
Monsieur Linh fühlt sich zum ersten Mal in dem neuen Land wahrgenommen und taut sichtlich auf. Er zeigt dem Anderen ein verwaschenes Bild mit seiner Frau, aufgenommen lange bevor der Krieg seine Familie auslöschte. Und Monsieur Bark beginnt einfühlsam zu verstehen. Er erzählt Linh von seiner verstorbenen Frau, die ein Karussell betrieb und zieht ebenfalls ein altes Bild aus seiner Tasche. Aus seinem Tonfall und seiner Mimik kann Linh irgendwann den richtigen Schluss ziehen, dass Monsieur Bark ebenso seine Frau verloren hat wie er.

Die Schilderung dieser Gespräche ist Claudel auf das Einfühlsamste gelungen. Es scheint etwas auf, ein kleiner Hoffnungsschimmer, wie es gehen könnte mit den Menschen und ihrem Fremdsein, wie es anfangen könnte, das gegenseitige Verständnis und die Anerkennung dessen, was anders ist.
Monsieur Bark spürt ebendies, und etwas, das lange in ihm vergraben war, bricht auf, eine alte Schuld muss ausgesprochen werden. Als er an einem schönen Tag Monsieur Linh ans Meer führt und dieser sich an seine Heimat erinnert, fühlt das auch Bark und beginnt zu reden:
"Ich kenne Ihre Heimat, Monsieur Tao-lai, ich kenne sie. Ich bin vor langer Zeit dort gewesen. Ich hatte nicht den Mut, Ihnen davon zu erzählen. Man hat mich damals nicht nach meiner Meinung gefragt, verstehen Sie. Man hat mich gezwungen, dorthin zu gehen. Ich war jung. Ich hatte keine Ahnung. Es herrschte Krieg dort. Nicht der gegenwärtige, ein anderer. Einer der anderen Kriege. Man könnte wirklich meinen, dass alle Kriege es ausgerechnet auf Ihr Land abgesehen hätten. Ich war damals zwanzig. Was weiß man schon mit zwanzig? Ich wusste nichts. Ich hatte keine Ahnung von nichts. Gar nichts. Ich war ein Rotzbengel, mehr nicht. Ein Kind. Man hat mir ein Gewehr in die Hand gedrückt, als ich fast noch ein Kind war. Ich habe Ihre Heimat gesehen, Monsieur Tao-lai, o ja, ich habe sie gesehen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich habe alles im Gedächtnis behalten, die Gerüche und Farben, den Regen, die Wälder, das Lachen der Kinder und ihre Schreie. Als ich dort eintraf und das alles sah, dachte ich, so muss das Paradies aussehen. Dabei glaubte ich damals schon gar nicht an das Paradies. Und dann befahl man uns, Verderben in dieses Paradies zu bringen, mit unseren Gewehren, Bomben und Granaten ..."

Monsieur Linh weiß nicht, wovon der Andere redet, aber er spürt, dass es ihm unendlich wichtig ist. Vielleicht trauert er genauso um seine Frau wie ich, denkt er. Sie besuchen auf Barks Einladung ein Restaurant. Sie sind einfach glücklich zusammen und nehmen einander so, wie sie sind.

Doch das Unglück lauert schon. Monsieur Linh wird von der provisorischen Unterkunft in eine andere gebracht, ein Schloss mit hohen Mauern, in dem viele alte Menschen leben, die nur so vor sich hinstarren. Linh versucht sich auch hier zu arrangieren, doch er vermisst seinen Freund. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, das Schloss zu verlassen, gelingt es ihm beim zweiten Mal. Und ein auch dem Leser lange verborgenes Geheimnis wird gelüftet ...

Philippe Claudels Buch ist eine bewegende Lektüre, die nachdenklich macht und noch lange im Inneren arbeitet. Es ist schon große Kunst, in einer solchen Kürze und Dichte schreiben zu können.

(Winfried Stanzick)


Philippe Claudel: "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung"
Deutsch von Christiane Seiler.
rororo.
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Philippe Claudel wurde 1962 in Dombaslesur-Meurthe geboren.

Weitere Bücher des Autors:

"Die grauen Seelen"

Ein kleiner Ort im Osten Frankreichs, Dezember 1917: Jeder hat seinen Platz: der Staatsanwalt, der Polizist, der Gastwirt. Und alles geht seinen gewohnten Gang - ungeachtet des tausendfachen Sterbens an der nahen Front. Doch dann erschüttert ein einziger Tod das beschauliche Leben im Dorf. Die zehnjährige Tochter des Gastwirts, eine kleine Prinzessin, genannt Belle du jour, treibt erdrosselt in einem Kanal. Ein Mann versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Doch erst viele Jahre später gelingt es ihm, die Geschichte zu erzählen, zusammen mit allen anderen Geschichten, die untrennbar mit ihr verbunden sind: die des einsamen Staatsanwalts, der seine Tage allein auf einem Schloss verlebt; die der wunderschönen Lehrerin Lysia Verhareine, die alle mit ihrem Lächeln bezaubert und sich ihrem Geliebten zum Opfer bringt; die des bretonischen Deserteurs, den der Staatsanwalt foltern lässt; und nicht zuletzt seine eigene, die auch nicht frei von Schuld ist ... "Die grauen Seelen" ist wie ein Film von Chabrol: dunkel, geheimnisvoll, atemberaubend spannend, dabei leicht und von bestechender sprachlicher Eleganz. (Rowohlt)
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