Bernard Hamilton: "Die christliche Welt des Mittelalters"

Der Westen und der Osten


Geschichtsbilder sind unterschiedlich, womit gleich einmal eine schon mehr als triviale Binsenweisheit angesprochen ist. Und doch, diese einführende Klarstellung ist in Hinblick auf das zu besprechende Buch nicht unerheblich, weil Kirchengeschichte so gut wie immer eine Frage perspektivischer Betrachtung ist und deswegen allemal ein Streitfall und nur zu oft Anlass zu wüstem Gezänk. Hamilton, ein Mann forschenden aber nicht streitlüsternen Geistes, versucht sich dieses unter Intellektuellen beliebten Brauches definitiv zu enthalten, womit er allerdings nichtsdestoweniger eine wertende Positionierung vornimmt, wie in weiterer Folge noch zu sehen sein wird.

Die Geschichte des Christentums mag in der Auslegung historischer Denker vom (fraglos honorigen) Schlage eines Herbert Rosendorfer oder eines Karlheinz Deschner nun bestenfalls ein Stück Kriminalgeschichte sein, für Bernard Hamilton - so liest sich im Grunde genommen sein Buch - ist sie Ursprung und Fundament zu unserer abendländischen Zivilisation, geprägt vom ehrsamen Bemühen um eine humanistische Glaubenspraxis und keineswegs überwiegend von niederen Motiven geleitet. Mancher mag diese Sichtweise belächeln, gar als ein Beispiel von Gegenaufklärung erachten, aber wer so denkt sollte zuerst die eigene Herangehensweise reflektieren und sich dann fragen, ob denn überzogene Kritiklust dem Idealbild einer Aufklärung entspricht, der es darum zu tun ist, den Menschen aus der Umnachtung selbstverschuldeter Unmündigkeit heraus zu führen.

Und wenn jetzt Hamilton den Leser lieber über scholastische Terminologie belehrt statt ihn mit aufreizenden Polemiken zu unterhalten, beispielsweise eingehend über den Begriff der Transsubstantation informiert, welcher die Anwesenheit Christi in den geweihten Gegenständen bezeichnet, also in der Erscheinung von Brot und Wein, deren wirkliches Wesen aber das des Leibes und des Blutes Christi ist, so ist darin doch wohl ebenso eine Vermittlung von emanzipatorischem Wissen zu erkennen, was verdeutlicht, dass es für Europäer nicht bedeutungslos sein kann die geistigen Grundlagen des Abendlands nach dem maßgeblichen Gepräge christlicher Doktrin zu verstehen. Viel mehr, auch diese Art von Aufklärung über die Herkunft europäischer Identität aus dem Geist des Mittelalters tut wahrlich Not, denn kaum jemandem ist heute bewusst, wie wesentlich die Christologie eines Athanasios (328-373) für unsere alltäglich gelebte Auffassung von Spiritualität ist. Der besagte Gottesmann bestand seinerzeit auf dem wortwörtlichen Wahrheitsgehalt des Wortes Christi: "Ich und der Vater sind eins" (Johannes 10,30) und obsiegte mit dieser These über die konkurrierende Antithese des Arius, der im Sohn Gottes ein vom Schöpfergott geschaffenes Wesen sah, welches zwar in unvergleichlichem Maße an der göttlichen Herrlichkeit teilhatte, jedoch aufgrund von unzweifelhaften Begrenzungen nicht mit dessen absoluter und ewiger Natur identisch sein könne. Der infolge dieser Auffassungsunterschiede zusehends eskalierende Theologenstreit wurde auf dem 325 von Kaiser Konstantin einberufenen Konzil von Nikaia zu Gunsten des Athanasios entschieden und so ist es uns heute ganz selbstverständlich Jesus mit Gott gleichzusetzen. Wir glauben an den dreifaltigen Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Zu jener Zeit jedoch, war dies keineswegs eine Selbstverständlichkeit.

Nach wie vor ist es eine modische Gepflogenheit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Schrecken der Inquisition und die - in aller Regel als ungerechtfertigt erachteten - kriegerischen Unternehmungen der Kreuzzüge zu verweisen, allein die kriminalisierende Absicht, in welcher dieses geschehe, hält - bei Hamilton liest es sich derart - dem Befund einer sachlichen Untersuchung nicht stand. So lässt es sich zwar nicht leugnen, dass es die - vor allem in Spanien wütende - Inquisition gegeben hat, doch ging von dieser Einrichtung niemals jene repressive und gar mörderische Wirkung aus, wie von rührigen Kirchenkritikern in fahrlässiger Überzeichnung geschichtlicher Fakten gerne behauptet wird. Weil wie denn auch sollte sie einen flächendeckenden Terror bewirkt haben, wenn es in ganz Westeuropa zu keiner Zeit mehr als zwei Dutzend Inquisitoren gegeben haben soll, welche zudem nicht durchwegs blutrünstige Bestien waren und deren Strafverfügungen gegen Häretiker überwiegend in der Inszenierung öffentlicher Bußübungen bestanden. Und soweit Haft- oder Todesstrafen ausgesprochen wurden, erfolgte dies regelmäßig in zwingender Abstimmung mit den Behörden weltlicher Herrschaft, die sich nicht nur einmal dem zuweilen gewiss zur Brutalität ausgewachsenen Glaubenseifer von - theologischem Irrsinn anheim gefallenen - Gottesmännern verweigerten. Der berüchtigte Flammentod wurde jedenfalls eher nur ausnahmsweise verfügt, wie auch die hochnotpeinliche Befragung (die Folter) nicht unbedingt dem Regelfall entsprach.

Selbstverständlich wurden im Namen des christlichen Kreuzes gerade im Mittelalter abscheuliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, doch geschah dies nicht so selten gegen den erklärten Willen von besonnenen Kirchenmännern, die übeltätigen Herrschern als kirchliche Berater beigestellt waren. Hamilton rückt da einiges zurecht und berichtet in diesem Zusammenhang, dass die mörderische Bekehrung der heidnischen Sachsen durch Karl den Großen keineswegs in Übereinstimmung mit seinen klerikalen Beratern erfolgte, sondern dass diese sich sogar entschieden gegen eine Missionierung mit dem Schwerte verwehrten. Die Tatsache, dass das Christentum zu jener Zeit trotz des zeitweilig massiven Missbrauchs christlicher Prinzipien durch Gewalttäter und Glaubensfanatiker erfolgreich expandierte, war dann auch - in der Darstellung Hamiltons - viel mehr Verdienst hingebungsvoller Prediger (Franziskaner, Dominikaner), denn Folge einer imperialen Verordnung von Glaubensbekenntnissen durch mächtige Herrscher, denen es in letzter Konsequenz eher um die Festigung ihrer Macht, als um das Seelenheil ihrer Untertanen zu tun war. Und selbst noch die in Kirchendebatten oft und gerne zur Vorführung christlicher Doppelmoral ins Treffen geführten Kreuzzüge dürften - laut Hamilton - nicht taxfrei als aggressive Raubkriege denunziert werden, sondern selbst diese in Blutorgien mündenden Unternehmungen christlicher Militanz sind richtiger Weise umfassend aus historischen Umständen, sowie aus einem unter Kriegsleuten vorhandenen Bedürfnis nach Buße zu begreifen. Den Kriegsleuten nämlich waren diese vom Papst initiierten bewaffneten Pilgerzüge ein jeweils willkommener Anlass ihre besonderen Fähigkeiten als Gewaltexperten in den Dienst ihres Seelenheils zu stellen. Die Motivlagen waren jedenfalls unterschiedlich geartet und nicht so selten aus inbrünstiger Religiosität gespeist. Und grundsätzlich handelte es sich nicht wirklich um Angriffskriege, sondern die Christenheit des Westens (insbesondere die fränkischen Ritter) kam der existenziell bedrohten Christenheit des Ostens zu Hilfe. Was angesichts des Schismas - Spaltung der Christenheit in westlichen Katholizismus und östliche Orthodoxie - allerdings auch nicht so recht friktionsfrei vor sich ging.

Hamiltons Geschichte des mittelalterlichen Christentums, welche - in Anschluss an das Urchristentum - den Zeitraum von 313 bis 1492 n. Chr. umfasst, ist von einem unaufgeregten Duktus, dessen auffälligstes Wesensmerkmal Seriosität ist. Es gilt ihm nicht irgendeine ideologisch überwürzte Vorstellung dieser Zeit an den Leser zu bringen, sondern dargelegt wird, was Sache ist. Der Zusammenbruch des römischen Reichs, das finstere Mittelalter, all das liest sich bei Hamilton wenig dramatisch und erregt gerade deswegen des Betrachters Staunen. So wurde nach der Geschichtsschreibung Hamiltons das römische Reich nicht von wilden Germanen gestürmt und in Stücke gehauen, sondern die aus dem nordöstlichen Europa zuwandernden Stämme (eine Mischung aus Wirtschafts- und Kriegsflüchtigen) wollten mehrheitlich - von wenigen Ausnahmen abgesehen (die Vandalen) - lediglich der antiken Welt angehören, an deren Wohlstand partizipieren und waren folglich bereit für erhaltene Siedlungsrechte entsprechende - vor allem militärische - Gegenleistungen zu erbringen. Was sie dann auch taten, als es galt das Römerreich unter Führung des römischen Feldherren Flavius Aetius 451 n. Chr. gegen die anstürmenden Hunnen und deren Hilfsvölker zu verteidigen. Es ist also letztlich ein gemäßigtes und beinahe versöhnliches Bild von dieser fernen und oft als chaotisch sowie gewalttätig dargestellter Völkerwanderungsepoche, welches Hamilton zeichnet. Der Untergang Roms ging weitaus friedlicher vor sich als man für gemeinhin meinen möchte und hatte viel mit der anziehenden Faszination antiker Kultur zu tun. Jeder wollte Römer sein.

Zu diesem zurückhaltenden Bild passt, dass so mancher zeitgeistige Anlass zur Empörung in der Darstellung Hamiltons auf plausible und gar nicht so unvernünftige Motive mittelalterlicher Kirchenpolitik zurück geführt wird, womit bis dato unbegreifliche Haltungen einsichtig und deswegen vertretbar werden. Dazu ein Beispiel: Es ist wohl nicht weit hergeholt zu behaupten, das klerikale Zölibat würde in unseren Tagen unter Gläubigen sowie Ungläubigen, Kirchennahen und Kirchenfernen kaum noch Akzeptanz und Verständnis finden. Man erachtet es als unmenschlich und deswegen als unzumutbar. Hamilton verweist jedoch auf die Gefahr, die von klerikalen Ehegemeinschaften für jede Gesellschaft ausgehe. Denn hätte es nicht päpstliche Reformen zur Durchsetzung des klerikalen Zölibats gegeben, wäre im frühen Mittelalter die Herausbildung einer Priesterkaste im Bereich des Möglichen gewesen. Man kann sich ja denken, was dies für die weitere Entwicklung des abendländischen Europas bedeutet hätte, denn priesterliche Kastenherrschaft ist allemal im höchsten Maße reaktionär und wirkt bei aller Erfahrung auf gesellschaftliche Entwicklungen lähmend. Denn das Ideal eines nach dem Archetyp ständischer Ordnung geschichteten Gesellschaftsmodells zielt programmatisch auf eine Gefrierung von prinzipiell als subversiv erkannten Entwicklungsprozessen ab. Platons "Der Staat" ist als ein Musterbeispiel für eine dementsprechende Ideenlehre zu nennen, obgleich bei Platon natürlich nicht die ständische Herrschaft geistlicher Würdenträger, sondern die "fürsorgliche Diktatur" einer Kaste von aristokratischen Philosophen angedacht ist. Ist es in diesem Lichte betrachtet folglich uneingeschränkt reaktionär den klerikalen Zölibat fortgesetzt als wünschenswert zu postulieren? Hamilton lässt sich auf eine Debatte über den Sinn oder Unsinn des Zölibats erst gar nicht ein. Er ist Professor emeritus für Kreuzzugsgeschichte und nicht Kirchenpolitiker. Das Zölibat war historisch gesehen ebenso wesentlich wie zweckmäßig für einen gesellschaftlichen Fortschritt zur säkularen Zivilisation in Europa. Die Bedeutung des Zölibats für die Gegenwart ist nicht Gegenstand dieses Buches, doch wird der Leser dank Hamilton nun wohl einen umfassenderen Begriff von der asketischen Tugend sexueller Einsamkeit sein Eigen nennen dürfen.

Hamiltons Bemühen um historische Redlichkeit sollte jetzt nur ja nicht voreilig als Gefälligkeit an die Adresse des Heiligen Stuhls verkannt werden, denn auch die Beanstandung frühchristlicher Unduldsamkeit kommt in den Zeilen seines Buches nicht zu kurz. Offenbar, bekrittelt Hamilton, leiteten die frühen Christen von der eigenen Verfolgungsgeschichte keineswegs die Notwendigkeit gegenseitiger Toleranz ab. Des Weiteren ist dem Autor sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn nicht in Abrede zu stellen, was ihn unter anderem dazu bewegt, Klosterplünderungen durch heidnische Wikinger zwar nicht zu entschuldigen, jedoch als begreiflich aufzufassen. Welche hemmende Pietät sollte Heiden auch zurückhalten ein Kloster auszurauben, wenn umgekehrt christliche Heerscharen ebenso wenig davor zurückscheuten, heidnische Kultstätten nach Belieben niederzubrennen. Die vorgeblich barbarischen Wikinger bewegten sich zu ihrer Zeit durchaus im Rahmen üblicher Umgangsformen, weder mehr noch weniger wüst, als deutsche und französische Rittersleute sich für gemeinhin gaben. Der innovative Beitrag der Nordmänner zur Entwicklung westlicher Zivilisation sollte laut Hamilton zudem nicht gering geschätzt werden, denn sie schändeten nicht nur Sakralbauten, sondern erweiterten mit ihrer Praxis tätlichen Wagemuts der abendländisch-christlichen Welt den Daseinshorizont.

Obgleich also nicht völlig unkritisch in seinem literarischen Gehaben, so ist doch zutreffend, dass Hamilton im Grunde genommen mit großem, und jetzt muss gesagt werden, mit teils fast unfassbarem Respekt gegenüber der christlichen Welt des Mittelalters und ihren Wahrheiten verfährt. So sind seine Ausführungen über den Neuplatonismus, einer Denkrichtung, welche (ursprünglich initiiert durch den heidnischen Denker Plotin) die philosophischen Konzepte Platons in ein metaphysisches System transformierte, ohne jede aggressive Anteilnahme verfasst. Als ob sich Platons reichhaltige Philosophie über die christliche Interpretation des Pseudo-Dionysios so ohne Weiteres auf eine doch eher schüttere Mystik reduzieren ließe. Aber was denn nun als tollkühne Variante philosophiegeschichtlicher Denkwege zur Not noch angehen mag, nimmt sich in Bezug auf die unbewegte Distanziertheit des Autors gegenüber den Kreuzzügen bedeutend problematischer aus, zumal diese kriegerischen Unternehmungen bei ihm als Pilgerfahrt in Waffen eher verharmlosend zur Darstellung gelangen und solcherart kaum einer kritischen Hinterfragung würdig scheinen. Ohne irgendeine Wertung (aber unterschwellig die Sache für löblich befindend) erwähnt Hamilton des Weiteren, dass obwohl die Franken als Invasoren des Morgenlands eine Vielzahl muslimischer Untertanen hatten, es doch kaum Versuche zur Evangelisierung gab und trotz gelegentlicher Massaker an Muslimen eine vergleichsweise Toleranz vorherrschte. Und dass das am Sinai gelegene Katharinenkloster mit einem heilkräftigen Öl nicht geizte, welches - man lese und staune - die Gebeine der heiligen Katharina absonderten, diese wahrlich abenteuerliche Geschichte hätte wohl so manch anderen Autor zu spitzzüngigen Sarkasmen gereizt, alleine schon um den Text ein wenig mit polemischer Schärfe zu würzen. Hamilton jedoch widersteht der Versuchung dem Unglaubwürdigen zu spötteln und fährt stattdessen fort in seiner Gestik demütiger Ehrfurcht, und das so unbeirrt, dass ihm diese feste Haltung denn nun schon als Tugend ausgelegt werden muss. Er versagt sich somit nämlich zwar die Möglichkeit eine aufrührende Rede im Geiste der Aufklärung zu inszenieren, doch meidet er ebenso einen reißerischen Stil, der dem "lächerlichem Glaubensgut" zum Gaudium eines zahlenden Publikums lästert. Christliche Befindlichkeiten - gleich welcher Konfession - ebenso wie muslimische, sind Hamilton unantastbar. Andere mögen provozieren, Hamilton doziert.

Abschließend lässt sich resümieren, dass Hamiltons Geschichte der christlichen Welt des Mittelalters keinen anderen Zweck verfolgt, als Gelehrtheit zu vermitteln. Niemand wird solcherart bekehrt, nichts wird widerlegt, und auch keiner wird verschreckt. Geschichte lebt aus sich selbst, ist spannend per se. Dazu bedarf es weder starker Worte, noch gewagter Thesen. Es genügt eine penible Darstellung historischer Wahrheit. Mehr ist nicht von Nöten um ein Buch zu schreiben, welches es wert ist gelesen zu werden.

(Harald Schulz; 03/2005)


Bernard Hamilton: "Die christliche Welt des Mittelalters"
Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt.
Patmos, 2004. 326 Seiten; mit 8 Farbtafeln und ca. 40 Schwarzweiß-Abbildungen.
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